Leo Trotzki 19391124 Brief an Selina M. Perera

Leo Trotzki: Brief an Selina M. Perera

[Nach Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 948-950, dort mit umfangreichen Fußnoten]

Liebe Genossin Perera,

die Frage, ob es zu einer militärischen Intervention der Roten Armee in Indien (von Ceylon ganz zu schweigen) kommen könnte, ist von einigen amerikanischen Genossen absolut künstlich in die Welt gesetzt worden. Die Möglichkeit ist nicht auszuschließen, aber heute stehen ganz andere Fragen auf der Tagesordnung als diese. In prinzipieller Hinsicht sehe ich hier gegenüber der chinesischen oder spanischen Erfahrung keinerlei neue Probleme. Die Rote Armee ist kein unabhängiger politischer Faktor, sondern ein militärisches Instrument der bonapartistischen Bürokratie der UdSSR. Militärische Intervention wäre lediglich die Fortsetzung politischer Intervention, und die politische Intervention seitens Stalins Komintern schreitet in Indien wie anderswo tagtäglich voran. Aber unsere Aufgabe besteht nicht darin, über die Möglichkeiten einer künftigen militärischen Intervention zu spekulieren – vielmehr haben wir zu lernen, wie wir die derzeitige politische Intervention bekämpfen können. Jeder Kampf erfordert eine korrekte Einschätzung aller Faktoren, die im Spiel sind.

Wir dürfen vor allen Dingen nicht vergessen, dass der unmittelbare Feind der indischen Arbeiter und Bauern nicht die Rote Armee ist, sondern der britische Imperialismus. Einige Genossen, bei denen in letzter Zeit antistalinistische an die Stelle marxistischer Politik getreten ist, vergessen die politischen Realitäten Indiens und äffen die Stalinisten von gestern nach, die – natürlich vor dem Stalin-Hitler-Pakt – verkündeten, der Hauptfeind in Indien sei … Japan.

Die Stalinisten unterstützen in Indien direkt die nationalen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und tun, was sie können, um die Arbeiter und Bauern mittels dieser Parteien zu unterjochen. Unsere Aufgabe ist es, eine ganz und gar unabhängige proletarische Partei mit einem klaren Klassenprogramm aufzubauen.

Im allgemeinen, historischen Sinn spielen die stalinistische Bürokratie und die Komintern eine konterrevolutionäre Rolle. Doch können sie aufgrund ihrer militärischen und sonstigen Interessen gezwungen sein, fortschrittliche Bewegungen zu unterstützen. (Sogar Ludendorff sah sich genötigt, Lenin einen Zug zur Verfügung zu stellen – eine höchst fortschrittliche Tat –, und Lenin hat ihn akzeptiert.) Wir müssen unsere Augen offenhalten, um die fortschrittlichen Maßnahmen der Stalinisten wahrzunehmen, sie eigenständig zu unterstützen, Gefahren und Verrat rechtzeitig vorherzusehen, die Massen zu warnen und ihr Vertrauen zu gewinnen. Wenn unsere Politik entschlossen, unnachgiebig und realistisch in einem ist, wird es uns gelingen, die Stalinisten anhand revolutionärer Erfahrung bloßzustellen. Bei einer Intervention der Roten Armee setzen wir diese Politik fort und passen sie den militärischen Gegebenheiten an. Wir werden die indischen Arbeiter dazu anhalten, sich mit den einfachen Soldaten zu verbrüdern, die Unterdrückungsmaßnahmen ihrer Vorgesetzten anzuprangern usw.

Die Hauptaufgabe in Indien besteht in der Überwindung der britischen Herrschaft. Aus dieser Aufgabe folgt für das indische Proletariat zwingend, jede oppositionelle oder revolutionäre Handlung zu unterstützen, die sich gegen den Imperialismus richtet.

Diese Unterstützung muss von gründlichem Misstrauen gegenüber der nationalen Bourgeoisie und ihren kleinbürgerlichen Handlangern geleitet sein.

Wir dürfen unsere Organisation, unser Programm und unsere Fahne keinen Augenblick lang mit den ihren vermischen.

Wir müssen uns streng an die alte Regel halten: Getrennt marschieren, vereint schlagen.

Wir müssen den zeitweiligen Verbündeten ebenso argwöhnisch im Auge behalten wie den Feind.

Wir müssen die Zwistigkeiten der bürgerlichen und der kleinbürgerlichen Strömungen untereinander ausnutzen, um das Selbstbewusstsein der proletarischen Avantgarde zu stärken.

Wenn wir uns sorgfältig an diese guten alten Regeln halten, wird uns die Intervention der Roten Armee nicht unvorbereitet treffen.

Mit den wärmsten Grüßen an Sie und die Genossen in Ceylon, und mit den besten Wünschen für Ihre Reise

mit Genossengruß

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