Leo Trotzki 19240429 Der 1. Mai in West und Ost

Leo Trotzki: Der 1. Mai in West und Ost

Zum 35. Jahrestag des 1. Mai

Rede auf der Festversammlung des Plenums des Moskauer Sowjets (Auszüge)

[Nach Schriften 2.1, Hamburg 1990, S. 70-74, dort mit umfangreichen Fußnoten]

Brüderlichkeit zwischen den Völkern! Amerika erlässt ein Gesetz, das den Japanern untersagt, amerikanischen Boden zu betreten. Die Japaner, die gelbe Rasse, sind eine niedere Rasse! Japan unterdrückt Korea. Gemeinsam mit dem bourgeoisen Europa und Amerika trachtet es danach, China zu unterdrücken. Gerade bringen die neuesten Zeitungen eine Nachricht, die sich jedem von uns fest ins Gedächtnis einprägen sollte. Sie betrifft eine ganz kleine, eine winzige Episode in Peking. Uns als alten Politikern ist hinlänglich bekannt, was Imperialismus, was die britische Kolonialherrschaft, und was ihr Dünkel ist. Wir wissen, wie die unterdrückten Völker des Ostens leben, und trotzdem, Genossen, scheint uns jede neue Tatsache, die die wahre Struktur der kolonialen Sklaverei veranschaulicht, unwahrscheinlich und für unser Bewusstsein erschütternd. Ich habe zum Beispiel nicht gewusst, dass es da in Peking so eine Mauer gibt, an der entlang oder auf der (das wird aus der Meldung nicht klar) nur Ausländern das Recht zusteht, spazieren zu gehen. Vor einigen Tagen nun ist ein chinesischer Soldat ein Stück weit auf dieser Mauer gegangen. Doch da gibt es eine besondere Polizei des Diplomatenviertels, und die verlangte, dass sich der chinesische Soldat in der chinesischen Stadt Peking davonmachen sollte, weil dieser Ort nur für Ausländer bestimmt sei! Der chinesische Soldat weigerte sich. Man nahm ihn fest und bestrafte ihn mit Stockhieben. Vierzig Hiebe im Namen der Unantastbarkeit der »zivilisierten« imperialistischen, für die Weißen vorgesehenen Mauer. Der so bestrafte chinesische Soldat erklärte, dass er dafür 40 Ausländer verprügeln werde (Beifall), aber er schaffte nur drei: einen Engländer, einen Italiener, und ich weiß nicht, was für einen dritten. Nach seiner Rechnung fehlten ihm noch 37, als der Gesandte der britischen Regierung, an deren Spitze MacDonald steht, einer der Führer der II. Internationale – derselben Internationale, die vor 35 Jahren den 1. Mai zum Fest der internationalen Brüderlichkeit bestimmt hat –, als also der britische Gesandte die Festnahme dieses Soldaten verlangte; und so verhaftete man ihn und wird ihn einem Tribunal zum Ruhme der in China schaltenden und waltenden Ausländer überantworten. Genossen, ich will unseren Diplomaten keinerlei Schwierigkeiten bereiten, ich will auch den reaktionären englischen Zeitungen, die da behaupten, wir wollten die Gespräche in London abbrechen, kein neues Material liefern, trotzdem möchte ich aber in unser aller Namen diesem Soldaten in Peking zurufen, dass das Moskauer Proletariat mit ganzem Herzen bei ihm ist. (Tosender Beifall.) Im Zusammenhang mit diesem Zwischenfall habe ich – offen gestanden erstmals – erfahren, dass es in Shanghai, einer anderen chinesischen Großstadt, einen Boulevard oder einen Park gibt, wo alle Bänke die Aufschrift »Nur für Ausländer« tragen. Man denke: »Nur für Ausländer!« ... Der Chinese muss im eigenen Haus, im eigenen Land, diese Bänke meiden, sonst drohen ihm die Segnungen der europäischen Zivilisation in Form von Stockhieben. Und das, Genossen, 35 Jahre, nachdem das Proletariat Europas das Fest der Brüderlichkeit unter den Völkern eingeführt hat! Ich muss offen gestehen, neben warmer Sympathie für die werktätigen Massen Chinas und des ganzen Ostens, wie sie für jeden von uns selbstverständlich ist, kam mir auch folgendes in den Sinn: Wie, wenn im Jahre 17 nicht das Proletariat unter seinem großen Führer die bourgeoise Ordnung gestürzt und in diesem Land die Macht ergriffen hätte, und wenn es sich nicht in Gestalt der Roten Armee ein Instrument der Verteidigung geschaffen hätte? Genossen, man hätte uns gefesselt, unterdrückt, zertreten! Das war der Traum, den unsere Feinde träumten! Wer weiß, vielleicht hätten sie nach einem Sieg versucht, auch an den Mauern des Kreml, auf dem Roten Platz, da, wo jetzt unser Führer ruht, Plakate aufzuhängen: »Nur für Zivilisierte«, »Nur für Ausländer«. Das sollte sich unser Rotarmist nur einmal vorstellen, dass es bei uns, in Moskau oder in Leningrad oder an einem anderen Ort eine Mauer mit der Aufschrift gäbe: »Für russische oder überhaupt sowjetische Soldaten Spazierengehen verboten«... Nein, nein! Das wird es nie geben. Wir haben uns behauptet und sind zuversichtlich, dass es mit unserer Unterstützung den Völkern des Ostens gelingt, ein für allemal mit dem niederträchtigen Regime von Hochmut, Gewalt und kolonialer Unterdrückung Schluss zu machen. (Beifall.) ...

Ein Artikel, mit dem wir nicht Handel treiben, über den wir niemals mit uns handeln lassen, ist die Unabhängigkeit der Völker des Ostens. (Beifall.) Das sei all denen ins Stammbuch geschrieben, die mit uns Verträge schließen wollen!

Und noch ein Volk im Osten verdient heute, am Tag der internationalen Brüderlichkeit, besondere Erwähnung: das Volk von Afghanistan. Dort finden dramatische Ereignisse statt, bei denen der britische Imperialismus seine Hand im Spiel hat. Afghanistan ist ein rückständiges Land. Afghanistan unternimmt erste Schritte auf dem Wege zur Europäisierung, um seine Unabhängigkeit auf kultivierterer Grundlage sicherzustellen. Die Macht in Afghanistan haben progressive nationale Elemente – und da mobilisiert und bewaffnet die britische Diplomatie alles, was es nur an Reaktionärem in diesem Lande und an seinen Grenzen zu Indien gibt, und wirft es den progressiven Elementen in Kabul entgegen. Wir sehen – angefangen bei den Verfügungen, mit denen nicht nur die bourgeoisen, sondern auch die sozialdemokratischen Kräfte in Deutschland die Demonstrationen zum 1. Mai verboten haben, bis hin zu den Ereignissen in China und in Afghanistan –, überall sind die Parteien der II. Internationale am Werk, überall wird unterdrückt und unterjocht. Denn auch der mit britischen Mitteln organisierte Vorstoß nach Kabul geht auf das Konto der Regierung des Pazifisten MacDonald.

In jüngster Zeit mehren sich die Gerüchte, dass sich auch im Osten ein Gewitter zusammenbraut. Offen gesagt, ist nicht alles an diesen Gerüchten Produkt der Phantasie der weißen Emigration. In Tokio, in Japan, ist ein Kampf unter den Herrschenden entbrannt. Da gibt es einen extrem militaristischen Flügel, der sich für das entsetzliche Unglück, das Japan mit dem Erdbeben widerfahren ist, an der Sowjetunion schadlos halten möchte. Japan hat in Amerika eine große Anleihe zum Wiederaufbau in den zerstörten Gebieten aufgenommen. Gleichzeitig hat Amerika die japanische Einwanderung erbarmungslos und brutal zurückgewiesen. Nun hat Japan das offenbar so verstanden, als ob ihm die amerikanische Bourgeoisie den Weg zu unserer sowjetischen Pazifikküste gewiesen hätte. Gerade in letzter Zeit haben japanische Militärs wieder davon gesprochen, dass die Bewohner der sowjetischen Pazifikküste ihr Streben nach staatlicher Unabhängigkeit intensivieren und dass sich ihre Vertreter mit der Bitte um Unterstützung an Autoritäten und einflußreiche Kreise in Japan gewandt hätten. Wir kennen die Namen dieser Vertreter, der bekannteste und forscheste unter ihnen ist Ataman Semjonow. Dort, im Fernen Osten, wird offenbar von gewissen Kreisen der japanischen Regierung ein neues militärisches Abenteuer vorbereitet; zumindest werden die politischen und psychologischen Voraussetzungen dafür geschaffen. Das werden wir am 1. Mai entlarven und der japanischen Arbeiterklasse zur Kenntnis bringen. In Japan wird um die Demokratisierung des Landes gerungen. Wir haben schon früher einmal gesagt, dass Japan, in gewissem Sinn, am Vorabend seines Jahres 1905 steht. Wir erinnern uns gut an dieses Jahr. Ihm ging der russisch-japanische Krieg voraus. Die Zarenregierung ließ sich damals in der Mandschurei, am Jalu, auf ein Abenteuer ein, das die Entwicklung der Ereignisse außerordentlich vorantrieb und so den Aufstand der werktätigen Massen 1905 beschleunigte – dieses große Vorspiel zum Jahre 1917. Bemüht sich denn die japanische Bourgeoisie so sehr um historische Parallelen, während sie ihrem 1905 entgegengeht? Sie will ihm wohl einen neuen russisch-japanischen, diesmal sowjetisch-japanischen Krieg vorausschicken – und zwar nicht auf unsere Initiative, wir wollen ihn nicht, sondern auf die ihrer extremen Chauvinisten. Wir wenden uns an die werktätigen Massen Japans, wir warnen sie vor den Schlupfwinkeln irgendwelcher Stäbe, irgendwelcher Kanzleien, wo neue blutige Händel ausgeheckt und geplant werden. Wir müssen alles nur irgend Mögliche unternehmen, damit unser Ferner Osten und Japan vor neuen Abenteuern bewahrt bleiben.

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