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Leo Trotzki 19300108 Was heißt »Radikalisierung der Massen«?

Leo Trotzki: Was heißt »Radikalisierung der Massen«?

[Nach Schriften über Deutschland, Band 1, S. 67-69]

Die »Radikalisierung« der Massen ist jetzt in der Komintern zu einem einfachen Credo geworden. Gute Kommunisten – so lehrt die »Humanité« – müssen die führende Rolle der Partei und die Radikalisierung der Massen anerkennen. Die Frage so zu stellen, ist sinnlos. Die führende Rolle der Partei ist für jeden Kommunisten ein unerschütterliches Prinzip. Wer das nicht anerkennt, der kann Anarchist, Konfusionist, aber nicht Kommunist sein, d.h. proletarischer Revolutionär. Die »Radikalisierung« ist aber doch kein Prinzip, sondern nur das Kennzeichen einer bestimmten Verfassung der Massen. Ob deren Zustand in der gegenwärtigen Phase als einer der »Radikalisierung« sich beschreiben lässt, ist eine entscheidbare Frage. Um die Lage der Massen verlässlich einzuschätzen, braucht man richtige Kriterien. Was ist Radikalisierung? Worin kommt sie zum Ausdruck? Was charakterisiert sie? In welchem Tempo und in welcher Richtung entwickelt sie sich? Diese Fragen werden von der kläglichen Führung der französischen Kommunistischen Partei nicht einmal gestellt. Wenn es hoch kommt, beruft sich ein offizieller Artikel oder eine Rede auf die Zunahme der Streiks. Aber auch hier werden nur nackte Zahlen ohne genaue Analyse, sogar ohne jeden Vergleich mit den vergangenen Jahren gegeben.

Diese Art der Behandlung der Frage entspringt nicht allein den unglücklichen Beschlüssen des X. Plenums des EKKI, sondern im Grunde dem Programm der Komintern selbst. In diesem Programm wird von der Radikalisierung der Massen wie von einem unaufhörlichen Prozess gesprochen. D.h.: heute ist die Masse revolutionärer als gestern, und morgen wird sie revolutionärer sein als heute. Eine derartig mechanische Vorstellung entspricht nicht dem realen Prozess der Entwicklung des Proletariats und der kapitalistischen Gesellschaft im Ganzen. Sie entspricht dafür umso besser der Mentalität der Cachin, Monmousseau und anderer furchtsamer Opportunisten. Die Sozialdemokratie hat sich vor allem vor dem Krieg die Zukunft in Form einer unaufhörlichen Vermehrung der Wählerstimmen bis hin zum Moment der völligen Machteroberung vorgestellt. Für oberflächliche Geister oder Pseudo-Revolutionäre behält diese Perspektive im Grunde ihre Geltung, Man redet nur statt vom ständigen Wachstum der Stimmenzahl von der ständigen Radikalisierung der Massen. Das Bucharin-Stalinsche Programm der Kommunistischen Internationale hat diese mechanische Vorstellung ebenfalls sanktioniert. Selbstverständlich verläuft in der Perspektive unserer Epoche im ganzen die Entwicklung des Proletariats in der Richtung auf Revolution. Aber das ist keineswegs ein geradliniger Prozess, so wie auch der Prozess der Verschärfung der objektiven Widersprüche des Kapitalismus nicht geradlinig verläuft. Die Reformisten sehen nur den Aufschwung der kapitalistischen Entwicklung. Die formalen Revolutionäre sehen nur das Hinabgleiten. Der Marxist sieht die Linie im ganzen, mit all ihren Konjunktur-Erhöhungen und -Senkungen, ohne auch nur einen Augenblick lang die Haupttendenz zu verheerenden Kriegskatastrophen und revolutionären Explosionen aus den Augen zu verlieren.

Die politischen Stimmungen des Proletariats ändern sich keineswegs automatisch in ein und derselben Richtung: Zunehmender Klassenkampf wird von Phasen relativer Ruhe abgelöst, Flut von Ebbe, und diese Rhythmen sind abhängig von einer höchst komplexen Kombination materieller und ideeller, nationaler und internationaler Bedingungen.

Die einmal nicht oder falsch ausgenutzte Aktivität der Massen schlägt ins Gegenteil um und führt zu einer Periode des Niedergangs, von der die Masse sich dann wieder schneller oder langsamer unter der Wirkung neuer objektiver Stöße erholt. Unsere Epoche wird durch besonders krassen Wechsel einzelner Perioden charakterisiert, durch außerordentlich schroffe Veränderungen der Situation. Daraus erwachsen der Führung besondere Verpflichtungen hinsichtlich der richtigen Orientierung.

Die Aktivität der Massen kann, selbst wenn sie richtig organisiert wird, entsprechend den Bedingungen sehr verschiedenen Ausdruck annehmen. Die Masse kann in einer bestimmten Periode voll und ganz im ökonomischen Kampf aufgehen und sehr wenig Interesse für politische Fragen zeigen. Umgekehrt kann sie nach einer Reihe großer Niederlagen auf dem Gebiet des ökonomischen Kampfes ihre Aufmerksamkeit jäh der Politik zuwenden. Aber auch hier kann ihre politische Aktivität – je nach den konkreten Umständen und entsprechend der Erfahrung, die die Masse mitbringt, entweder auf rein parlamentarischem Wege bleiben oder den Weg des außerparlamentarischen Kampfes einschlagen.

Wir greifen nur einige Beispiele heraus, die die Widersprüche der revolutionären Entwicklung des Proletariats charakterisieren. Wer Tatsachen wahrnehmen und in ihren Sinn eindringen kann, wird ohne weiteres einsehen, dass die von uns angegebenen Varianten nicht bloße theoretische Kombinationen sind, sondern Ausdruck der lebendigen internationalen Erfahrung der letzten Jahre.

Nach dem hier Aufgezeigten ist jedenfalls klar, dass man, wenn über »Radikalisierung« gesprochen wird, eine konkrete Bestimmung dieses Begriffes verlangen muss. Diese Forderung muss sich selbstverständlich die marxistische Opposition selbst stellen. Die einfache Leugnung der Radikalisierung à Ia Monatte, Chambelland usw. verfängt ebenso wenig wie wenn man sie einfach unterstellt. Wir brauchen eine vernünftige Einschätzung dessen, was ist, und dessen, was wird.

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