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Leo Trotzki 19270304 Zweiter Brief an Radek

Leo Trotzki: Zweiter Brief an Radek

[Nach Schriften 2.1, Hamburg 1990, S. 120-124, dort mit umfangreichen Fußnoten]

Lieber Freund!

Mir erscheint Ihre Darstellung der Problematik in Bezug auf die chinesische KP unzureichend; in ihrer Unvollständigkeit muss sie, falls sie weitergeleitet wird, zu falschen Schlussfolgerungen führen, d.h. faktisch zur Erhaltung des Status quo plus linker Kritik.

Sie schreiben, dass die verräterische Politik der Guomindang »bisher weder eine Massenbewegung gegen die Guomindang hervorgerufen, noch bewirkt hat, dass man die Notwendigkeit einer besonderen Klassenpartei des Proletariats und der ärmsten Bauern einsieht«. Kein Zweifel, die Befürworter der derzeitigen Orientierung werden versuchen, sich an diese Worte zu halten. Speziell in dieser Absicht hat Stalin doch die »Etappentheorie« wieder aufgewärmt und erklärt, man »könne keine Stufen überspringen« u.a. Solange die Masse nicht die Notwendigkeit einsieht, so ... usw. Wir urteilen gerade umgekehrt: Um der Masse die Augen für die verräterische Politik der Guomindang zu öffnen, bedarf es einer zwar kleinen, aber doch absolut selbständigen Partei, die kritisiert, erklärt und anprangert u. ä. und damit die neue »Etappe« vorbereitet.

Die gegenwärtige Situation in China scheint doch speziell dafür geschaffen, dass die Massen die Notwendigkeit einer selbständigen Partei überhaupt nicht einsehen können. Und dabei sagen wir der chinesischen Arbeitervorhut mit der ganzen Autorität der Internationale und der russischen Revolution, sie verfüge bereits über eine selbständige Partei – die Kommunistische Partei; diese Kommunistische Partei solle wegen der besonderen Umstände in China gerade im jetzigen Stadium der Revolution in die Guomindang eintreten; das fordere Lenins Vermächtnis usw. Die Guomindang hingegen sagt den Kommunisten: »Während das Vermächtnis Lenins euren Eintritt in die Guomindang fordert, verlange ich, die Guomindang, dass ihr euch von diesem Vermächtnis lossagt und das Vermächtnis Sun Yatsens anerkennt.«

Auf dem Papier kann man natürlich, indem man die logischen Konsequenzen aus dem Sunyatsenismus zieht, einen schmerzlosen Übergang von Sun Yatsen zu Lenin konstruieren (und so kann man in bestimmten Fällen pädagogisch gegenüber der jungen revolutionären Intelligenzija in China argumentieren); doch in großem historischem Maßstab hat sich das als wenig überzeugend erwiesen. Der Klassenkampf hat die künstliche Brücke, die wir zwischen Sun Yatsen und Lenin errichtet haben, zum Einsturz gebracht. Das chinesische Proletariat muss Sun Yatsen direkt und offen überwinden, im offenen Kampf mit dem Sunyatsenismus. Wenn Marx das sogar in Bezug auf Lassalle verlangt hat, sollten wir dann nicht in Bezug auf Sun Yatsen die gleiche Forderung erheben? Jedes Übertünchen, jeder Aufschub, jede Art von Maskierung in dieser fundamentalen Frage ist nicht nur gefährlich, sondern geradezu verhängnisvoll für das chinesische Proletariat.

Wann hätten die Kommunisten aus der Guomindang austreten sollen? Meine Erinnerungen an die letzten Jahre der chinesischen Revolution sind nicht konkret genug und ich habe auch kein Material zur Hand, weshalb ich zögere zu sagen, man hätte dieses Problem bereits 1922,1924 oder 1925 in aller Schärfe sehen müssen. Damals wäre das vorbereitende Arrangement, wie Sie es in Ihrem Brief ausdrücken, das offenbar als ein- bis zweijährige Übergangsphase gedacht war, vielleicht annehmbar gewesen. Aber wir haben uns teuflisch verspätet. Wir haben die chinesische KP in eine Spielart des Menschewismus verwandelt, und zwar nicht von der besten Sorte, also nicht in einen Menschewismus wie den des Jahres 1905, wo er sich vorübergehend mit dem Bolschewismus vereinigt hat, sondern in den Menschewismus von 1917, der sich mit den rechten Sozialrevolutionären vereinigt und die Kadetten unterstützt hat. Wenn wir diese Situation sanktionieren oder auch nur dulden, dann hemmen wir die Entwicklung des Klassenbewusstseins der chinesischen Arbeiter – auf dessen ungenügende Entwicklung wir dann später verweisen – und erhalten den Status quo auch weiterhin aufrecht. Mit einer solchen Politik geraten wir in einen Circulus vitiosus.

Sollte es sich erweisen, dass die chinesischen Kommunisten nicht aus der Guomindang austreten wollen, nicht einmal unter den gegenwärtigen Verhältnissen eines voll entfalteten Klassenkampfes, so heißt das keineswegs, dass man nicht austreten darf, sondern dass wir dort eine Martynow-Partei haben. Ich fürchte, dass es sich weitgehend so verhält. Dann ergäbe sich für uns die Aufgabe, aus der Martynow-Partei die echten revolutionären Elemente auszusondern und damit zu beginnen, eine bolschewistische Partei nicht nur außerhalb der Guomindang, sondern auch außerhalb der gegenwärtigen »Kommunistischen« Partei Chinas aufzubauen. Ich sage das als Hypothese, weil mir die realen Kräfteverhältnisse innerhalb der chinesischen KP unbekannt sind, und die konnten bisher ja auch überhaupt kaum zutage treten, da es an einer klaren und präzisen Fragestellung, von welcher Seite auch immer, fehlt. Wenn wir versuchen wollen, die chinesische KP vor ihrer endgültigen menschewistischen Entartung zu retten, dann haben wir nicht das Recht, unsere Forderung nach dem Austritt aus der Guomindang auch nur um einen Tag zu verschieben.

Sie schlagen vor, sich auf die Losung zu beschränken, die KP solle den Untergrund verlassen. Aber das geht an der eigentlichen Frage vorbei. Den Untergrund verlassen, heißt mit der Guomindang-Legalität brechen. Wie das? Ohne vorherige Erlaubnis? Ohne Vorwarnung? Ohne den Versuch zu unternehmen, sich mit der Guomindang über neue Beziehungen zu einigen? Ohne Übereinkunft mit dem linken Flügel? Aber das wäre dann die schlimmste Form des Bruchs, die man als einen Treuebruch hinstellen würde. Wir fangen ja in China nicht bei Null an. Die Frage des Verhältnisses von Kommunisten und Guomindang ist in China von allen Seiten diskutiert worden; das führte zu Konflikten, zu anderen Lösungen und schließlich zu einem bestimmten Parteistatut. Man kann nicht einfach die Vergangenheit beiseite schieben. Man muss die Frage im Zusammenhang mit einer Revision der Verfassung der Partei stellen. Die Kommunisten müssen unbedingt direkt und in aller Offenheit vorschlagen, die Organisationsstruktur auf der Basis der vollen Selbständigkeit beider Parteien und in gegenseitigem Einverständnis zu revidieren.

Ohne eine solche klare und eindeutige Haltung wird die Taktik, »den Untergrund verlassen«, selbst den Kommunisten unverständlich; müssen doch auch sie verstehen, wohin diese Taktik führt, und eine Zukunftsperspektive haben. Natürlich ist der Austritt aus der Guomindang ein schmerzhafter Prozess Eine verschleppte Krankheit verlangt eben immer eine radikalere Therapie. Doch die Befürchtung, wir »stießen das Kleinbürgertum zurück« ist falsch. Zickzackkurse und Schwankungen wird es auf Seiten des Kleinbürgertums ohne Ende geben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass unser Austritt aus der Guomindang zunächst zu einer solchen Zickzackwendung führen wird. Aber das Kleinbürgertum kann man nur mit einer entschiedenen Politik gewinnen, nicht mit diplomatischen Schlichen oder indem man seine Absichten tarnt u. ä. Um die Politik zu entwickeln, mit der das Kleinbürgertum gewonnen werden kann, muss man über das Werkzeug dieser Politik verfügen, d. h. über eine selbständige Partei. Deshalb sind meine Schlussfolgerungen die folgenden:

1. Wir müssen erkennen, dass der weitere Verbleib der KP in der Guomindang verhängnisvolle Folgen für das Proletariat und die Revolution hätte und vor allem zu einer völligen menschewistischen Entartung der chinesischen KP führen würde.

2. Wir müssen erkennen, dass zur Führung des chinesischen Proletariats, für den systematischen Kampf um Einfluss auf die Gewerkschaften und schließlich zur Führung des Kampfes des Proletariats um Einfluss auf die bäuerlichen Massen eine vollkommen selbständige, d. h. wirklich kommunistische (bolschewistische) Partei nötig ist.

3. Die Frage nach den Formen und Methoden, die erforderlich sind, um die Aktivitäten der KP mit der Guomindang zu koordinieren, muss der Forderung nach Selbständigkeit der Partei gänzlich untergeordnet werden.

4. Alle wirklich revolutionären Elemente der chinesischen KP müssen das oben dargelegte Aktionsprogramm unterstützen, indem sie von ihrem ZK verlangen, der Guomindang und den Arbeitermassen freimütig und in vollem Umfang die Frage nach einer Revision der organisatorischen Beziehungen zu stellen. Zur gleichen Zeit müssen die Kommunisten überall »den Untergrund verlassen«, d. h. faktisch als selbständige Partei an die Arbeit gehen.

5. Unter der Losung der organisatorischen Unabhängigkeit ihrer Klassenpolitik muss auch der Parteitag vorbereitet werden – und zwar auf der Basis des unerbittlichen Kampfes der bolschewistischen gegen die menschewistischen Elemente innerhalb der chinesischen KP.

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