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Leo Trotzki 19350808 Gespräche mit Harold Isaacs

Leo Trotzki: Gespräche mit Harold Isaacs

[Nach Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 800-809, dort mit umfangreichen Fußnoten]

8. August 1935

Über das Problem der Einheitsfront mit der Bourgeoisie: Trotzki schenkte Liu Renjings Auffassung, dass Chen Duxiu zum Opportunisten geworden sei, keinen Glauben. Er ist der Ansicht, dass Lius Argumentation undialektisch sei und dazu tendiere, mit einer zweideutigen Terminologie nur so um sich zu werfen. Trotzki meint z. B., man müsse zwischen »Einheitsfront« und »Aktionseinheit« unterscheiden ..., und er machte sich über Lius arrogante Haltung als selbsternannter Vertreter der bolschewistischen Tendenz in der chinesischen revolutionären Bewegung lustig.

9. August 1935

Um die Diskussion von gestern wieder aufzunehmen, las Trotzki meinen Entwurf und wies mich auf einige Schwächen auf der ersten Seite hin. Er hatte den Eindruck, dass meine Analyse der verschiedenen Schichten der Bourgeoisie und ihrer subjektiven und objektiven Standpunkte unzureichend und undialektisch sei. Er sagte, wenn wir eine solche Patentformel benutzten, so würden wir dazu tendieren, dogmatisch und opportunistisch zu sein. Er betonte:

»Die Aktionseinheit, besonders eine kurzfristige Aktionseinheit, ist eine Sache, und die Kapitulation vor der Bourgeoisie in Gestalt einer permanenten >Einheitsfront< wie z. B. der französischen Volksfront ist eine andere. Das sind völlig verschiedene Dinge. Es ist gut, die völlige Unabhängigkeit unserer Organisation zu bewahren; aber der Kern der Sache ist, welchen Gebrauch wir von dieser Unabhängigkeit machen. Wir sollten fortwährend >Aktionseinheiten< mit den Studenten- und Bauernorganisationen durchführen.«

Ich sagte, die Frage sei nicht unsere Beziehung zum Kleinbürgertum und zur Bauernschaft. In diesem Punkt vertrete Chen Duxiu eine Formel, die hohler und abstrakter als die Liu Renjings sei. Jedenfalls musste ich Sneevliet' ein Telegramm schicken mit der Bitte, mir Lius Dokument Fünf Jahre chinesische Linksopposition zu schicken. (Ich hatte es nicht mitgebracht, weil ich glaubte, Trotzki besitze dieses Dokument schon. Wir werden es später eingehender diskutieren.)

9. August (Nachmittag)

Mein mündlicher Bericht über die chinesische Rote Armee nahm fast die ganze Zusammenkunft in Anspruch. In diesem Bericht berührte ich auch die allgemeine politische Lage in China. Dr. F. und N. Sedowa waren ebenfalls anwesend. Ich zeichnete eine Karte und sprach anderthalb Stunden lang über die Ursprünge, die Entstehung, die innere Entwicklung und die möglichen Perspektiven der chinesischen Roten Armee. Ich behandelte das Thema so vollständig wie möglich, so dass am Schluss fast keine Fragen mehr zu beantworten waren.

Trotzki sagte nur, die allgemeine Entwicklung bestätige die Voraussage der Opposition, dass ohne die Führung der Arbeiterbewegung das Schicksal der Roten Armee entweder von den Oberschichten (den Kaufleuten und den mittleren und reichen Bauern) innerhalb ihres Herrschaftsgebiets abhängen oder dass sie von den überlegenen militärischen Kräften der Guomindang und der Imperialisten vernichtet werden würde. Wir waren der Ansicht, dass die Rote Armee im Augenblick die Absicht habe, nach Xinjiang zu marschieren, weil sie nur dort den diplomatischen Bedürfnissen der Sowjetunion nach Errichtung einer Pufferzone zwischen der Sowjetunion und den japanischen Streitkräften in der Mongolei zu entsprechen vermag. Trotzki fand diese Ansicht korrekt, logisch und sehr wahrscheinlich. Am Ende der Zusammenkunft sprach ich das Problem der politischen Perspektive Chinas an. Ich beschrieb Lius ideologische Entwicklung in Bezug auf das Problem des ökonomischen Wiederaufbaus und erwähnte auch seine Suche nach einer neuen Lösung und die Aufmerksamkeit, die er der Roten Armee und der Möglichkeit ihres Einmarsches in die Sichuan-Provinz widmete. Abschließend sagte ich, die politische Perspektive müsse geklärt werden, weil dies die Grundlage des Programms der chinesischen bolschewistisch-leninistischen Fraktion bilden werde. Dieses Problem wird auf den kommenden Zusammenkünften diskutiert werden.

13. August (Vormittag)

Wir diskutierten Lius Dokument. Ich konnte nur die zentralen Argumente nennen und Trotzki die wichtigsten Zitate vorlesen und überließ es ihm dann zur Lektüre. Wir hatten nur Zeit, die Einleitung und die Kapitel über die Nationalversammlung und die Bourgeoisie zu diskutieren. Als ich die Stelle (auf S. 14) vorlas, wo Liu erklärt, die Massen betrachteten die Nationalversammlung und die Diktatur des Proletariats als »ein und dieselbe Sache« (d. h., die Nationalversammlung ist die populäre Formel für die Diktatur des Proletariats), unterbrach mich Trotzki und sagte:

»Es wäre richtiger zu sagen, dass Liu das, was er im Kopf hat, und das, was die Massen im Kopf haben, für >ein und dieselbe Sache< hält.«

Er fuhr fort:

»Wenn man sich die historische Entwicklung solcher Länder wie England und Frankreich ansieht, so könnte man meinen, dass eine lange Periode der Demokratie notwendig sei, bevor man zum Sozialismus gelangt, und dass diese Periode mehrere Jahrhunderte dauern könne. Aber in Russland dauerte die Halbdemokratie der parlamentarischen Periode nicht länger als einige Jahre. Die aus der Februarrevolution hervorgegangene Demokratie währte nur acht Monate. In China wird diese Periode vielleicht nicht einmal acht Monate dauern. Jedenfalls wünschen die Massen anfangs immer Demokratie. Nur wenn sie diesem Weg folgen, werden sie fähig sein, das Rätesystem anzuerkennen und die Macht zu erobern. Wir können hierfür im Voraus keinen detaillierten Plan entwerfen; wir müssen uns auf das Denken und auf die Aktivität der Massen stützen, um unser Handeln festzulegen. In China wird die Periode der Demokratie vielleicht sehr kurz sein oder sogar ganz entfallen. Aber das bedeutet nicht, dass die Massen die Nationalversammlung oder irgendeine andere demokratische Konzeption für >dasselbe< halten werden wie die Diktatur des Proletariats.«

Ich las weiter. Er schüttelte den Kopf und sagte:

»Es ist unsinnig, unsere ersten Schritte dadurch zu behindern, dass wir uns über zukünftige Probleme den Kopf zerbrechen. Unser erster Schritt sollte es sein, Propaganda und Agitation für die Nationalversammlung zu betreiben. Wenn die Guomindang vor den japanischen Imperialisten kapituliert, muss das Volk selbst etwas tun. Und wie? Es muss eine Nationalversammlung einberufen! Ganz einfach! Wir müssen diese Idee in allen Schichten des Volkes verbreiten. Im Anfangsstadium könnten die Studenten, wie es bereits geschehen ist, eine sehr wichtige Rolle spielen. Wir haben zwei Aufgaben: 1. die demokratische Massenbewegung aufzurütteln und an ihr teilzunehmen, 2. das Proletariat in diese Bewegung einzubeziehen, um es auf die proletarische Revolution vorzubereiten. Wenn es uns gelingt, zehn oder hundert Kader zu rekrutieren, so werden sie die künftigen Führer des Proletariats sein.

Die Probleme der Zukunftsperspektive sind Teil der Erziehung der Kader, aber man sollte nicht zulassen, dass diese Probleme unsere Propagandaarbeit für die Nationalversammlung beeinträchtigen oder lähmen. Augenblicklich ist es die wichtigste Aufgabe, alles zu tun, um die Idee der Nationalversammlung zu verbreiten. Dann werden wir die Ergebnisse dieser Agitation genau beobachten. Wenn zum Beispiel Tschiang Kaischek versucht, seine eigene Nationalversammlung einzuberufen, so wird dies womöglich eine Spaltung innerhalb der Bourgeoisie hervorrufen – der rechte Flügel wird sich dieser Idee widersetzen, und der linke Flügel wird versuchen, die Bewegung zu benutzen. Dann werden wir sie attackieren und bloßstellen. Wenn der radikale Flügel der Bourgeoisie versuchen sollte, die Nationalversammlung einzuberufen, so werden wir diese Leute einerseits zum Handeln drängen, damit sie z. B. Tschiang Kaischek stürzen und ihre eigene Regierung bilden; und andererseits müssen wir ihre Täuschungsmanöver vor den Massen entlarven. Wir sollten jetzt mit der Agitation für die Nationalversammlung beginnen. Den zweiten Schritt werden wir später diskutieren.«

»Aber«, unterbrach ich, »Sie sagen, wir sollten an der demokratischen Massenbewegung teilnehmen. Das ist ein Problem, denn im Augenblick gibt es keine solche Bewegung. Es ist unsere Aufgabe, eine solche Bewegung zu schaffen, um einen Wiederaufschwung der Massenaktivitäten herbeizuführen.« Ich beschrieb dann kurz die gegenwärtige Situation des Pessimismus, der Unzufriedenheit und des niedrigen Organisationsgrades der Arbeiter und der kleinbürgerlichen Intellektuellen. Trotzki sagte:

»Es kommt häufig vor, dass wir die Massen nicht vorwärtsdrängen können. Wir können keine Wunder vollbringen. Die Niederlage der Revolution hat bei den Massen tiefe Wunden hinterlassen. Wir haben diese Niederlage bereits 1928 erkannt. Einerseits gingen von dieser Niederlage gewisse Impulse aus (die Rote Armee usw.), andererseits vertieften sich die psychologischen Auswirkungen in den Massen. Wenn sich gleichzeitig die ökonomische Krise verschärft, die Zahl der Arbeiter abnimmt, die Produktion zurückgeht und die Bauernbewegung unterdrückt wird, so bedeutet das, dass die Konterrevolution sich vertieft hat. Aber sie konnte sich noch nicht endgültig festigen. Wir stehen dann vor der Aufgabe, dass unsere Kader Erziehungsarbeit leisten müssen. Wir werden mit allen Mitteln die Idee der Nationalversammlung verbreiten, und wir werden die Wirkung unserer Propaganda beobachten. Wenn es keine Reaktion gibt, so werden wir es wieder, wieder und immer wieder versuchen, bis wir eine Reaktion beobachten können.

In der Vergangenheit sind wir von der theoretischen Annahme ausgegangen, dass die Rote Armee, wenn sie die Großstädte besetzen sollte, die Arbeiterbewegung wieder erwecken würde. Wir sagten, dass das wahrscheinlich, aber nicht unvermeidlich sei, und dass, falls ein ökonomischer Aufschwung mit dem Vormarsch der Roten Armee zusammenträfe, dies den Aufschwung der Massenbewegung beschleunigen würde. Aber dieses glückliche Zusammentreffen trat nicht ein. Deshalb müssen wir wieder ganz von vorn anfangen, indem wir bis in die Jahre 1922/23 zurückgehen. Aber wenn es zu einem zweiten Aufschwung der Bewegung kommt, so wird sich ihr Tempo erheblich beschleunigen. Der gesamte Inhalt der zweiten Revolution wird als kurze Ouvertüre zur dritten Revolution erneut durchlaufen werden. Unsere demokratische Losung wird der Ausgangspunkt sein. Die Losung der Nationalversammlung kann unter den Massen eine große Rolle spielen. Wir werden durch Schriften und Gespräche den Dialog mit den Arbeitern führen. Das wird bei ihnen irgendeine Reaktion auslösen. Das ist der einzige Weg, um mit unserer Arbeit weiterzukommen.«

Trotzki beschrieb dann die Umstände der Wiederbelebung der politischen Massenaktivität in Russland im Jahre 1893, nach zehn Jahren der Reaktion, die auf die Unterdrückung der Narodnaja Wolja folgte. Plechanow und seine Gruppe veröffentlichten in diesem Jahr ein Dokument zur Einschätzung der Fortschritte der marxistischen Bewegung, in dem sie ihre Enttäuschung über die geringen Resultate zum Ausdruck brachten. Aber gerade in diesem Jahr sollte der Marxismus zu einer großen Bewegung werden, die das ganze Land überflutete.

»Aber ich muss hinzufügen, dass diese Wiederbelebung das Ergebnis von zehn Jahren des Wachstums und der Entwicklung des russischen Kapitalismus war, die das Gesicht der Nation vollkommen umgestaltet hatten. Wenn die Verschärfung der Konterrevolution in China mit einer ökonomischen Krise einhergeht, so wird unsere Agitation keine Ergebnisse haben. Dann werden wir unsere Kader vorbereiten und Propaganda betreiben müssen. Auch wenn die Ergebnisse gering scheinen, bilden wir unsere künftigen Führer heran, und wir erwarten keine Wunder. Wodurch kann dann die Wiederbelebung der revolutionären Massenbewegung zustande kommen? Verschiedene Faktoren können diese Wirkung haben: Krieg oder Revolution in anderen Ländern, denn ein neuer Krieg wird zu einer neuen Revolution führen – das war die Folge des russisch-japanischen Krieges im Jahre 1905. Vergessen Sie nicht, dass es ohne unsere Revolution von 1905 keine persische Revolution gegeben hätte und auch keine Revolution von 1911 in China. Unser 1905 übte auf den Fernen Osten eine starke Wirkung aus.

Die Frage, wer die Nationalversammlung einberufen wird, ist im Augenblick noch hypothetisch. Unsere Agitation sollte sich auf die Notwendigkeit einer Nationalversammlung konzentrieren. Zunächst einmal gilt es, die Massen von der Notwendigkeit einer Nationalversammlung zu überzeugen. Wenn unsere Agitation Fortschritte macht, werden wir auf der Grundlage der Ergebnisse des letzten Schritts weitergehen. Auf jeden Fall muss der Einstieg in unsere Agitation der sein, dass wir die Forderung nach einer Nationalversammlung der Herrschaft der Guomindang gegenüberstellen. Die Genossen, die an diesem Kampf teilnehmen, brauchen eine angemessene Losung, eine Losung, die es erlaubt, auf verschiedene mögliche Entwicklungen zu reagieren.

Ich verstehe die Kontroversen noch nicht richtig und kann mich daher dazu noch nicht äußern, werde sie aber genauer untersuchen. Dennoch kann ich eins sagen: Selbst wenn Chen Duxiu einige opportunistische Ideen vertreten sollte, so ist er jedenfalls älter und verfügt über die Erfahrung eines ganzen Lebens. Ich glaube, dass er viele gute Ideen beitragen könnte. Ich habe den Eindruck – mit einigen Einschränkungen –, dass Liu Renjing diese Meinungsverschiedenheiten übertreibt. Vielleicht hat Chen seine Meinung als taktische Formel vorgetragen, und Liu hat sie als strategische Formel aufgefasst. Wenn das Chens strategische Linie sein sollte, dann mag ein großer Teil von Lius Kritik zutreffen. Aber ich glaube, dass diese Differenzen stark übertrieben worden sind. Ich halte einen Bruch mit Chen Duxiu für unverantwortlich. Wir brauchen seine Mitarbeit in der Vierten Internationale. Das Unglück ist nicht, dass es zu einem ernsten Streit über eine kleine Meinungsverschiedenheit gekommen ist, sondern dass diese kleine Meinungsverschiedenheit unser Handeln blockiert hat.«

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