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Leo Trotzki 19250606 »Moskauer Geist«

Leo Trotzki: »Moskauer Geist«

Den ermordeten Arbeitern und Studenten von Shanghai zum Gedächtnis

[Nach Schriften 2.1, Hamburg 1990, S. 82-84, dort mit umfangreichen Fußnoten]

Die Times, die führende Zeitung der englischen Bourgeoisie, schreibt, dass die Bewegung der chinesischen Volksmassen ganz nach dem »Moskauer Geist« rieche. Was soll's, wir sind bereit, diesmal den konservativen Denunzianten zuzustimmen. Die englische Presse in China und auf den britischen Inseln brandmarkt die streikenden Arbeiter und Studenten als Bolschewiken. Was soll's, in gewissen Grenzen sind wir bereit, auch dieser schrecklichen Entlarvung beizupflichten. In der Tat: die chinesischen Arbeiter wollen nicht, dass die japanische Polizei sie zusammenschießt, sie rufen einen Proteststreik aus und tragen ihre Empörung auf die Straßen. Ist es da nicht klar, dass hier der »Moskauer Geist« weht? Die chinesischen Studenten schließen sich voller Mitgefühl mit den kämpfenden Arbeitern dem Streik gegen die Gewalt der Fremdlinge an. Klarer Fall: bei den Studenten haben wir es mit Bolschewiken zu tun. Wir Moskauer sind bereit, alle diese Anschuldigungen und Entlarvungen zu akzeptieren. Doch wir wollen hinzufügen, dass es die kapitalistischen Politiker und Journalisten sind, die am meisten für die Verbreitung des »Moskauer Geistes« im Osten tun. Wenn der unwissendste chinesische Kuli fragt, was ein Bolschewik sei, dann antwortet ihm die englische bourgeoise Presse: ein Bolschewik, das ist der chinesische Arbeiter, der nicht will, dass japanische und englische Polizisten auf ihn schießen; ein Bolschewik, das ist der chinesische Student, der dem blutüberströmten chinesischen Arbeiter die brüderliche Hand reicht; ein Bolschewik, das ist der chinesische Bauer, der sich nicht damit abfindet, dass auf seinem Land ausländische Gewalttäter schalten und walten. So eine hervorragende Definition des Bolschewismus liefert die reaktionäre Presse beider Hemisphären!

Kann denn im Osten eine bessere, überzeugendere, mitreißendere Propaganda getrieben werden? Und darf man fragen, weshalb wir im Osten – wie übrigens auch im Westen – überhaupt geheimnisvolle Agenten mit Moskauer Gold in der einen und Gift und Dynamit in der anderen Tasche brauchen? Selbst die raffiniertesten Agenten sind nicht in der Lage, auch nur ein Tausendstel der erzieherischen Arbeit zu leisten, die die Times und ihre Mitkämpfer in allen Teilen der Welt vollkommen kostenlos, wie wir eingestehen müssen, erbringen. Würde der sogenannte Moskauer Agent dem unterdrückten Chinesen sagen, dass die Politik Moskaus eine Politik zur Befreiung der unterdrückten Klassen und der unterdrückten Nationen ist, so könnte es wohl sein, dass ihm der Chinese das nicht glaubt: zu oft ist er von Ausländern betrogen worden. Aber wenn ihm der schlimmste Feind Moskaus in Gestalt eines englischen konservativen Journalisten dasselbe über Moskau sagt, so wird er dem vollen Glauben schenken. Wenn der chinesische Arbeiter, halbnackt und halbverhungert, unterdrückt und erniedrigt, anfängt, sich seiner Menschenwürde bewusst zu werden, dann sagt man ihm: Die Moskauer Agenten haben dich belogen! Wenn er sich mit den anderen Arbeitern verbündet, um seine elementarsten Menschenrechte zu verteidigen, dann erklärt man ihm: Das ist der »Moskauer Geist«! Wenn er in seiner eigenen Stadt auf die Straße geht, um sein Recht auf Leben und freie Entfaltung zu verteidigen, dann ruft man ihm zu: Das ist Bolschewismus! So erhält er Schritt für Schritt eine revolutionäre Erziehung, die von ausländischer Polizei und internationalen Journalisten mit Polizistenhirnen in die Wege geleitet wird. Und um die politischen Lehren seinem Bewusstsein tiefer einzugraben, wirft die englische Polizei nach den Schüssen noch Dutzende und Hunderte von chinesischen Arbeitern und Studenten in die Keller der englischen Gefängnisse Shanghais. So wird der kurze Lehrgang über das ABC der Politik abgeschlossen. Von nun an wird jeder Chinese wissen, dass der »Moskauer Geist« der Geist der revolutionären Solidarität ist, die die Unterdrückten im Kampf gegen ihre Unterdrücker ergreift, während der Geist der »britischen Freiheit« in den Kellern der britischen Gefängnisse von Shanghai herrscht.

Hier wollten wir eigentlich einen Punkt setzen – kann man denn dieser beredten und überzeugenden Propaganda der kapitalistischen Presse überhaupt noch etwas zugunsten Moskaus hinzufügen? Doch da kam uns in den Sinn, dass der liberale Labourpolitiker vom Typ MacDonalds unserem Gespräch mit den Konservativen gierig lauschen wird. »Da seht ihr's«, wird er dem Chefredakteur der Times belehrend vorhalten, »wir haben immer gesagt, dass unsere Konservativen dem Bolschewismus in die Hand arbeiten«. Und das stimmt. Die Konservativen, oder richtiger, die Reaktionäre – heutzutage sind alle kapitalistischen Parteien reaktionär – sind eine gewaltige historische Kraft, die sich auf das Kapital stützt und im Wesentlichen dessen Interessen vertritt. MacDonald hat in dem Sinne recht, dass es weder im Westen noch im Osten den Bolschewismus gäbe, wäre da nicht die Macht des Kapitals. Aber solange die Macht und das Joch des Kapitals bestehen, wird der »Moskauer Geist« sich überall seinen Weg bahnen.

Um die Ereignisse von Shanghai zu »regeln« und um »Moskau« entgegenzuwirken, propagieren Liberale und Menschewiken die Idee einer internationalen Konferenz zur chinesischen Frage, wobei sie die Augen vor der Tatsache verschließen, dass auf dieser Konferenz dieselben Gentlemen den Ausschlag geben, auf deren Befehl hin in Shanghai auf Arbeiter und Studenten geschossen wird. Vielleicht hat MacDonald ein fertiges Programm für diese Konferenz? Wenn nicht, dann können wir ihm das unsrige ausleihen. Es ist sehr einfach. Das chinesische Haus gehört dem Chinesen. Eintreten in dieses Haus darf nur, wer zuvor an die Tür geklopft hat. Der Hausherr hat das Recht, nur den Freund einzulassen und denjenigen fortzujagen, den er für seinen Feind hält. Dies wäre zunächst einmal unser Programm. Sie werden es ablehnen, weil es für ihren Geschmack zu sehr vom aufrührerischen »Moskauer Geist« durchdrungen ist. Doch gerade deshalb wird es jedem unterdrückten Chinesen und jedem ehrlichen englischen Arbeiter ins Bewusstsein dringen. In diesem Programm steckt eine ungeheure Kraft. Unter seinem Banner sterben die Arbeiter und Studenten von Shanghai. Ihr Blut, das von Shanghais Pflaster dampft, wird die Massen mit dem »Moskauer Geist« infizieren. Dieser Geist wird überall eindringen und unbesiegbar sein. Er wird die ganze Welt erobern, indem er sie befreit.

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