Leo Trotzki 19371001 Antworten auf Fragen amerikanischer Genossen

Leo Trotzki: Antworten auf Fragen amerikanischer Genossen

[Nach Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 873-879, dort mit umfangreichen Fußnoten.]

Wer kann es mit Japan aufnehmen? Großbritannien? Die USA? Die Sowjetunion? Aber Großbritannien ist unvorbereitet und außerdem voll und ganz mit der Lage in Europa beschäftigt. Es scheut jeden entscheidenden Schritt – in Europa mit Rücksicht auf die Lage im Fernen Osten und im Fernen Osten mit Rücksicht auf die Lage in Europa. Sein Weltreich ist durch diese in sich widersprüchliche Lage extrem geschwächt. Wenn Japan siegt, wird es mit absoluter Sicherheit alle europäischen Länder aus China vertreiben. Deshalb kann Großbritannien keine Politik des dauerhaften Ausgleichs mit Japan verfolgen. Kann es sich mit den USA gegen Japan verbünden? Das würde Krieg bedeuten. Zugegeben, die USA sind ein sehr mächtiges Land, aber Japan gegenüber sind sie in einer sehr schwachen Position, weil sie keinen Stützpunkt auf dem asiatischen Festland haben. Die einzige Möglichkeit, einen Krieg mit Japan zu beginnen, läge in einem Militärbündnis mit der Sowjetunion. Das ist Zukunftsmusik. Die gesamte Pazifikflotte stellt nichts anderes dar als eine Vorbereitung auf den zukünftigen Konflikt. Derzeit kann Washington es mit Japan nicht aufnehmen.

Für kein anderes Land hängt so viel von der Lage in Europa ab wie für die Sowjetunion. Nur wenn Frankreich mit der Sowjetunion ein Militärbündnis gegen Japan schlösse, das die Unterstützung Großbritanniens hätte, könnte es sich die Sowjetunion leisten, Japan entgegenzutreten. Selbst das wäre im Hinblick auf die innenpolitische Lage noch fraglich. Und nun ist es zu einer Neuorientierung der britischen Politik gekommen, die auf ein Abkommen mit Italien und, vermittelt über Italien, mit Deutschland abzielt, auf eine Vorherrschaft von vier europäischen Mächten unter Ausschluss der Sowjetunion. Die von Deutschland und Polen mit Unterstützung Italiens ausgehende militärische Gefahr ist sehr groß, und ich glaube nicht, dass die Sowjetunion es in dieser Situation wagen wird, Japan herauszufordern. Ich glaube im Gegenteil, dass Japan die stillschweigende Billigung der Sowjetunion hatte, als es sich auf den neuen Konflikt in China einließ. Das heißt, die Sowjetunion hat erklärt: »Lasst uns in Ruhe, und macht in China, was ihr wollt.« Ich glaube, Moskau ist diese Lage ganz recht, denn sie bedeutet, dass die japanischen Streitkräfte nicht gegen die Sowjetunion eingesetzt werden können. Das ist keine mathematisch exakte Gleichung, sie enthält vielmehr hypothetische Faktoren.

Ein direktes Eingreifen seitens der USA oder der europäischen Mächte ist sehr unwahrscheinlich, wenn nicht sogar völlig ausgeschlossen. Wie sich die Dinge im Fernen Osten entwickeln, wird daher von der militärischen Stärke Japans und Chinas und von der innenpolitischen Lage abhängen. Wir müssen diese Entwicklung auf lange Sicht beurteilen. Japan müsste China nicht nur erobern, sondern auch beherrschen können, und das ist völlig ausgeschlossen. Schon die Eroberung Koreas und der Mandschurei hat Japan in militärischer Hinsicht geschwächt. Die heutige Mandschurei ist nicht mehr dieselbe wie zu Beginn dieses Jahrhunderts, als sie nur eine Bevölkerung von 7 Millionen hatte. Heutzutage hat sie eine Bevölkerung von 30 Millionen, und ihre Bauernschaft ist an Guerillakriege gewöhnt. Ein Gegner, ob Russland oder China, kann diese Bevölkerung jederzeit bewaffnen. China selbst ist ein Land mit einer Bevölkerung von 450 Millionen – ein sehr dicht besiedeltes Land. Für eine japanische Auswanderung bietet es keinen Raum. Wie wir sehen, hat Großbritannien jetzt schon seine Schwierigkeiten mit Indien. Gewaltige Eroberungen wie die Chinas sind in der Niedergangsphase des Kapitalismus unmöglich. Die Eroberung Äthiopiens war möglich, die Chinas ist es nicht. Japan ist nicht Großbritannien, und wenn schon England im Begriff ist, Indien zu verlieren, kann Japan nicht China erobern.

Dazu muss man die inneren Zustände Japans berücksichtigen – eines Landes, das mit der sozialen Revolution schwanger geht. Die großen Diplomaten, denen das Rüstzeug des Marxismus fehlt, machen sich keine Vorstellung davon, wie rasch sich Japan auf eine innenpolitische Explosion zubewegt. Man nehme nur die Situation auf dem Lande: Bauern machen die Hälfte der Bevölkerung aus, und sie besitzen durchschnittlich weniger als einen halben Hektar Boden. Die Soldaten – d. h. eben diese Bauern und Arbeiter – haben nicht die gleichen Einstellungen wie die Militärkaste. Dazu stehen den alten traditionellen Militaristen neue kleinbürgerliche Elemente gegenüber, militarisierte Faschisten, die ein »antikapitalistisches« und antisozialistisches Regime errichten und den ganzen Planeten erobern wollen. All diese Widersprüche müssen sich in einer Explosion entladen. Die Lage im Fernen Osten wird zu einer großen Explosion in Japan führen, und China wird um so erfolgreicher Widerstand leisten. Deshalb können wir mit Sicherheit davon ausgehen, dass Moskau, während es Japan gegen China drängt, gleichzeitig Chinas Widerstand gegen Japan unterstützt. Bis heute hat China gegen Japan eine bemerkenswerte Widerstandskraft bewiesen, aber militärisch gesehen sind die Japaner natürlich stärker. Wird Japan seine unmittelbaren Ziele erreichen? Das hängt davon ab, ob Japan sich selbst beschränkt. Wenn es China lediglich zwingen will, die Eroberung der Mandschurei und die Beherrschung der fünf Nordprovinzen durch Handlanger des japanischen Militärs anzuerkennen, so wird es möglicherweise Erfolg haben. Möglicherweise rät auch Großbritannien China zum Einlenken, um sich dadurch eine Atempause zu verschaffen. In politischer Hinsicht kann man Nanjing zu 51 Prozent als ein Werkzeug in den Händen Londons bezeichnen, und auch wenn London den Widerstand Chinas begrüßt, fürchtet es doch, Japan könne diesen Widerstand brechen, und rät deshalb China zum Nachgeben. So gesehen, ist ein Waffenstillstand möglich. Es gibt nicht nur in Japan überhaupt, sondern auch innerhalb seiner herrschenden Militärkaste zwei Parteien, und das Programm der einen Partei, der der jüngeren Offiziere, ist es, aufs Ganze zu gehen. Der Militärhaushalt Japans beträgt schon in Friedenszeiten 50 % des Gesamthaushalts. Das ist einer der Gründe für den inneren Konflikt.

Wenn wir den Index der Industrieproduktion für 1929, das letzte Jahr guter Konjunktur, gleich 100 setzen, so zeichnet sich Japan durch ein enormes Wachstum von 100 (1929) auf 151 (1936) aus. Für die ersten Monate des Jahres 1937 liegt der Index bei 157, das Wachstum betrug also seit 1929 57 %. Das ist fast ausschließlich auf die Aufrüstung zurückzuführen. Diesen wachsenden Militärhaushalt muss man vor dem Hintergrund der schrecklichen Lage der werktätigen Massen, insbesondere der Bauern, betrachten. Bleiben wir beim Index 100 für das Jahr 1929, so stellen wir fest, dass dieser in den USA 1936 bei 88 lag und nun für 1937 die Monatswerte 95, 97 und 99 erreicht. In Deutschland liegt er im gleichen Zeitraum bei 105 bzw. 118, was wieder auf die Rüstungsindustrie, den Militärhaushalt und die Wiederbewaffnung zurückgeht. Über Italien kann ich nichts sagen, weil Mussolini uns darüber nichts mitteilt. Er macht daraus ein Staatsgeheimnis: Die Statistik endet mit dem Jahr 1935. In Frankreich lag der Index 1936 bei 70, und jetzt – zu Beginn des »Konjunkturaufschwungs«, der auch schon wieder zu Ende ist – bei 73 bzw. 75. Nur in Großbritannien lässt sich ein unbestreitbares Wachstum verzeichnen, welches sich jedoch mit dem Wachstum in Japan nicht vergleichen lässt. 1929 wieder gleich 100 gesetzt, liegt der Index für Großbritannien 1936 bei 116 und 1937 bei 120 bzw. 123. Dies ist auf die Einführung des Protektionismus, d. h. die Abkehr vom Freihandel zurückzuführen. Doch dabei handelt es sich nur um ein vorübergehendes Wachstum, denn die solcherart geschützten Industrien können sich nur bis zu dem Grad entwickeln, wie sie Marktbedürfnisse befriedigen, und dieser Punkt scheint nun erreicht zu sein. Stellen wir dem die Sowjetunion gegenüber, wobei wir wieder den Produktionsindex für 1929 gleich 100 setzen. Für 1930 beträgt er beinahe 200, für 1935 beinahe 300 und für dieses Jahr über 400. Ich habe nicht allzu viel Vertrauen zu dieser Statistik, und bei der notwendigen, realistischen Bereinigung dieser Zahlen – um Preise, Produktivität usw. – kämen wir vielleicht zu dem Schluss, dass diese Ergebnisse durch statistische Manipulationen um das Doppelte überhöht sind, doch das Wachstum ist auf jeden Fall unvergleichlich größer als selbst in Japan. In diesem Zusammenhang könnten einige Zahlen von Interesse sein, die Frankreich betreffen. Setzen wir den Produktionsindex für 1929 gleich 100 (was ungefähr der Produktion des Vorkriegsjahres 1913 entspricht), so stellen wir fest, dass er 1923 bei 140 lag (Deutschland leistete zu jener Zeit sehr hohe Reparationszahlungen). Dabei darf nicht vergessen werden, dass durch den Krieg sehr reiche Provinzen an Frankreich gefallen sind. Für 1924 beträgt der Index noch 124, während er 1936 nurmehr dem Wert von 1908 entspricht. Trotz der deutschen Reparationen und trotz des Zugewinns zweier reicher Industriegebiete ist die Industrieproduktion Frankreichs niedriger als vor dem Krieg. Dieses Jahr wird sie vielleicht wieder das Vorkriegsniveau erreichen. Wenn diese große kapitalistische Siegermacht nicht mehr auf dem vor dem Krieg erreichten Niveau produzieren kann, so beweist das jedenfalls, dass es keine leere Phrase ist, vom Niedergang des Kapitalismus zu sprechen.

Die Sowjetunion hat das größte Interesse daran, Japan in einen Konflikt mit China zu verwickeln, und dazu muss sie sowohl Japan als auch China helfen. Natürlich wartet Japan nicht erst auf die »Einladung« der Sowjetunion. Auch muss man sich darüber im klaren sein, dass die Diplomaten in Tokio den Worten Moskaus nicht das geringste Vertrauen schenken, ebenso wenig wie Moskau den Worten Tokios. Aber Japan hat seine Fühler ausgestreckt, indem es noch vor der Invasion Chinas die Amur-Inseln besetzte. Moskau protestierte zwar, zog sich aber vollständig zurück. Das gab Japan die Gewissheit, dass Moskau nicht willens oder nicht gewappnet ist, sich auf einen militärischen Konflikt einzulassen. Zwar drohte Litwinow Japan, doch wie man bei der Analyse seiner Rede feststellen wird, hat Moskau erklärt, es werde nichts tun, um Japan in den Arm zu fallen. Die bombastische Phraseologie war nur für die Moskauer Zeitungen bestimmt – als Zugeständnis an die patriotischen Gefühle der sowjetischen Arbeiter. In Wirklichkeit sagte Litwinow: »Solange ihr euch mit diesen kleinen Diebereien begnügt, können wir das dulden, und solange ihr eure Kräfte gegen China wendet, halten wir natürlich still.« So gab die Sowjetunion Japan die Gewissheit, sie beabsichtige kein Militärbündnis mit China, um ihm entgegenzutreten. Japan hat auch vorausgesehen, dass Russland China zwar unter der Hand durch Lieferung von Flugzeugen und Kriegsmaterial helfen, doch keine Armee schicken werde. Japan beurteilte die Lage im Zusammenhang und kam zum Ergebnis, eine Invasion Chinas sei möglich. So seltsam es sein mag – manchmal setzen zwei Gegner auf die gleiche Karte: Japan glaubt, auf lange Sicht in China zu erstarken und in drei bis fünf Jahren einer russischen Intervention in China militärisch gewachsen zu sein. Umgekehrt glaubt Russland, Japan verschaffe ihm durch seine Verstrickung in China eine Atempause.

Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, dass wir hier eine große Diskussion über die Chinafrage hatten. Eiffel griff mich wegen eines Interviews an, das ich über den chinesisch-japanischen Krieg gegeben hatte, weil ich darin gesagt hatte, Revolutionäre müssten unter Wahrung ihrer politischen Unabhängigkeit am Kampf gegen Japan teilnehmen. Eiffel trat dieser Auffassung entgegen und erklärte: »In China müssen wir Defätisten sein.« Zu meinen, wir könnten in China, einem halbkolonialen Land, Defätisten sein, ist eine komplette politische Idiotie, ja sogar Verrat. Das ist so, als würden wir bei einem Streik gegen Ford sagen, wir könnten nicht daran teilnehmen, weil er von Green geführt wird. Können wir Green voll vertrauen? Nein, und doch müssen wir am Streik teilnehmen und alle anderen darin übertreffen. Natürlich müssen wir uns auf den Sturz Tschiang Kaischeks vorbereiten. Stürzt ihn, wenn ihr könnt. Könnt ihr ihn aber nicht stürzen, so müsst ihr am Kampf gegen Japan teilnehmen und ihn dabei gleichzeitig politisch bekämpfen. In Japan greifen wir die japanischen Militaristen an, weil sie Krieg führen, in China dagegen greifen wir Tschiang Kaischek nicht etwa an, weil er Krieg führt, sondern weil seine Kriegsführung zu träge ist, weil er die Beschlagnahme der japanischen Industrien, Banken, Eisenbahnen usw. nicht mit dem notwendigen Nachdruck betreibt. Alles andere wäre ganz so, als wollten wir Green vorwerfen, dass er einen Streik angefangen hat, und nicht, dass er den Streik zu wenig kämpferisch angeht. Für uns kommt es entscheidend darauf an, die revolutionären Massen unter unserem Banner zu mobilisieren, weil dies der einzige historische Faktor ist, der den Sieg zu sichern vermag. Aber wir gehen voll und ganz vom Standpunkt dieses Krieges aus und beteiligen uns aktiv daran.

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