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Leo Trotzki 19350810 Chen Duxiu und der Generalrat der Vierten Internationale

Leo Trotzki: Chen Duxiu und der Generalrat der Vierten Internationale

[Nach Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 810-815, dort mit umfangreichen Fußnoten]

Lieber Genosse!

Mit Hilfe der Genossen H. und V. habe ich mich erneut in die chinesische Frage vertieft. Ich stehe damit noch am Anfang. In den nächsten Tagen muss ich die wichtigsten Dokumente studieren, und Sie werden verstehen, dass ich jetzt noch nicht zu den Differenzen in der chinesischen Sektion Stellung nehmen kann. Aber mir liegt in höchstem Maße daran, ihnen umgehend in der vordringlichen, brennenden Angelegenheit des Genossen CDX zu schreiben.

Er ist eine international bekannte Persönlichkeit. Er ist im Gefängnis. Er ist nicht nur der Revolution, sondern insbesondere auch unserer Tendenz treu geblieben. Wir sind jetzt im Begriff, die Vierte Internationale und einen Generalrat als ihr führendes theoretisches und beratendes Gremium zu schaffen. Im Prinzip wird sich der GR aus zwei Arten von Mitgliedern zusammensetzen: 1. aus den direkten Vertretern der Sektionen der IKL und anderer zugehöriger Organisationen; 2. aus einzelnen Persönlichkeiten, die aufgrund ihrer Vergangenheit und ihres derzeitigen Verhaltens geeignet erscheinen, zur Ausarbeitung unseres Programms, unserer strategischen Prinzipien usw. beizutragen. Nach meiner Überzeugung sollte der Genosse CDX ohne Frage dem GR angehören, ungeachtet seiner bedeutenden Differenzen mit der chinesischen Sektion, deren direkter Vertreter meiner Meinung nach Genosse NS sein sollte.

Sie sollten bedenken, dass die Zusammensetzung des GR insoweit über jeden Einwand erhaben sein muss, als wir vor unglückseligen Krisen, Kapitulationen und Fällen von Verrat sicher sein müssen. Aus diesem Grund ist es notwendig, für den GR nur bekannte, bewährte und absolut zuverlässige Genossen vorzuschlagen.

Nun könnte man einwenden – und einige chinesische Genossen werden dies zweifellos geltend machen –, CDX vertrete in einer Reihe wichtiger Fragen Auffassungen, die sie für grundfalsch halten. Im Augenblick möchte ich mich jeden Urteils über Differenzen enthalten, die ich inhaltlich noch nicht hinreichend untersucht habe. Aber wie alle anderen, so müssen auch die chinesischen Genossen sich darüber klarwerden, dass sich die Lage durch das Entstehen von Gruppierungen für die Vierte Internationale insofern geändert hat, als wir, die Bolschewiki-Leninisten, nur eine Fraktion innerhalb dieser Gruppierungen darstellen. Daher muss der GR nicht nur die Sektionen der Bolschewiki-Leninisten repräsentieren, sondern alle revolutionären Kräfte, die sich in Richtung auf die Vierte Internationale bewegen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die bekannten deutschen Genossen Maslow und Ruth Fischer, die 1923 -25 an der Spitze der deutschen Partei standen, gehören dem Zusammenschluss der Kräfte für die Vierte Internationale an, ohne jedoch Mitglieder der deutschen Sektion der IKL zu sein, mit der sie ernste Differenzen haben. Ungeachtet dessen hat das IS Maslow einstimmig als Mitglied des GR vorgeschlagen. Einen vergleichbaren Fall gibt es in der Tschechoslowakei usw. Sie sehen also, dass es keineswegs um eine Ausnahmeregelung für China geht.

Ich möchte Sie noch auf einen anderen Aspekt dieser Angelegenheit aufmerksam machen. Infolge ihrer äußerst schwierigen Situation ist die chinesische Sektion immer noch ziemlich schwach. Festnahmen und Verfolgungsmaßnahmen stehen ihrer organisatorischen Stabilität im Wege. Wir sind alle vollkommen überzeugt, dass die chinesische Sektion, die über mutige und der Sache ergebene Genossen verfügt, bereits in allernächster Zukunft wachsen und stärker werden wird. Aber im Augenblick wäre es unklug, einen jungen, gerade erst gewonnenen und international unbekannten Genossen in den GR aufzunehmen. Dies ist nur meine persönliche Meinung, aber ich glaube, die von mir vorgetragenen Argumente werden von der Gesamtsituation diktiert. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass die chinesische Sektion wie alle anderen das volle Recht hat, andere Kandidaten vorzuschlagen, aber ich bin sicher, dass die Kandidatur des Genossen CDX die Unterstützung aller unserer Sektionen finden wird. Denn es wäre ein schwerer Schlag für das Ansehen der Vierten Internationale, CDX die Zusammenarbeit aufzukündigen, solange noch die Möglichkeit besteht, die vorhandenen Differenzen im Rahmen unserer internationalen Funktionsweise beizulegen.

Zu meiner aufrichtigen Freude hat die chinesische Sektion nicht offiziell mit CDX gebrochen. Gleichzeitig hat die chinesische Sektion völlig unabhängig von CDX und seinen Anhängern ihr eigenes Zentralkomitee gebildet. Das ist selbstverständlich ihr volles Recht. Durch die bloße Aufnahme von CDX in den GR braucht sich an den Verhältnissen in China, an der Zusammensetzung des chinesischen Zentralkomitees, seiner politischen Führung usw. nichts zu ändern. Andererseits wird der GR in freundschaftlicher Weise eingreifen können, um die Differenzen zu klären, den Konflikt zu entschärfen und die Beziehungen zu verbessern.

Mit der Schaffung von Gruppierungen für die Vierte Internationale verfügen wir, das möchte ich noch einmal betonen, über einen umfangreicheren Kaderstamm und neue Aktionsmöglichkeiten. Ich gebe Ihnen ein aktuelles Beispiel: Wie Sie wissen, arbeitet unsere Sektion in Belgien jetzt als Fraktion in der POB, der opportunistischen Partei Vanderveldes (in der sie übrigens große Fortschritte erzielt hat). Die Gruppe um Vereecken trennte sich von unserer Sektion und steht daher außerhalb unserer internationalen Organisation. Aber als der offene Brief für die Vierte Internationale erschien, erklärte sich Vereecken damit solidarisch, und es kann durchaus sein, dass seine Gruppe als sympathisierende Organisation zugelassen wird. Die Mitgliedschaft seiner Gruppe in der Vierten Internationale wird uns die Möglichkeit geben, ihn erneut für unsere Sektion zu gewinnen oder ihn doch jedenfalls auf eine loyale und freundschaftliche Haltung gegenüber unserer Sektion zu verpflichten. An diesem Beispiel können Sie erkennen, dass wir weit davon entfernt sind, die Vierte Internationale als eine bloße Neuauflage der Internationalen Kommunistischen Liga zu betrachten, und schon diese Tatsache allein sollte den chinesischen Genossen hinlänglich vor Augen führen, dass CDX seinen Platz unter den Kadern der Vierten Internationale einnehmen kann und muss.

Damit will ich nicht sagen, dass jede Gruppe, die sich für die Vierte Internationale ausspricht, automatisch aufgenommen wird. Ich habe Vereecken angeführt, weil seine Haltung gegenüber den Bolschewiki-Leninisten auch seit der von ihm provozierten Spaltung weiter loyal blieb. Außerdem sieht er den großen Erfolg unserer Sektion, und in der letzten Ausgabe seiner Zeitung hat er sich dafür ausgesprochen, die Fraktion der Action Socialiste in der POB zu unterstützen. Somit unterscheidet sich die Haltung Vereeckens beträchtlich von der eines Weisbord oder Field, die unsere internationale Organisation und die WPUS auf bösartige und illoyale Weise angreifen und das gleiche grobe Geschütz gegen unsere französische Sektion auffahren, die heute an der Spitze unserer gesamten internationalen Organisation marschiert.

Ich bedauere sehr, dass Sie nicht mit den Genossen H. und V. mitgereist sind und ich daher nicht die Möglichkeit hatte, Sie kennenzulernen. Ich bedaure dies um so mehr, als ich gerne außer der chinesischen insbesondere auch die südafrikanische Frage mit Ihnen diskutiert hätte. Ich werde unser IS bitten, Ihnen alle diesbezüglichen Dokumente zu schicken, und wir erwarten mit Interesse Ihre Einschätzungen, Kommentare und Ratschläge.

Ich bitte Sie, allen chinesischen Genossen meine brüderlichsten Grüße zu übermitteln.

Mit brüderlichen Grüßen

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