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Leo Trotzki 19300200 Dritter Brief an Liu Renjing

Leo Trotzki: Dritter Brief an Liu Renjing

[Nach Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 621-623, dort mit umfangreichen Fußnoten]

Lieber Genosse Niel Shih,

ich habe Ihren langen und interessanten Brief vom 25. Januar erhalten. Der Hauptteil dieses Briefes, der von allgemeinem Interesse ist, wird in Form eines Berichts veröffentlicht werden. Ich möchte hier einiges zu dem Teil sagen, der nicht veröffentlicht werden wird. Vor allem hätte ich gerne von Ihnen zusätzliche Informationen zu folgenden Fragen:

1. Wie weit geht die Legalität der Partei in Shanghai? 2. Wie oft erscheint die Zeitung der Partei? Ist sie legal oder illegal? 3. Was ist das Los der festgenommenen Demonstranten? 4. Wie viele Kommunisten befinden sich gegenwärtig in Shanghai im Gefängnis? 5. Wie viele Oppositionelle sind darunter? 6. Wie ist die Situation der Partei in den anderen Industriezentren des Landes? 7. Gibt es eine regelmäßige Verbindung zwischen den wichtigsten Organisationen der Partei? Übt das Zentralkomitee seine Leitungsfunktion aus? 8. Hat die Partei ein theoretisches Organ, und wie oft erscheint es? 9. Wie viele Mitglieder hat die Partei nach offiziellen Angaben im ganzen Land? 10. Gibt es in den anderen Industriezentren außer Shanghai Oppositionsgruppen? Ich begnüge mich vorläufig mit diesen Fragen.

Sie beschreiben die Demonstrationen in Shanghai. Ich stimme Ihnen vollkommen zu, dass die Haltung der Partei in dieser Frage unbegründet und falsch ist. Was jedoch den Charakter dieser Demonstrationen angeht, so bezweifle ich sehr, dass sich dagegen etwas sagen lässt. In Ländern, in denen die Bewegung sich noch in der Illegalität befindet, sind diese kleinen Straßendemonstrationen ein Propagandamittel. Sie rufen der Bevölkerung die Existenz der revolutionären Partei in Erinnerung. Sie wecken das politische Bewusstsein der Jugend. Die Flugblätter, schreiben Sie, fallen aufs Straßenpflaster und werden mit dem Dreck weggefegt. Solche faux frais sind unvermeidlich. Trotz alledem wird ein Teil dieser Flugblätter in die Hände derer gelangen, für die sie bestimmt sind, und sein Ziel erreichen.

Ich betone das deshalb, weil es nicht selten vorkommt, dass die Opposition gegenüber der praktischen Aktivität der Partei eine Haltung rein negativer Kritik einnimmt und sich jeglicher Teilnahme an den von der Partei organisierten Aktivitäten enthält. Das ist falsch und tendenziell äußerst gefährlich. Die Opposition muss auf dem Feld der Prinzipien absolut unversöhnlich bleiben, aber auf dem Gebiet der praktischen Aktivität der Partei eine Einheitsfrontpolitik betreiben. Ich sehe keinerlei Grund, warum die Oppositionellen nicht an der Seite der Parteimitglieder an den Straßendemonstrationen teilnehmen sollten. Im Gegenteil, mir erscheint dies unerlässlich Sie zitieren die Losungen der Partei »Nieder mit der Guomindang«, »Es lebe die Komintern«; sie sind völlig unzureichend. Es ist absolut unerlässlich, bei Straßendemonstrationen die demokratischen Losungen zu verbreiten: »Konstituierende Versammlung«, »Das Land den Armen«, »Achtstundentag«, »Nationale Unabhängigkeit«. Die Opposition muss dafür Sorge tragen, dass dieser politische Akzent bei den Demonstrationen zum Ausdruck kommt. Das einzige Hindernis kann unsere Schwäche sein. Aber Schwäche entschuldigt nicht Passivität. Wenn der Oppositionelle an der Seite der Parteimitglieder festgenommen wird, kann das die Position der Opposition nur stärken.

Sie schreiben, dass die Partei in Shanghai ungefähr tausend Mitglieder hat. Das ist nicht so wenig. Jedenfalls kann die Opposition es sich nicht leisten, diesen Kadern, die schreckliche Niederlagen überlebt haben, keine Aufmerksamkeit zu schenken. Soll man in der Partei oder außerhalb der Partei arbeiten? Diese Alternative scheint mir falsch gestellt. Sicherlich: Die Opposition muss Gestalt annehmen, nicht nur ideell, sondern auch in organisatorischer Form. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge kann sie ihre Organisation natürlich nur außerhalb der Partei haben. Aber deren Verästelungen müssen in die Partei hineinreichen. Je mehr Oppositionelle in der Partei arbeiten, desto besser. Aber ihre Tätigkeit muss von einer Fraktion der Opposition angeleitet werden. Das spricht nicht gegen, sondern für eine Arbeit in der Partei und vor allem in den Gewerkschaften.

Anmerkung: Zu den oben formulierten Fragen füge ich noch die folgenden hinzu: 11. Wie viele gewerkschaftlich organisierte Arbeiter gibt es in Shanghai? 12. Sind die Gewerkschaften legal oder illegal? 13. Wer kontrolliert die legalen Gewerkschaften? 14. Wer leitet die illegalen Gewerkschaften? 15. Welche Rolle spielt die offizielle Partei in den Gewerkschaften, und welche Haltung nimmt sie zu den ökonomischen Fragen ein?

Das Problem der Gruppe von Chen Duxiu löst sich dadurch, dass diese Gruppe weiterhin auf dem Standpunkt der »demokratischen Diktatur« beharrt, d. h. in der entscheidenden Frage auf der Position von Stalin-Martynow steht. Wenn Chen Duxiu noch nicht begriffen hat, dass diese angeblich »bolschewistische Losung« in China dazu dient, eine rein menschewistische Politik zu decken – genau so haben die Menschewiki im Jahre 1905 ihre Politik mit aus dem Zusammenhang gerissenen Formulierungen von Marx aus der Epoche von 1848 zu decken versucht –, wenn Chen Duxiu das noch nicht begriffen hat, sieht es schlecht aus. Dann kann von einem Zusammenschluss mit ihm keine Rede sein, und zeitweilige Abkommen haben angesichts seiner Schwäche keinen Sinn.

Über die Gruppe »Unser Wort« bin ich nach wie vor vollkommen uninformiert Aus Ihrem Brief geht hervor, dass in Bezug auf die Einschätzung der Gruppe von Chen Duxiu wohl die Gruppe »Unser Wort« recht hatte. Diese Meinungsverschiedenheit ist nun ausgeräumt, weil Sie vollkommen zu Recht eine unversöhnliche Haltung gegenüber der Gruppe von Chen Duxiu eingenommen haben. Vielleicht sind die Meinungsverschiedenheiten in den anderen Fragen weniger tief gehend, als es zunächst schien. Bei einer solchen Vielzahl von Gruppen, die gerade erst am Beginn ihrer Arbeit stehen, kann man immer eine Tendenz beobachten, Meinungsverschiedenheiten überzubetonen. Auf der gegebenen Grundlage gemeinsamer Prinzipien erscheint eine Annäherung und sogar eine Fusion höchst wünschenswert. Zumindest von hier aus, aus der Ferne gesehen. Ich enthalte mich jedoch in dieser schwierigen Frage jedes Urteils, solange ich nicht alle notwendigen Materialien erhalten habe.

Ihre Charakterisierung der Partisanenbewegung auf dem Lande halte ich für äußerst wichtig. Sie bestätigt vollkommen die theoretischen Vorhersagen der Opposition. Die Partisanengruppen sind weit mehr Überbleibsel der Vergangenheit als Vorboten eines Neuaufschwungs. Angesichts der extremen Schwäche der Partei in den Städten, der Passivität des Proletariats, der daraus resultierenden Zerstreuung und Isolierung ist die Bewegung auf dem Lande unvermeidlich der Auflösung und der Degeneration geweiht. Die Opposition muss dies der Partei und den an der Partisanenbewegung teilnehmenden, wirklich revolutionären Elementen unmissverständlich klarmachen.

Ich erwarte mit Interesse Ihre nächsten Briefe. Ich drücke Ihnen herzlich die Hand und wünsche Ihnen Erfolg.

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