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Leo Trotzki 19270420 Die Lage in China nach Tschiang Kaischeks Coup und die Perspektiven

Leo Trotzki: Die Lage in China nach Tschiang Kaischeks Coup und die Perspektiven

[Nach Schriften 2.1, Hamburg 1990, S. 169-174, dort mit umfangreichen Fußnoten]

1. Der Versuch, Tschiang Kaischeks Staatsstreich als Episode darzustellen und mit dem Verrat Murawjows im Jahre 1918 zu vergleichen, ist ein weiteres Beispiel für die falsche, oberflächliche und primitive Einschätzung der Entwicklung der chinesischen Revolution, die bereits zu einer Reihe von schlimmen und zum Teil irreparablen Fehlern geführt hat. Der Verrat Murawjows war das Abenteuer eines einzelnen bzw. eines Zirkels, das sich gegen die Macht des Proletariats richtete und zum Untergang der Abenteurer führte. Der Staatsstreich Tschiang Kaischeks bedeutet hingegen eine Umgruppierung der Klassenkräfte der Revolution, er bedeutet, dass die Basis von jeglicher »Teilhabe« an der Macht ausgeschlossen wird, dass die bürgerlich-militärische Herrschaft über die Revolution und über das Land gestärkt wird und dass breitere Schichten der chinesischen Bourgeoisie wieder mit dem ausländischen Imperialismus zusammenarbeiten.

2. Tschiang Kaischeks Coup hat der Bourgeoisie im gegenwärtigen Stadium großen Erfolg gebracht, weil ihm eine ganze Reihe von Fehlern auf unserer Seite vorausgegangen sind, die sich aus einer falschen Einschätzung der ganzen Revolution ergeben haben. Die schlimmsten waren: erstens die Unterordnung der KP unter die Guomindang; zweitens der Verzicht auf die Bildung von Räten; drittens der Verzicht auf die Bewaffnung der Arbeiter. Diese drei folgenschweren Fehler haben sich aus der menschewistischen Auffassung vom bürgerlichen Charakter der Revolution und aus der Tatsache ergeben, dass die Guomindang die Führung der Revolution freiwillig den Oberschichten der Bourgeoisie abgetreten hat.

3. Die Niederlage des Proletariats wurde ihm von denen bereitet, die es geführt haben. Zu seiner Verteidigung hatte das überrumpelte Proletariat weder die richtige Orientierung noch die angemessene Organisation (die Räte) noch Waffen. Am schlimmsten ist, dass das Proletariat jetzt, unter den Schlägen des Feindes, ideologisch umrüsten muss. Tschiang Kaischek ist es, der jetzt die Arbeiter lehrt, was wir ihnen nicht rechtzeitig beigebracht haben, weil es uns damals verboten wurde.

4. Von daher könnte sich die Entwicklung der Revolution ernstlich verzögern, vorübergehend sogar eine Ebbe eintreten. Die sehr viel uneinheitlichere Agrarbewegung ist dem unmittelbaren Zugriff des Henkers Tschiang Kaischek weniger ausgesetzt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein weiteres Anwachsen der Agrarbewegung es dem Proletariat ermöglicht, sich schon in relativ naher Zukunft wieder aufzurichten und erneut zum Angriff überzugehen. Doch darüber sind natürlich genaue Voraussagen, zumal aus der Ferne, unmöglich. Die KP Chinas muss jetzt den realen Gang der Ereignisse und die Umgruppierung der kämpfenden Klassen aufmerksam verfolgen, damit sie nicht den richtigen Moment für eine neue Angriffswelle verpasst.

5. Es ist wesentlich schwieriger, Räte während eines Rückzuges unter den Schlägen des Feindes zu organisieren, als beim Vormarsch und beim Siegen. In diesem Sinne lässt sich das Verlorene nicht wieder aufholen. Aber es wäre ein Fehler, geradezu ein Verbrechen, jetzt auf Räte zu verzichten: Wenn es sich allerdings erweisen sollte, dass diese Niederlage die Arbeiter auf lange Sicht zurückgeworfen hat, dann wäre natürlich von Räten derzeit nichts zu erwarten. Aber für eine solche Annahme gibt es zur Zeit noch keinerlei Grundlage. Im Gegenteil, allem Anschein nach wird sich das chinesische Proletariat trotz des schlimmen Aderlasses – wegen der entsetzlichen Bedingungen seiner alltäglichen Existenz – in nächster Zeit erneut erheben. Die Organisation von Räten ist so gesehen gleichbedeutend mit der Schaffung von Stützpunkten während des Rückzugs – mit der Perspektive, bei der ersten besten Gelegenheit zu einem Umsturz neuerlich zum Angriff überzugehen.

6. Die Möglichkeiten für einen erneuten Angriff hängen – abgesehen von den internationalen Bedingungen – nicht nur von der Entwicklung der Agrarbewegung ab, worüber schon oben gesprochen wurde, sondern auch davon, auf welche Seite sich die breiten Massen des städtischen Kleinbürgertums in nächster Zeit schlagen werden. Der Staatsstreich Tschiang Kaischeks bedeutet nicht nur (vielleicht allerdings nicht in erster Linie), dass die Macht der chinesischen Bourgeoisie gefestigt wurde, sondern auch, dass die Positionen des ausländischen Kapitals in China wiederhergestellt und gestärkt wurden, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. Deshalb werden die kleinbürgerlichen Massen unweigerlich gegen Tschiang Kaischek aufbegehren und zwar in ziemlich naher Zukunft. Nur ein Menschewik kann glauben, dass sich die chinesische Bourgeoisie bis zur totalen Entmachtung der ausländischen Kapitalisten »ins Rad der Revolution spannen lässt« (Martynow): um solche Treue zum nationalen Banner zu belohnen, haben unsere Theoretiker der Bourgeoisie einen »nicht-kapitalistischen Weg der Entwicklung« versprochen, wodurch offenbar der Zusammenschluss der Bourgeoisie mit dem Proletariat endgültig gefestigt werden soll. Diese ganze lächerliche Perspektive ist zu Bruch gegangen. Aber das Kleinbürgertum, das nicht nur unter dem ausländischen Kapital, sondern auch unter dem Bündnis der nationalchinesischen Bourgeoisie mit dem ausländischen Kapital schwer leidet, wird sich unweigerlich gegen Tschiang Kaischek wenden. Das ist für uns eine der wichtigsten Folgen des Klassenantagonismus in der nationaldemokratischen (bürgerlichen) Revolution.

7. Die Agrarbewegung wird um so rascher vorangehen und das Kleinbürgertum um so früher gegen Tschiang Kaischek aufbegehren, je entschiedener wir unsere eigene Politik führen, je weniger wir diesen »beiden Rechten« nacheifern, die man noch »ausnutzen« sollte (Stalin), und je deutlicher und bestimmter wir der Avantgarde des Proletariats die Aufgabe stellen, gegen die Bourgeoisie um den Einfluss auf die vielen Millionen von Werktätigen in Stadt und Land zu kämpfen.

8. Die Regierung von Hankou hat Tschiang Kaischek einen Verräter genannt. Natürlich ist das besser, als wenn sie zu ihm übergelaufen wäre und die Rolle seines Lakaien übernommen hätte. Aber es wäre mehr als unvorsichtig, sich wegen dieser Erklärung übertriebene Hoffnungen zu machen. Es geschieht ja nicht das erste Mal in der Geschichte, dass eine Regierung oder ein Parlament, die durch einen militärischen Umsturz entmachtet worden sind, den Eroberer feierlich zum Verräter erklären und »außerhalb des Gesetzes« stellen. Die Nationalregierung hat sich damit jedoch gänzlich zufrieden gegeben, so als sei das Volk »selbst« verpflichtet, ihre mit Füßen getretenen Rechte wiederherzustellen. Es ist aber jedenfalls klar, dass für einen richtigen Krieg mit Tschiang Kaischek andere Methoden notwendig sind als die, die bisher von der Nationalregierung angewandt worden sind. Der Krieg gegen Tschiang Kaischek kann nur gewonnen werden, wenn es ein wirklich revolutionärer Krieg ist.

9. Wer glaubt, dass dieser Kampf zwischen den beiden Teilen der gespaltenen Guomindang ausbrechen, und dass ein Sieg der Volksmassen die Übergabe der Macht an Wang Jingwei bedeuten würde, der muss schon ein bürgerlich-vulgärer »Idealist« sein, der den Staatsstreich Tschiang Kaischeks für eine bloße Episode hält, dem Verrat Murawjows vergleichbar. In Wahrheit bedeutet Tschiang Kaischeks Staatsstreich, dass sich die Klassenbasis der Staatsmacht verlagert hat. Tschiang Kaischek kann besiegt werden, wenn man im Gegenzug eine klassenmäßige Umgruppierung in der Führung der Revolution vornimmt – in ihrem Programm, ihrer Taktik und ihrer Organisation. Damit sich die Massen gegen Tschiang Kaischek, d.h. gegen den Block der chinesischen Bourgeoisie mit den ausländischen Imperialisten erheben, müssen sie begriffen haben und sich darauf verlassen können, dass ihre Führer nichts mit Tschiang Kaischek gemein haben, sondern von ihrem eigenen Fleisch und Blut sind. Dazu bedarf es eines entsprechenden Aktionsprogramms der Arbeiter und Bauern. Die ungeheuerlichen Direktiven zur »minimalen« Bewaffnung der Arbeiter müssen verurteilt und aus der Welt geschafft werden. Schließlich muss den Massen eine Organisationsform gegeben werden, die – wenn auch mit großer Verspätung – der gegenwärtigen Phase der chinesischen Revolution entspricht, nämlich dem Kampf der Massen unter Führung des Proletariats gegen die Bourgeoisie zur Vollendung der nationaldemokratischen Revolution. Es müssen Räte geschaffen werden!

10. Die Beziehungen der KP zur Guomindang müssten sich in dem neuen Entwicklungsstadium radikal verändern, denn die Guomindang selbst wird völlig degenerieren. Die schändliche politische und organisatorische Unterordnung der KP unter eine kleinbürgerliche Organisation, die von der Großbourgeoisie geführt wird, muss sofort aufhören. Das chinesische Proletariat muss die Losung der »gleichberechtigten Verträge« auch auf die Politik der revolutionären Blöcke zwischen den Klassen übertragen. Wenn die KP der Guomindang nacheifert, wird sie keinen Einfluss auf die Massen gewinnen, sondern der Guomindang einen neuen Rechtsruck erleichtern, um schließlich den Bruch mit ihr unter den ungünstigsten Bedingungen zu vollziehen. Wenn sich die KP jedoch selbständig an die Massen wendet, wird sie die revolutionären Elemente der Guomindang dazu zwingen, nicht oben, sondern unten Unterstützung zu suchen – also nicht bei der Bourgeoisie, sondern bei den Massen in Stadt und Land. Wenn die KP die Frage des Aufbaus von Räten in aller Schärfe stellt, dann ist die revolutionäre Guomindang gezwungen, sich auf den Boden der Räte zu stellen. Dann werden die Beziehungen zwischen der KP und der Guomindang die wesentlich natürlicheren, ebenso wohl elastischeren wie stabileren Formen eines Blocks zweier Räteparteien annehmen, die die Revolution führen.

11. Ob der Aufbau von Räteorganisationen erfolgreich sein wird, das hängt vor allem von den Aktivitäten der KP ab, davon, ob das Proletariat in der Lage ist, die Folgen der Niederlage zu überwinden, welches Ausmaß die Agrarrevolution annimmt, auf welche Seite sich das Kleinbürgertum politisch schlägt usw. Wir wissen aus der Vergangenheit nur allzu gut, dass es, was Richtung und Ausgang des Kampfes angeht, nicht einzig auf die Organisation von Räten ankommt. Doch nur die Räte können einem neuen Ansturm der Massen eine Organisationsform geben, die den Sieg der Volksmassen garantieren kann – nicht für die Bourgeoisie, sondern für sie selbst.

12. Die Errichtung der demokratischen Diktatur der werktätigen Massen in Stadt und Land unter der Führung des Proletariats ist eine unvermeidliche Etappe in der weiteren Entwicklung der Revolution. Aber diese unvermeidliche Etappe kann ihrem Wesen nach nicht die letzte Etappe sein. Von der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauern sind zwei Wege möglich: zurück – in Richtung auf eine parlamentarische oder bonapartistisch-bürgerliche Republik –, oder vorwärts – in Richtung auf Übergangsstufen zur sozialistischen Revolution. Welchen dieser Wege die chinesische Revolution in Zukunft gehen wird, hängt in entscheidendem Maße von der internationalen Lage ab, d.h. von der Entwicklung der proletarischen Revolution in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern. Der gegenwärtige Zustand des Weltkapitalismus, die enorme Verschärfung seiner inneren Widersprüche und das nahende Ende seiner restaurativen Phase zeugen dafür, dass das Hinüberwachsen der chinesischen demokratischen Revolution in eine sozialistische – falls sie richtig geführt wird – zu einer realen Perspektive werden kann.

Der Versuch aber, durch abstrakte »nicht-kapitalistische« Perspektiven die reale Übermacht der Bourgeoisie in Guomindang, Regierung und Armee, die primitive Abhängigkeit der an die Guomindang gebundenen KP von der Bourgeoisie, das Fehlen wirklich revolutionärer Massenorganisationen und eines echten revolutionären Kampfprogramms der Massen zu verschleiern, wird uns dem »nicht-kapitalistischen« Stadium der Revolution nicht nur nicht näher bringen, sondern vielleicht sogar ihr demokratisches Stadium zunichte machen.

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