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Leo Trotzki 19300900 Was ist Sozialfaschismus?

Leo Trotzki: Was ist Sozialfaschismus?

[Nach Schriften über Deutschland, Band 1, Frankfurt am Main 1971, S. 99-101]

Radek hat seine Probezeit abzudienen. Zu diesem Zwecke schreibt er in der »Prawda« weitschweifige Feuilletons über »Sozialfaschismus«. »Was ist das, ein Strick«, wie der Philosoph bei Chemnitzer sagt. Und da das Unglück darin besteht, dass die Leser der zahlreichen Artikel über den »Sozialfaschismus« verhängnisvollerweise all die vortrefflichen Argumente der vorhergehenden Forscher aus dem Kopfe verlieren, heißt es für Radek, von Anfang zu beginnen. Von Anfang beginnen, heißt erklären, dass Trotzki auf der anderen Seite der Barrikade steht. Es ist übrigens möglich, dass Radek diesen Satz auf besonderes Verlangen der Redaktion hereinnehmen musste, als moralisches Honorar für den Abdruck seines Artikels. Aber doch: worin besteht das Wesen des »Sozialfaschismus«? Und worin sein Unterschied vom ausgesprochenen Faschismus? Wie sich zeigt, besteht der Unterschied, wer hätte es gedacht, darin, dass der Sozialfaschismus gleichfalls »für Durchführung der faschistischen Politik ist, aber auf demokratischem Wege«. Radek setzt mit vielen Worten auseinander, warum der deutschen Bourgeoisie nichts anderes übrig blieb, als die Faschisierungspolitik mit Hilfe des Parlaments durchzuführen, »unter äußerer Beibehaltung der Demokratie«. Um was also handelt es sich? Bisher waren die Marxisten der Ansicht, dass die Demokratie eben die »äußere« Verkleidung der Klassendiktatur ist, – eine ihrer möglichen Verkleidungen. Die politische Funktion der gegenwärtigen Sozialdemokratie besteht in der Schaffung gerade solcher demokratischer Verkleidungen. In nichts anderem besteht auch ihr Unterschied zum Faschismus, der mit anderen Methoden, anderer Ideologie, teils auch mit Hilfe einer anderen sozialen Basis, dieselbe Diktatur des imperialistischen Kapitals organisiert, sichert und beschützt. Aber – sucht Radek zu beweisen – den verfaulenden Kapitalismus zu erhalten, ist nur mit faschistischen Mitteln möglich. In letzter Instanz ist das durchaus richtig. Daraus resultiert aber nicht die Identität von Sozialdemokratie und Faschismus, sondern bloß, dass die Sozialdemokratie in letzter Instanz gezwungen ist, dem Faschismus die Bahn frei zu machen, wobei dieser bei der Ablösung sich nicht das Vergnügen versagt, eine beträchtliche Zahl sozialdemokratischer Schädel einzuschlagen. Solche Einwände erklärt Radek indessen für »Beschönigung der Sozialdemokratie«. Dieser schreckliche Revolutionär meint offenbar, die Blutspuren des Imperialismus mit der Bürste der Demokratie auszureiben, sei eine höhere und vornehmere Mission, als den imperialistischen Geldschrank mit dem Knüppel in der Hand zu verteidigen.

Radek kann nicht leugnen, dass die Sozialdemokratie mit all ihrer armen Kraft sich an den Parlamentarismus klammert, denn mit dieser künstlichen Mechanik sind alle Quellen ihres Einflusses und Wohlstandes verbunden. Aber, wendet der erfinderische Radek ein, nirgends ist gesagt, dass der Faschismus die formelle Auseinanderjagung des Parlaments fordert. Sieh' mal an! Man nannte doch aber Faschismus gerade jene politische Partei, die, zum ersten Mal in Italien, die Parlamentsmaschine im Namen der Prätorianergarde der bürgerlichen Klassenherrschaft zerstörte. Das bedeutet aber anscheinend nichts. Der Faschismus als Erscheinung ist eine Sache, sein Wesen eine andere. Radek findet, die Zerstörung des Parlamentarismus werde durchaus nicht vom Faschismus gefordert, wenn man ihn an und für sich nimmt. »Was ist das, ein Strick?« Da er aber fühlt, dass das nicht stimmt, fügt Radek mit noch größerer Erfindungsgabe hinzu: »Auch der italienische Faschismus jagte das Parlament nicht sogleich (!) auseinander«. »Was wahr ist, ist wahr«. Und doch hat er es auseinandergejagt und nicht einmal die Sozialdemokratie geschont, die schönste Blume im parlamentarischen Bukett. Bei Radek sieht es aus, als hätten die »Sozialfaschisten« das italienische Parlament auseinandergejagt, allerdings nicht sogleich, sondern erst nach Überlegung. Wir fürchten, Radeks Theorie erklärt den italienischen Arbeitern nicht ganz, warum die »Sozialfaschisten« in der Emigration leben. Auch die deutschen Arbeiter werden nicht leicht begreifen, wer eigentlich in Deutschland das Parlament auseinanderjagen will: die Faschisten oder die Sozialdemokraten?

Alle Beweisführungen Radeks, wie auch seiner Lehrmeister, laufen darauf hinaus, dass die Sozialdemokratie keineswegs eine bürgerliche Demokratie ist (d.h. offenbar nicht jene Demokratie, die Radek in rosigem Traum nach den Versöhnungsumarmungen mit Jaroslawski sah). Die tiefsinnige und fruchtbare Theorie vom Sozialfaschismus ist nicht auf der Grundlage materialistischer Analyse der spezifischen Funktion der Sozialdemokratie aufgebaut, sondern auf der Grundlage eines abstrakt-demokratischen Kriteriums, wie es für Opportunisten auch dann charakteristisch ist, wenn sie den äußersten Rand der äußersten Barrikade beziehen wollen oder müssen. (Dabei wenden sie gewöhnlich den Rücken nicht der richtigen Seite zu und fassen die Waffe am falschen Ende an).

Zwischen Sozialdemokratie und Faschismus besteht kein Klassenunterschied. Faschismus wie auch Sozialdemokratie sind bürgerliche Parteien und dabei nicht bürgerliche gemeinhin, sondern solche, die den versinkenden Kapitalismus beschützen, der sich immer weniger mit demokratischen Formen oder auch nur mit der geringsten Legalität verträgt. Gerade deshalb ist die Sozialdemokratie dazu verurteilt, zunichte zu werden, indem sie auf dem einen Pol dem Faschismus, auf dem anderen dem Kommunismus den Platz räumt.

Der Unterschied zwischen Blonden und Brünetten ist nicht mehr so groß, jedenfalls bedeutend kleiner, als der zwischen Menschen und Affen. Anatomisch und physiologisch gehören Blonde und Brünette zu ein und derselben Gattung von Lebewesen, können ein und derselben Nationalität angehören, auch ein und derselben Familie: schließlich können beide die gleichen Schurken sein, – und nichtsdestoweniger hat die Haut- und Haarfarbe ihre Bedeutung, nicht nur im Polizeipass, sondern in der Lebenspraxis. Radek aber will, um sich Jaroslawskis vollen Beifall zu verdienen, durchaus beweisen, dass der Brünette im Grunde genommen ein Blonder ist, bloß mit dunkler Haut und schwarzen Haaren.

Es gibt auf der Welt gute Theorien, die zur Erklärung von Tatsachen dienen. Was die Theorie vom Sozialfaschismus anbelangt, so eignet sie sich nur für Kapitulanten zum Abdienen der Probezeit.

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