Leo Trotzki 19370817 Antworten auf Fragen der Sunday Sun

Leo Trotzki: Antworten auf Fragen der Sunday Sun

[Nach Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 856-858, dort mit mehreren Fußnoten.]

1.

Japan will China zu seinem »Indien« machen. Zur Absicherung der Herrschaft über dieses riesige Land muss der westliche Teil des pazifischen Ozeans ein japanisches Meer werden. Australien wird der südliche Anrainer dieses »japanischen Meeres« sein. Für Japan ist es zwingend notwendig, in Australien Rückhalt zu finden.

Die strategische Lage Ihres Kontinents muss zwangsläufig den Appetit der japanischen Militaristen wecken. Sie leben in großer Entfernung sowohl von Großbritannien als auch von den Vereinigten Staaten. Der nächstgelegene britische Ozeanstützpunkt, Singapur, kann nur zeitweilig und behelfsmäßig eine Rolle spielen.

Neben diesen rein militärischen Überlegungen übt auch Australien selbst eine große Anziehungskraft aus. Auf den japanischen Inseln kommen auf jeden Quadratkilometer mehr als 175 Menschen; in Australien kommt auf die gleiche Fläche vielleicht ein Einwohner. Australien ist reich an allerlei Rohstoffen, die in Japan knapp sind. Jeder Australier, die Säuglinge eingerechnet, verbraucht durchschnittlich etwa 100 kg Fleisch im Jahr, während auf einen Italiener 15 kg kommen (wie wir sehen, ist Mussolinis pompöser Nationalismus eher von der fleischlosen Art) und auf einen Japaner nur ein verschwindender Bruchteil davon.

Man kann also ohne Übertreibung feststellen, dass sich das Schicksal Australiens wenigstens zu 50 % in Shanghai oder allgemein in China entscheidet. Die Unterstützung des Befreiungskriegs der chinesischen Nation gegen die japanischen Marodeure stellt eine der wichtigsten Vorbedingungen für die Verteidigung der Unabhängigkeit Australiens und Neuseelands dar.

2. und 3.

Leider kann ich mich nicht rühmen, mit dem sozialen und politischen Leben Australiens sonderlich vertraut zu sein. Ich war noch nie in Australien und hatte nicht die Möglichkeit, die Presse des Landes zu verfolgen. Doch die russische und internationale Literatur über die wirtschaftlichen Verhältnisse Australiens und über seine Sozialgesetzgebung ist reich genug. Insbesondere unsere Narodniki (Populisten) haben oft auf Australien und Neuseeland als Vorbilder einer neuen sozialen Ordnung verwiesen. Ich muss nicht eigens erwähnen, dass ich ihre Sozialgesetzgebung aufmerksam verfolgt habe, die einerseits aufgrund der natürlichen Reichtümer des Landes, andererseits durch systematischen Protektionismus möglich wurde.

Ich glaube jedoch nicht, dass Ihre Gesetzgebung eine gesellschaftliche Entwicklung besonderer Art herbeiführen wird, die sich grundlegend von der anderer kapitalistischer Länder unterscheidet. Die Frage nach den Formen des Privateigentums ist von entscheidender Bedeutung. Wie die Statistiken bezeugen, führt die kapitalistische Konkurrenz auch in Australien zu einer Konzentration des Reichtums in Gestalt des Finanzkapitals und zu immer tieferen sozialen Gegensätzen.

Zweifellos sind die gesellschaftlichen Beziehungen in Australien stabiler als in anderen Ländern, insbesondere in Europa. Aber diese Stabilität gilt nicht uneingeschränkt und währt nicht ewig. Die kommende weltweite Krise, mit der man für die nächsten zwei bis drei Jahre rechnen kann, wenn die Rüstungsprogramme der Großmächte weitgehend abgewickelt sein werden, wird auch Australien erschüttern. Der kommende Krieg, der – leider – ebenfalls nicht lange auf sich warten lassen wird, muss auch Australien unweigerlich in seinen Strudel hineinziehen. Das sind keine erfreulichen Aussichten, aber sie entsprechen der Realität, und es wäre verbrecherischer Leichtsinn, vor diesen Tatsachen die Augen zu verschließen.

4.

Hitlers Politik ist die Politik eines aggressiven Imperialismus. Stalins Politik ist die Politik der Selbsterhaltung einer neuen privilegierten Kaste. Hitler trachtet nach der »Freundschaft« Großbritanniens. Stalin sucht ein Militärbündnis mit Frankreich und – über Frankreich – eine Annäherung an England. Haben diese Pläne keinen Erfolg, so wird ein Bündnis Hitlers mit Stalin nicht nur möglich, sondern unvermeidlich – sofern Hitler und Stalin dann noch an der Macht sind. Dafür würde ich mich nicht verbürgen.

5.

Die bolschewistische Partei betrachtete den Terror in den Jahren des Bürgerkriegs als eine unvermeidliche zeitweilige Waffe, Begleiterscheinung einer jeden Revolution, wie die Geschichte zeigt. Das Ziel dieses Terrors war es, die Nation von den Ketten der alten Knechtschaft zu befreien und der Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft den Weg zu ebnen.

Der derzeit von der Sowjetbürokratie ausgeübte Terror ist nicht revolutionärer, sondern reaktionärer Natur. Seine Funktion besteht darin, das Entstehen einer neuen herrschenden Klasse zu unterstützen und vor allem die allmächtige Sowjetbürokratie vor jeder Opposition und jeder Kritik zu schützen.

6.

Die Frage nach meiner Rückkehr in die UdSSR ist keine persönliche Frage. Ich kann nicht Stalins Platz an der Spitze des gegenwärtigen Staatsapparats einnehmen, der durch und durch reaktionärer Natur ist und sich gegen das Volk richtet. Aber ich habe die feste Hoffnung, dass die Völker der UdSSR, die in diesem Jahrhundert bereits drei Revolutionen vollbracht haben, einen Weg finden werden, dem Despotismus der stalinistischen Bürokratie ein Ende zu machen und einer freien sozialistischen Entwicklung Bahn zu brechen. Meine ganze Tätigkeit ist diesem Ziel gewidmet.

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