Leo Trotzki‎ > ‎China‎ > ‎

Leo Trotzki 19270412 Zu einem Artikel von Martynow

Leo Trotzki: Zu einem Artikel von Martynow

[Nach Schriften 2.1, Hamburg 1990, S. 155-157]

In seinem letzten Artikel in der Prawda (vom 10. April) begründet Martynow die gegenwärtige Politik in China mit »den Besonderheiten der chinesischen Revolution«. Diese uns bisher gänzlich unbekannten Besonderheiten bestehen offenbar darin, dass China unter das Joch des ausländischen Imperialismus zu geraten droht, der die Entwicklung der Produktivkräfte Chinas und folglich auch die Entwicklung der chinesischen Bourgeoisie hemmt. Das ist der Grund, weshalb die Bourgeoisie, wenn auch wider Willen, mit den anderen revolutionären Klassen eine Einheitsfront bildet; und darum sind diejenigen, die behaupten, die Nationalregierung sei eine bürgerliche Regierung, Verleumder. Nein, sie ist eine »Regierung des Blocks der vier Klassen«. Wer all das nicht versteht, der muss unweigerlich »theoretisch wie praktisch zu vollkommen falschen Schlussfolgerungen kommen«.

Die erste »Besonderheit«, auf die wir die Aufmerksamkeit lenken wollen, ist folgende: Martynow verteidigt hier Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe dieselbe Politik in Bezug auf China, die er in der Phase von 1905 und danach in Bezug auf Russland verteidigt hat. Nur ging es damals nicht um den ausländischen Imperialismus, sondern um die autokratisch-feudale Reaktion, die das Wachstum der Produktivkräfte hemmte, die Bourgeoisie in ihrer Entwicklung behinderte und so dazu zwang, sich »gegen ihren Willen« an einer revolutionären Einheitsfront zu beteiligen usw. Daraus ergab sich damals die Notwendigkeit, die Bourgeoisie vorsichtig nach links zu drängen und nicht ins Lager der Reaktion zurückzuwerfen. Jetzt, nach mehr als zehn Jahren, bedurfte es aller Besonderheiten der chinesischen Revolution, um die Martynowsche Theorie wiederzubeleben, deren »Besonderheiten«, sollte man glauben, keiner Empfehlung bedürfen.

Doch wir verleumden Martynow. In seiner Argumentation gibt es auch ein neues Element. Indem er seine ganze alte Argumentation aufrechterhält und nur die autokratisch-feudale Reaktion durch den ausländischen Imperialismus ersetzt, gibt er der Sache ihren krönenden Abschluss ganz im Stil der Zeit: er gibt zu, dass, wenn die Chinesen seinem alten Rezept folgten, »die Vollendung der bürgerlich-demokratischen Revolution, soweit sie mit der Verstaatlichung der ausländischen Unternehmen einhergeht, bereits den beginnenden Übergang auf das sozialistische Gleis bedeuten würde.«

In dieser Gestalt gewinnt Martynows Theorie größere Überzeugungskraft. Die Bourgeoisie geht mit den Bauern, dem Kleinbürgertum und dem Proletariat »den Block der vier Klassen« ein. Sie bilden eine Regierung – nicht eine bürgerliche Regierung, sondern eine des Blocks der vier Klassen. Die Bourgeoisie wird durch den Umstand in dem Block gehalten, dass der Imperialismus die Entwicklung eines nationalen Kapitalismus in China hemmt. Andererseits erklärt Martynow der chinesischen Bourgeoisie großmütig, dass der Block der vier Klassen unmittelbar zum Beginn der sozialistischen Revolution überleitet, eine Perspektive, die den nationalrevolutionären Block noch stärker konsolidieren müsste: Wer wüsste nicht, dass sich die Bourgeoisie lieber das Kommando vom eigenen Proletariat wegnehmen lässt, als mit den ausländischen Räubern zusammenzuarbeiten!

Wir sehen, dass diese ganze Theorie schlicht gesagt lächerlich ist. Martynow nutzt die zweifellos existierenden und uns allen wohlbekannten Besonderheiten der chinesischen Entwicklung, um eine gar nicht so neue Theorie und eine Politik in China einzuführen, die von der Entwicklung längst überrollt ist. Dabei hält er sich, wie schon in der Vergangenheit, an die vulgärste bourgeoise Apologetik. Die chinesische Nationalregierung entbehrt nach seiner Ansicht des Klassencharakters: es ist die Regierung eines Blocks. Eine bemerkenswerte soziale Definition von erstaunlicher marxistischer Tiefe! Wo doch alle Regierungen auf der Welt nichts anderes sind als die Regierung eines Blocks von Klassen. Selbst zu Zeiten eines Bürgerkriegs kämpft nicht eine Klasse gegen die andere, sondern ein Block gegen den anderen. Das schließt aber nicht aus, sondern setzt voraus, dass es in jedem Block Führende und Geführte, Ausbeuter und Ausgebeutete gibt. Wen stützt der chinesische Block der vier Klassen? Die nationalliberale Bourgeoisie. Wen hält er an der Macht? Die Bourgeoisie. Der ganze Artikel Martynows ist bemüht, diese Tatsache zu leugnen oder zu beschönigen – eine durch und durch bourgeoise Apologetik.

Aber die chinesische Bourgeoisie nimmt doch am revolutionären Kampf gegen die ausländischen Imperialisten teil? Ja, noch nimmt sie teil, und wir wissen bereits wie: als dessen innere Bremse. Sie nimmt noch teil, nicht weil die chinesische KP eine weise Politik à la Martynow machte, sondern weil von einer Politik der KP überhaupt noch nicht die Rede sein kann. Die Guomindang unterbindet den Klassenkampf, unterwirft sich die KP, bewahrt die Bourgeoisie vor der Doppelherrschaft und gibt ihr damit die Möglichkeit, sich an die Spitze der Befreiungsbewegung in ihrer staatlich-militärischen Form zu stellen. Wir wissen, dass eben diese Rolle im nationalen Befreiungskampf nicht nur von den bürgerlichen Klassen, sondern auch von den feudalen Klassen und den Dynastien gespielt wurde. Jede dieser Klassen brauchte auf ihre Weise und für ihre eigenen Zwecke ein vereinigtes Vaterland, frei von jedem äußeren Joch. Die chinesische Bourgeoisie nahm sich großmütig der Armee an und empfing ebenso großmütig die Macht aus den Händen der Revolution. Die Guomindang gab ihr die Möglichkeit, sich im revolutionären Chaos dieser wichtigen Instrumente zu bedienen. Doch was das Wesen der revolutionären Bewegung ausmacht: das Erwachen der Arbeiter, ihre Streiks, ihr Zusammenschluss in den Gewerkschaften, das Erwachen der Bauern, die Agraraufstände – all das wird nicht nur nicht unter der Führung der Bourgeoisie, sondern in direktem Kampf gegen sie und ihren Machtapparat vonstatten gehen. Bei den unteren Schichten, den breiten Volksmassen in Stadt und Dorf, gibt es keinen Block der vier Klassen. Dort tobt ein heftiger Klassenkampf, der bereits in einen Bürgerkrieg übergeht, mit der Erschießung von Arbeitern, der Ermordung von Streikbrechern, mit der Zerschlagung von Bauernorganisationen und mit Brandstiftungen bei Gutsbesitzern usw. Doch für diesen Kampf der Millionenmassen gibt es weder ein zusammenfassendes Programm noch eine führende Organisation. Das chinesische Proletariat verfügt über keine selbständige Partei. Die kommunistische Sektion der Guomindang ist nur eine von deren Werbeagenturen. Unter diesen Bedingungen hegt die chinesische Bourgeoisie die Hoffnung, die Einheit der Republik unter ihrer Führung zustande zu bringen Von irgendwelchen Konfiskationen ausländischer Konzessionen wäre dabei natürlich keine Rede. Vielmehr käme die Bourgeoisie zu einer Übereinkunft mit den ausländischen Machthabern, d.h. sie würde großen Profit machen, auch wenn das das Blut der Proletarier von Hongkong, Shanghai und Nanjing kosten würde. So sieht ihre Perspektive aus. Und die ist wesentlich realer als die von Martynow.

Kommentare