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Leo Trotzki 19300822 Brief an die Gruppe »Unser Wort«

Leo Trotzki: Brief an die Gruppe »Unser Wort«

[Nach Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 648-651, dort mit mehreren Fußnoten]

Liebe Genossen!

1. Ihren Brief vom 17. Juni, unterschrieben mit Peter, habe ich erhalten. Sie fragen, ob mir Ihr Englisch hinreichend verständlich ist. Vollkommen. Auf jeden Fall ist Ihr Englisch sehr viel besser als meines. Deshalb antworte ich Ihnen auf russisch.

2. Ich habe heute aufmerksam und mit dem Bleistift in der Hand drei Dokumente gelesen: a) den »offenen Brief« des Genossen Chen Duxiu vom 10. Dezember 1929; b) den »offenen Brief« von Li Jur Ze vom Januar 1930 und schließlich c) Ihren Brief an mich, dem Sie eine Kritik der Fehler der Gruppe um Li Jur Ze beigelegt haben. Meine allgemeine Schlussfolgerung: Es gibt weder programmatische noch strategische Meinungsverschiedenheiten. Es gibt Nuancen, teilweise akademischen, teilweise taktischen Charakters. Diese Nuancen werden sowohl von Ihnen wie vom Genossen Li Jur Ze außerordentlich übertrieben. Gründe für eine separate Existenz aller drei Gruppen sehe ich definitiv nicht.

3. Mit Ihren Überlegungen zur Organisationsfrage kann ich in keiner Weise übereinstimmen. Die Frage der Vereinigung reduzieren Sie darauf, dass die anderen Gruppen Ihnen gegenüber ihre Fehler eingestehen sollen; erst dann wollen Sie sie in Ihre Organisation aufnehmen. Liebe Genossen, Sie fangen ja reichlich früh damit an, den Stalinschen Apparat zu imitieren. Politisch steht die Frage doch so: Sind es Gesinnungsgenossen oder ideologische Gegner? Wenn es Gegner sind, kann auch nicht von einer Vereinigung die Rede sein. Sind es aber Gesinnungsgenossen, dann ist es unzulässig und unwürdig, danach zu streben, die andere Gruppe zu erniedrigen, bevor man sich mit ihr vereinigt. Eine solche »Prestigepolitik« ist ein charakteristisches Merkmal der Moskauer Mandarine. Übernimmt man diese Sitten in den Reihen der Linken Opposition, so infiziert man sie von früh auf mit dem schlimmsten Gift.

4. Leider schreiben Sie gar nichts Konkretes über Ihre künftigen Beziehungen zur Gruppe Chen Duxius. Sein Brief vom 10. Dezember 1929 ist ein hervorragendes politisches Dokument. Chen Duxiu verfügt über reiche politische Erfahrungen, an denen es den meisten chinesischen Oppositionellen fehlt. Man kann einwenden, dass zu diesen Erfahrungen auch große Fehler zählen. Das ist unstrittig. Aber klar erkannte und offen eingestandene Fehler bilden eine wertvolle politische Erfahrung, die hilft, künftig Fehler zu vermeiden.

Anmerkung: Wenn ich vom Eingestehen von Fehlern spreche, meine ich programmatische und strategische Fehler, die im Laufe der Revolution gemacht wurden. Solche Fehler müssen offen zugegeben und erklärt werden. Das hat nichts mit der Forderung zu tun, die Sie an Li Jur Ze stellen, er solle seine Fehler gegenüber Ihrer Organisation eingestehen, d.h. vor der Schwelle Ihrer Redaktion niederknien.

5. Alle drei Gruppen sind schwache Propaganda-Organisationen. 25 Mitglieder, 100 Mitglieder oder 300 Mitglieder: Das macht natürlich einen Unterschied, aber hier schlägt die Quantität noch nicht in Qualität um. Die Existenz dreier Gruppen, die gezwungen sind, Meinungsverschiedenheiten zu suchen, um die Spaltung zu rechtfertigen, ist ein extremes Hindernis auf dem Weg der Entwicklung der Opposition, denn sie stiftet Verwirrung bei den Arbeitern.

Die Vereinigung der Gruppen ist notwendig. Sie kann erreicht werden durch die gemeinsame Ausarbeitung einer kurzen Vereinigungs-Plattform und durch die Einberufung eines Vereinigungskongresses auf der Grundlage einer gemeinsamen Norm für den Delegiertenschlüssel. Sollten wider Erwarten bei der Ausarbeitung der Plattform Schwierigkeiten auftauchen, so könnte das Internationale Büro helfen. Das ist der einzig richtige und vernünftige Weg zu einer Vereinigung. Die bolschewistische Partei, die 1917 nicht eine Propagandagruppe, sondern eine mächtige Kraft mit einer großen historischen Vergangenheit war, hat sich auf diese Weise mit den revolutionären Internationalisten vereinigt, die über mehrere Organisationen in verschiedenen Teilen des Landes verfügten. Niemand hat damals von irgendwem irgendwelche Schuldbekenntnisse verlangt und niemand hat irgendwen in irgendeiner Weise erniedrigt. Das sind schändliche Sitten, die nach 1923 von Sinowjew und Stalin eingeführt wurden.

Mit der Vereinigung muss man sich auch deshalb beeilen, damit die vereinigte chinesische Opposition an der internationalen Konferenz der Bolschewiki-Leninisten teilnehmen kann.

6. Erhalten Sie das Bulletin der russischen Opposition? Die nächste Nummer wird vor allem den chinesischen Angelegenheiten gewidmet sein.

Mit großer Ungeduld erwarte ich Ihren nächsten Brief, in dem Sie eine Charakteristik der Lage im Land und in der Partei geben wollen.

Von außerordentlicher Bedeutung ist eine richtige Haltung der Linken Oppositionellen zu der gegenwärtigen Bauern-»Räte«-Bewegung.

Besteht zur Zeit die Hoffnung, dass sich der Bauernkrieg mit der Arbeiterbewegung verbindet? Diese Frage ist ungeheuer wichtig. Theoretisch ist eine plötzliche Beschleunigung des revolutionären Aufschwungs in den Städten unter dem Einfluss des Bauernaufstands nicht ausgeschlossen. Kommt es dazu, dann gewänne der Bauernaufstand eine ganz andere objektive Bedeutung. Unsere Aufgabe besteht natürlich nicht darin, uns im Bauernaufstand aufzulösen und ihn naiv zu idealisieren, sondern darin, den Arbeitern seine wirkliche Bedeutung und die sich aus ihm ergebenden Perspektiven zu erklären und zu versuchen, ihnen auf diese Weise Mut zu machen. Gleichzeitig müssen wir die Aufständischen, ihre Forderungen, ihr Programm vor der öffentlichen Meinung der Arbeiterklasse und der städtischen Armut verteidigen, sie vor den Lügen, der Verleumdung und Hetze der Gutsbesitzer, der Bürokraten und der Bourgeoisie in Schutz nehmen. Auf dieser Grundlage – und nur auf dieser – müssen wir die Scharlatanerie der offiziellen Führung der Komintern entlarven, die davon spricht, in China sei die »Rätemacht« errichtet worden – ohne Diktatur des Proletariats, sogar ohne aktive Teilnahme der Arbeiter an der Bewegung.

Ich hoffe, das Internationale Büro veröffentlicht zu dieser Frage ein Manifest an die chinesischen Kommunisten.

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