Leo Trotzki 19300530 Die Revolution in Indien

Leo Trotzki: Die Revolution in Indien

[Nach Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 631-643, dort mit umfangreichen Fußnoten]

Indien ist das klassische Kolonialland – wie England die klassische Metropole ist. Die ganze Niedertracht der herrschenden Klassen der »zivilisierten« Nationen und alle Arten der Unterdrückung, mit denen der Kapitalismus die zurückgebliebenen Völker des Ostens überzog, sind komplett und auf schlimmste Weise in der Geschichte dieser gigantischen Kolonie zusammengefasst, die der britische Krake seit anderthalb Jahrhunderten erdrosselt und aussaugt. Die englische Bourgeoisie unterstützt in Indien mit der größten Fürsorge alle Überreste der asiatischen Barbarei und alle mittelalterlichen Institutionen, die für die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen entwickelt worden sind. Sie musste nur ihre mit dem Leibeigenschaftssystem verbundenen Handelspartner dazu bewegen, sich der kolonial-kapitalistischen Ausbeutung anzupassen, um sie zu ihren Anhängern, ihren Organen und zu ihrem Schutz vor den Massen zu machen. Die englischen Imperialisten prahlen mit ihren Eisenbahnen, Kanälen und Industriebetrieben in Indien, in die sie ungefähr 8 Milliarden Goldrubel investiert haben. Triumphierend vergleichen die Apologeten des Imperialismus das heutige mit dem Indien am Vorabend der kolonialen Unterdrückung. Kann man aber auch nur einen Moment bezweifeln, dass sich ein begabtes Volk von 320 Millionen unermesslich rascher und erfolgreicher entwickelt hätte, wenn es nicht Objekt einer systematisch organisierten Ausplünderung geworden wäre? Man braucht nur daran zu erinnern, dass die 8 Milliarden englischen Kapitals in Indien nur dem Wert der Beute entsprechen, die England alle fünf bis sechs Jahre aus Indien herauszieht!

Der Shylock an der Themse, der Indien Technik und Kultur in genau kalkulierter Dosierung abgegeben hat – immer nur so viel, dass die Reichtümer des Landes geplündert werden konnten –, war dennoch nicht in der Lage zu verhindern, dass die Ideen des wirtschaftlichen Fortschritts, der nationalen Selbständigkeit und Freiheit immer breitere Massen der Völker Indiens ergriffen.

Ebenso wie in den älteren bürgerlichen Staaten werden die zahlreichen Völker Indiens zur Nation nur durch eine Revolution, die sie Zug um Zug politisch eint. Aber im Unterschied zu den alten bürgerlichen Staaten ist diese Revolution eine koloniale, eine Revolution, die sich gegen die ausländischen Unterdrücker richtet. Außerdem ist dies die Revolution einer historisch verspäteten Nation, in der sich – während die feudale Leibeigenschaft, das Kastensystem und sogar die Sklaverei noch fortbestehen – der Klassenantagonismus zwischen Proletariat und Bourgeoisie sehr stark entwickelt hat.

Der koloniale Charakter der indischen Revolution, die sich gegen die mächtigsten Unterdrücker richtet, maskiert bis zu einem gewissen Grade die inneren gesellschaftlichen Widersprüche, vor allem in den Augen derjenigen, für die eine solche Maskierung vorteilhaft ist. Um von dem mächtigen System der imperialistischen Unterdrückung, das in der altindischen Ausbeutung Wurzeln geschlagen hat, freizukommen, bedarf es einer äußersten revolutionären Anspannung der indischen Volksmassen: der Klassenkampf wird also von vornherein gigantische Ausmaße annehmen. Der britische Imperialismus wird seine Positionen nicht freiwillig aufgeben. Er wird in peinlicher Manier vor Amerika mit dem Schwanz wedeln und seine ganze restliche Energie und seine ganze Wut gegen das ungehorsame Indien richten. Es ist eine nachdrückliche historische Lehre, dass die indische Revolution schon in ihrem gegenwärtigen Stadium, wo sie sich noch nicht einmal von ihrer verräterischen Führung durch die nationale Bourgeoisie losgerissen hat, von der »sozialistischen« Regierung MacDonalds zerschlagen wird. Die blutigen Repressionen durch diese gedungenen Lumpen der Zweiten Internationale, die versprechen, den Sozialismus bei sich zu Hause »friedlich« zu verwirklichen, sind erst eine kleine »Anzahlung«, die der britische Imperialismus heute für seine künftige Abrechnung mit der indischen Revolution leistet. Die süßlichen pazifistischen Erörterungen der Sozialdemokraten über die Möglichkeit einer Versöhnung zwischen den Interessen des bürgerlichen Englands und des demokratischen Indiens sind die notwendige Ergänzung der blutigen Repressalien MacDonalds, der natürlich bereit ist, zwischen zwei Henkerstaten die hundertste und tausendste Versöhnungs- oder Verständigungskommission zu bilden. Die britische Bourgeoisie weiß nur zu genau, dass der Verlust Indiens für sie nicht nur den Zusammenbruch ihrer ohnehin schon lädierten Weltmachtstellung bedeuten würde, sondern auch eine soziale Katastrophe in der Metropole selbst. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod. Alle Kräfte werden mobilisiert. Das heißt, dass die Revolution die unversöhnliche Energie und die verborgenen sozialen Leidenschaften der am stärksten unterjochten und geknechteten Klassen, Schichten und Kasten mobilisieren muss.

Die Millionenmassen sind schon in Bewegung geraten. Sie haben ihre bislang halbblinde Kraft bereits in solchem Maße gezeigt, dass die nationale Bourgeoisie gezwungen war, aus ihrer Passivität herauszutreten und zu versuchen, sich der Bewegung zu bemächtigen, um dem Schwert der Revolution die Klinge abzubrechen. Gandhis passiver Widerstand ist der taktische Knoten, in dem sich die Naivität und die selbstaufopfernde Blindheit der isolierten und zersplitterten kleinbürgerlichen und bäuerlichen Massen mit dem verräterischen Manövrieren der liberalen Bourgeoisie verknüpfen. Die Tatsache, dass der Vorsitzende der indischen Gesetzgebenden Versammlung, d. h. des offiziellen Organs, das für die Verträge mit dem Imperialismus zuständig ist, seinen Posten verlassen hat, um sich an die Spitze der Bewegung für einen Boykott der englischen Waren zu stellen, hat zutiefst symbolischen Charakter. »Wir werden euch beweisen«, sagt die nationale Bourgeoisie den Herren an der Themse, »dass wir für euch notwendig sind, dass ihr ohne uns die Massen nicht bändigen könnt, aber dafür werden wir euch unsere Rechnung präsentieren.« Als Antwort wirft MacDonald Gandhi ins Gefängnis. Möglich, dass der Lakai weitergeht, als der Herr es beabsichtigt, und, um dessen Vertrauen zu rechtfertigen, einen unvernünftigen Eifer an den Tag legt. Möglich, dass die Konservativen, seriöse und erfahrene Imperialisten, im gegenwärtigen Stadium mit den Repressionen längst nicht so weit gegangen wären. Andererseits brauchen die nationalen Führer der passiven Opposition diese Repressionen, um ihre ziemlich angeschlagene Reputation aufzubessern. Diesen Dienst erweist ihnen MacDonald. Er schießt auf Arbeiter und Bauern, er verhaftet Gandhi mit der gleichen Zuvorkommenheit, mit der die russische Provisorische Regierung Kornilow und Denikin verhaftet hat – ihre Freunde, die ihr zeitweilig Ärger gemacht hatten.

Ist das indische Imperium ein wesentlicher Bestandteil der inneren Herrschaft der britischen Bourgeoisie, so ist andererseits die imperialistische Herrschaft des britischen Kapitals über Indien ein wesentlicher Bestandteil der inneren Struktur Indiens. Das Problem besteht keineswegs darin, einige Zehntausend oder Hunderttausend ausländische Unterdrücker zu vertreiben. Sie lassen sich von den inneren Unterdrückern nicht unterscheiden, und die letzteren wollen sich um so weniger von den ersteren trennen, je machtvoller der Druck der werktätigen Massen wird. Wie in Russland die Beseitigung des Zarismus samt seiner Verschuldung gegenüber dem internationalen Finanzkapital nur deshalb möglich war, weil für die Bauernschaft der Sturz der Monarchie unweigerlich aus dem Sturz des gutsherrlichen Landbesitzes erwuchs, so wird auch in Indien der Kampf gegen die imperialistischen Unterdrücker für die ungezählten Massen der versklavten und verarmten Bauernschaft aus der Notwendigkeit erwachsen, die feudalen Landherren, ihre Agenten und Mittelsmänner, ihre Beamten und Wucherer zu beseitigen. Der indische Bauer will eine »gerechte« Verteilung des Bodens. Das ist die Grundlage seines Demokratismus. Und das ist zugleich die soziale Basis der demokratischen Revolution überhaupt.

In den ersten Stadien ihres Kampfes nimmt die unwissende, unerfahrene und isolierte Bauernschaft, die in einzelnen Dörfern einzelnen Vertretern des feindlichen Regimes gegenübersteht, immer Zuflucht zu passivem Widerstand: sie zahlt keine Pacht, zahlt keine Steuern, flieht in den Wald oder in die Steppe, um der Rekrutierung zu entgehen usw. In diesem Sinne war Tolstois Programm des passiven Widerstandes die Formulierung der ersten Stadien des revolutionären Erwachens der bäuerlichen Massen. Gandhi tut das gleiche in Bezug auf die indischen Volksmassen. Je »aufrichtiger« er selbst ist, desto vorteilhafter ist er für die Eigentümer als Werkzeug zur Disziplinierung der Volksmassen. Die Unterstützung des »friedlichen« Widerstandes gegen den Imperialismus durch die Bourgeoisie ist nur die Voraussetzung ihres blutigen Widerstandes gegen die revolutionären Massen.

Die Bauernschaft ist in der Geschichte wiederholt von passiven Formen des Kampfes zum heftigsten und blutigsten Krieg gegen ihre unmittelbaren Feinde übergegangen: den Gutsbesitzer, den Beamten, den Wucherer. Das europäische Mittelalter war von solchen Bauernkriegen durchzogen; aber es war auch Schauplatz der erbarmungslosen Repression all dieser Bauernkriege. Wie der passive Widerstand der Bauernschaft, so können auch ihre blutigen Aufstände nur unter Führung einer städtischen Klasse in eine Revolution umgewandelt werden, die dadurch zum Führer der revolutionären Nation wird – und nach dem Sieg zum Träger der revolutionären Macht. Eine solche Klasse kann in der gegenwärtigen Epoche auch im Osten nur das Proletariat sein.

Nun nimmt das indische Proletariat einen zahlenmäßig noch geringeren Anteil an der Gesamtbevölkerung ein als das russische Proletariat am Vorabend von 1905 und auch von 1917. Diese relativ geringe Zahl der Proletarier war das Hauptargument aller Philister, aller Martynows, aller Menschewiki im Kampf gegen die Perspektive der permanenten Revolution. Sie hielten allein schon den Gedanken für völlig phantastisch, dass das russische Proletariat, nachdem es die Bourgeoisie beiseite geschleudert hätte, sich der bäuerlichen Agrarrevolution bemächtigen, ihr kühnen Schwung verleihen und sich auf dieser Welle zur revolutionären Diktatur erheben würde. Statt dessen hielten sie die Hoffnung für völlig real, dass die liberale Bourgeoisie, gestützt auf die Volksmassen in Stadt und Land, die demokratische Revolution zu Ende führen werde. Aber es zeigte sich, dass man aus der bloßen Sozialstatistik der Bevölkerung noch längst nicht die ökonomische oder politische Rolle der einzelnen Klassen ableiten kann. Die Oktoberrevolution hat dies sehr überzeugend und ein für allemal praktisch bewiesen.

Wenn das indische Proletariat heute zahlenmäßig schwächer ist als das russische, so ist dadurch allein keineswegs vorherbestimmt, dass sein revolutionäres Potential ein geringeres ist. Auch die zahlenmäßige Schwäche des russischen Proletariats im Vergleich zum amerikanischen oder englischen war kein Hindernis für die Diktatur des Proletariats in Russland. Im Gegenteil: Die sozialen Besonderheiten, welche die Oktoberrevolution möglich und unvermeidlich machten, existieren in noch ausgeprägterer Form in Indien. In diesem Land von pauperisierten Bauern tritt die Hegemonie der Stadt nicht weniger deutlich zutage als im zaristischen Russland. Die konzentrierte Macht von Industrie, Handel und Banken in den Händen der Großbourgeoisie (vor allem der ausländischen) einerseits und das rasche Entstehen eines deutlich ausgeprägten modernen Proletariats andererseits schließen die Möglichkeit einer selbständigen Rolle des städtischen Kleinbürgertums, insbesondere der Intelligenz, aus; die politische Mechanik der Revolution führt daher zum Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie um die Führung der bäuerlichen Massen. Bislang fehlt »nur« eine einzige Voraussetzung: eine bolschewistische Partei. Und darin besteht jetzt das ganze Problem.

Wir waren Zeugen, wie die Führung Stalins und Bucharins die menschewistische Konzeption einer demokratischen Revolution in China durchgesetzt hat. Ausgerüstet mit einem machtvollen Apparat, verfügte sie über die Möglichkeit, die menschewistischen Formeln in die Praxis umzusetzen, und sah sich dann gezwungen, bis zur letzten Konsequenz dabei zu bleiben. Um der Bourgeoisie in der bürgerlichen Revolution eine führende Rolle zu garantieren (das ist die Grundidee des russischen Menschewismus), verwandelte die Stalinsche Bürokratie die junge kommunistische Partei Chinas in einen untergeordneten Teil der national-bürgerlichen Partei, wobei die Kommunisten nach dem Statut, das offiziell zwischen Stalin und Tschiang Kaischek (durch Vermittlung des heutigen Volkskommissars für Bildung, Bubnow) abgestimmt wurde, nicht mehr als ein Drittel der Positionen in der Guomindang einnehmen durften. Die Partei des Proletariats trat somit als offizielle Gefangene der Bourgeoisie in die Revolution ein – mit dem Segen der Komintern. Das Resultat ist bekannt: Die Stalinsche Bürokratie hat die chinesische Revolution erwürgt. In der Geschichte hat es vielleicht noch kein politisches Verbrechen dieser Dimension gegeben.

Für Indien, wie überhaupt für alle Länder des Ostens, hat Stalin 1924 – gleichzeitig mit der reaktionären Ideologie des Sozialismus in einem Lande – die nicht weniger reaktionäre Losung einer »kombinierten Arbeiter-und-Bauernpartei« ausgegeben. Das war nur eine andere Formulierung für den Verzicht auf eine selbständige Politik und eine selbständige Partei des Proletariats. Der unglückliche Roy wurde seit jener Zeit zum Apostel der klassenübergreifenden und über den Klassen stehenden »Volks-« oder »demokratischen« Partei. Die Geschichte des Marxismus, die Geschichte des 19. Jahrhunderts, die Erfahrungen der drei russischen Revolutionen – aus all dem haben diese Herren nichts gelernt. Sie haben bis heute nicht begriffen, dass eine »Arbeiter-und-Bauernpartei« nur in Form der Guomindang denkbar ist, d. h. in Form einer bürgerlichen Partei, die die Arbeiter und Bauern führt, um sie später zu verraten und zu zertreten. Einen anderen Typ einer über oder zwischen den Klassen stehenden Partei hat die Geschichte noch nicht erfunden. Nicht umsonst war Roy Stalins Agent in China, der Prophet des Kampfes gegen den »Trotzkismus«, der Promotor des Martynowschen »Blocks der vier Klassen«, um dann nach der unvermeidlichen Niederlage der chinesischen Revolution zum rituellen Sündenbock für die Verbrechen der Stalin-Bürokratie gemacht zu werden.

Sechs Jahre sind in Indien auf die lähmenden und demoralisierenden Experimente zur Realisierung des Stalinschen Rezepts einer kombinierten Arbeiter-und-Bauernpartei verwandt worden. Das Resultat ist klar: Die kraftlosen, provinziellen Arbeiter-und-Bauern-»Parteien« schwanken, stolpern, schmelzen dahin oder reduzieren sich auf Null – gerade in dem Moment, in dem sie handeln müssten, nämlich im Zeitpunkt eines revolutionären Aufschwungs. Eine proletarische Partei gibt es aber nicht; sie im Feuer der Ereignisse zu schaffen, steht noch bevor, wobei zunächst einmal der Abfall beseitigt werden muss, der von der herrschenden Bürokratie aufgetürmt worden ist. So ist die Lage! Seit 1924 hat die Führung der Komintern alles getan, was man nur tun konnte, um dem indischen Proletariat die Kraft zu nehmen, den Willen seiner Avantgarde zu schwächen und ihm die Flügel zu stutzen.

Während Roy und andere Stalin-Lehrlinge wertvolle Jahre vergeudet haben, um ein »demokratisches« Programm für eine klassenübergreifende Partei auszuarbeiten, hat die nationale Bourgeoisie dieses Durcheinander bestens genutzt, um die Kontrolle über die Gewerkschaften zu übernehmen. Eine »Guomindang« gibt es in Indien nicht politisch, aber gewerkschaftlich, allerdings mit dem Unterschied, dass ihre Schöpfer schon vor dem Werk ihrer eigenen Hände erschrecken, abspringen und dabei auf die »ausführenden Organe« schimpfen.

Diesmal sind die Zentristen, wie bekannt, nach »links« gesprungen. Aber dadurch wurde es nicht besser. Die offizielle Position der Komintern zur Frage der indischen Revolution ist gegenwärtig ein schändlicher Wirrwarr, wie eigens dafür gemacht, die proletarische Avantgarde aus dem Konzept zu bringen und zur Verzweiflung zu treiben. Mindestens zur Hälfte geschieht dies, weil die Führung ihre gestrigen Fehler bewusst und böswillig vertuschen will. Die andere Hälfte dieses Wirrwarrs rührt von der verhängnisvollen Natur des Zentrismus her.

Wir haben jetzt nicht das Programm der Komintern im Blick, das der kolonialen Bourgeoisie eine revolutionäre Rolle zuweist und damit die Konstruktionen von Brandler und Roy voll und ganz rechtfertigt, die jetzt den alten Kaftan von Martynow-Stalin auftragen. Wir sprechen auch nicht von den ungezählten Ausgaben der Stalinschen Fragen des Leninismus, in denen in allen Weltsprachen weiterhin die kombinierten Arbeiter-und-Bauern-Parteien propagiert werden. Nein, wir beschränken uns auf die heutige, allerneueste Fragestellung, die der »dritten Periode« der Komintern-Fehler im Osten entspricht.

Die zentrale Losung der Stalinisten bleibt für Indien, wie für China, die demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern. Niemand weiß und niemand erklärt, denn niemand begreift, was diese Formel heute, im Jahr 1930, nach den Erfahrungen der letzten 15 Jahre bedeutet. Worin soll sich die demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern von der Diktatur der Guomindang unterscheiden, die die Arbeiter und Bauern abgeschlachtet hat? Die Manuilski und Kuusinen werden vielleicht antworten, dass es bei ihnen jetzt um die Diktatur dreier Klassen geht (Arbeiter, Bauernschaft und städtisches Kleinbürgertum) und nicht um die der vier Klassen, wie seinerzeit in China, wo Stalin seinen Verbündeten Tschiang Kaischek so glücklich in diesen Block einbezogen hatte.

Wenn das so ist, antworten wir: Unterziehen Sie sich der Mühe, uns zu erklären, warum Sie sich in Indien von der nationalen Bourgeoisie lossagen, d. h. von dem Verbündeten, wegen dessen Ablehnung Sie in China Bolschewiki aus der Partei ausgeschlossen und ins Gefängnis geworfen haben? China ist ein halbkoloniales Land, und in China gibt es nicht die mächtige Schicht von Feudalherren und feudalen Agenten. Indien hingegen ist ein klassisches koloniales Land mit dem machtvollen Erbe einer Kasten- und Feudalstruktur. Wenn Martynow und Stalin die revolutionäre Rolle der chinesischen Bourgeoisie daraus abgeleitet haben, dass in China ausländische Unterdrückung und leibeigenschaftliche Überreste existieren, so kommt jedem dieser beiden Gründe für Indien doppelte Kraft zu. Das bedeutet, dass die indische Bourgeoisie, genau dem Programm der Komintern entsprechend, ungleich mehr Recht hat, ihre Aufnahme in den Stalinschen Block zu fordern, als die chinesische Bourgeoisie mit ihrem unvergessenen Tschiang Kaischek und dem »loyalen« Wang Jingwei. Wenn das aber nicht stimmt, wenn trotz des Jochs des britischen Imperialismus und trotz des ganzen mittelalterlichen Erbes die indische Bourgeoisie nur zu einer konterrevolutionären, nicht aber zu einer revolutionären Rolle taugt, dann verurteilen Sie schonungslos Ihre verräterische Politik in China und korrigieren Sie unverzüglich Ihr Programm, in dem diese Politik verborgene, aber gefährliche Spuren hinterlassen hat!

Damit ist die Frage aber nicht erledigt. Wenn Sie in Indien einen Block ohne die Bourgeoisie und gegen sie bilden, wer wird ihn dann führen? Die Manuilski und Kuusinen werden vielleicht mit der ihnen eigenen edlen Empörung antworten: »Natürlich das Proletariat!« Gut, antworten wir, das ist sehr lobenswert. Aber wenn sich die indische Revolution auf der Grundlage eines Bündnisses der Arbeiter, der Bauern und der kleinen Leute in den Städten entwickelt; wenn sich dieses Bündnis nicht nur gegen den Imperialismus und Feudalismus, sondern auch gegen die in allen wesentlichen Fragen mit ihnen verbündete nationale Bourgeoisie richten wird; wenn an der Spitze dieses Bündnisses das Proletariat stehen wird; wenn dieses Bündnis nur dann zum Sieg gelangen kann, wenn es die Feinde auf dem Wege eines bewaffneten Aufstands vernichtet und dadurch das Proletariat zur wirklichen gesamtnationalen Führungskraft macht, so fragt es sich: In wessen Händen wird sich die Macht nach dem Sieg befinden, wenn nicht in den Händen des Proletariats? Was bedeutet in diesem Falle aber die demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern im Unterschied zur Diktatur des Proletariats, das die Bauern führt? Mit anderen Worten: Wodurch wird sich eine hypothetische Diktatur der Arbeiter und Bauern, ihrem Typus nach, von der realen Diktatur unterscheiden, wie sie durch die Oktoberrevolution errichtet worden ist?

Auf diese Frage gibt es keine Antwort. Und auf diese Frage kann es keine Antwort geben. Im Verlauf der historischen Entwicklung ist die Formel der »demokratischen Diktatur« nicht nur zu einer leeren Fiktion, sondern zu einer verräterischen Falle für das Proletariat geworden. Eine schöne Losung, die die Möglichkeit zweier diametral entgegengesetzter Interpretationen eröffnet: im Sinne der Diktatur der Guomindang und im Sinne der Diktatur des Oktobers! Ein Sowohl-Als-auch kann es nicht geben. In China haben die Stalinisten die demokratische Diktatur zweifach ausgelegt, zuerst als Diktatur der rechten, dann der linken Guomindang. Wie legen sie sie für Indien aus? Sie schweigen. Sie sind gezwungen zu schweigen aus Furcht davor, ihren Anhängern die Augen für ihre Verbrechen zu öffnen. Diese Verschwörung des Schweigens ist faktisch eine Verschwörung gegen die indische Revolution. Und der ganze gegenwärtige extrem linke Lärm verbessert die Lage nicht im geringsten, denn Siege der Revolution werden nicht durch Lärm und großspurige Reden herbeigeführt, sondern durch politische Klarheit.

Doch auch damit ist der Wirrwarr noch nicht zu Ende. Nein, neue Fäden haben sich in das Knäuel verwickelt. Indem unsere Strategen der Revolution einen abstrakt-demokratischen Charakter zusprechen und ihr nur gestatten, zur Diktatur des Proletariats überzugehen, nachdem eine gewisse mystische oder mystifikatorische »demokratische Diktatur« errichtet worden ist, verwerfen sie zugleich die zentrale politische Losung einer jeden revolutionär-demokratischen Bewegung, die Losung einer Konstituierenden Versammlung. Warum? Mit welcher Begründung? Das ist völlig unverständlich! Die demokratische Revolution bedeutet für den Muschik Gleichheit – vor allem Gleichheit bei der Verteilung des Bodens. Darauf basiert die Gleichheit der Rechte. Die Konstituierende Versammlung, in der formal die Vertreter des ganzen Volkes mit der Vergangenheit abrechnen, faktisch aber die Klassen miteinander abrechnen, ist die natürliche und unvermeidliche Verallgemeinerung der demokratischen Aufgaben der Revolution nicht nur im Bewusstsein der erwachenden Massen der Bauernschaft, sondern auch im Bewusstsein der Arbeiterklasse selbst. Darüber haben wir in Bezug auf China ausführlich genug gesprochen und sehen hier keine Notwendigkeit, uns zu wiederholen. Wir fügen nur hinzu, dass die bunte Palette der indischen Provinzen, die Vielfalt der staatlichen Formen und ihre nicht minder vielfältige Verknüpfung mit feudalen Kastenverhältnissen der Losung der Konstituierenden Versammlung in Indien eine besonders radikale revolutionär-demokratische Bedeutung geben.

Der Theoretiker der indischen Revolution in der KPdSU ist jetzt Safarow, der als Preis für seine glückliche Kapitulation seine schädliche Tätigkeit ins Lager des Zentrismus verlegen konnte. In einem programmatischen Aufsatz über die Triebkräfte und Aufgaben der Revolution in Indien in der Zeitschrift Bolschewik umgeht Safarow sehr vorsichtig die Frage nach der Konstituierenden Versammlung, etwa so, wie eine erfahrene Maus das Stückchen Käse in der Falle umgeht. Dieser Soziologe möchte um nichts in der Welt noch einmal in die »trotzkistische« Mausefalle geraten. Er löst das Problem ohne große Zeremonien und stellt der Konstituierenden Versammlung die folgende Perspektive entgegen:

»Die Entwicklung eines neuen revolutionären Aufschwungs auf der Basis (!) des Kampfes um die proletarische Hegemonie führt zu der Schlussfolgerung (welcher?, wie?, warum?), dass die Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft in Indien nur in Form der Räte verwirklicht werden kann.«

Bemerkenswerte Zeilen! Martynow, mit Safarow multipliziert. Martynow kennen wir, aber über Safarow hat Lenin nicht ohne Zärtlichkeit gesagt: »Safartschik verlinkst, Safartschik verdummt«. Safarows oben zitierte Perspektive wird diese Charakteristik nicht widerlegen. Safarow ist beträchtlich nach links gerückt, und man muss sagen..., dass er auch die zweite Hälfte von Lenins Charakteristik nicht widerlegt. Angefangen damit, dass bei ihm der revolutionäre Aufschwung der Volksmassen sich »auf der Basis« des Kampfes der Kommunisten um die proletarische Hegemonie entwickelt. Der gesamte Prozess wird auf den Kopf gestellt. Wir meinen hingegen, dass die proletarische Avantgarde den Kampf um die Hegemonie auf der Basis eines neuen revolutionären Aufschwungs beginnt, beginnen wird oder beginnen muss. Die Perspektive des Kampfes ist, nach Safarow, die Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft. Hier ist, um den Anschein linker Argumentation zu erwecken, das Wort »demokratische« weggelassen worden, aber es wird nicht klar gesagt, was das für eine »kombinierte« Diktatur ist: eine vom Typus der Guomindang oder aber eine vom Typus des Oktobers? Statt dessen wird mit Ehrenwort versichert, dass diese Diktatur »nur in Form der Räte« verwirklicht werden kann. Das klingt sehr kühn! Und wozu die Losung der Konstituierenden Versammlung, wo sich Safarow doch nur mit der Räte-»Form« zufrieden geben will?!

Das verächtliche und gefährliche Wesen des Epigonentums besteht darin, dass es die realen Prozesse der Vergangenheit und ihre Lehren formalisiert und aus den Formeln einen Fetisch macht. So ist es mit den Räten gegangen. Ohne uns etwas über den Klassencharakter der Diktatur zu sagen – Diktatur der Bourgeoisie über das Proletariat, wie bei der Guomindang, oder Diktatur des Proletariats über die Bourgeoisie, wie im Oktober? –, tröstet Safarow irgend jemanden, vor allem wohl sich selbst, mit der Räteform der Diktatur. Als ob nicht auch Räte ein Mittel zum Betrug an Arbeitern und Bauern sein könnten! Was waren die menschewistisch-sozialrevolutionären Sowjets des Jahres 1917 anderes? Nichts, aber auch gar nichts als ein Mittel zur Unterstützung der Macht der Bourgeoisie und zur Vorbereitung von deren Diktatur. Was waren die sozialdemokratischen Räte in Deutschland und in Österreich in den Jahren 1918/1919? Organe zur Rettung der Bourgeoisie und zum Betrug an den Arbeitern. Bei einer weiteren revolutionären Entwicklung in Indien, bei einem größeren Aufschwung der Massenkämpfe und angesichts der Schwäche der kommunistischen Partei – die unvermeidlich ist, solange das Safarowsche Durcheinander in den Köpfen herrscht – kann die nationale indische Bourgeoisie sogar Arbeiter-und-Bauernräte bilden, um sie zu führen, so wie sie jetzt die Gewerkschaften führt, um auf diese Weise die Revolution abzuwürgen, wie das die deutsche Sozialdemokratie gemacht hat, die an der Spitze der Räte stand. Darin besteht doch der verräterische Charakter der Losung der demokratischen Diktatur, dass sie den Feinden eine solche Möglichkeit nicht konsequent und ein für allemal versperrt.

Der indischen Kommunistischen Partei, deren Entstehen um sechs Jahre – und was für Jahre! – verzögert worden ist, nimmt man jetzt, unter den Bedingungen eines revolutionär-demokratischen Aufschwungs, eines der wichtigsten Mittel zur Mobilisierung der Massen, nämlich die Losung einer demokratischen Konstituierenden Versammlung. Statt dessen unterschiebt man der jungen Partei, die noch nicht einmal ihre ersten Schritte getan hat, die abstrakte Losung der Räte als Form einer abstrakten Diktatur, d. h. einer Diktatur, deren Klassensubjekt unbekannt bleibt. Wahrlich eine Apotheose des Durcheinanders! Und all das wird, wie gewöhnlich, begleitet von widerlicher Schönfärberei und von süßen Worten über eine immer noch sehr schwierige und keineswegs süße Lage.

Die offizielle Presse und insbesondere derselbe Safarow stellen die Sache so dar, als ob der bürgerliche Nationalismus bereits ein Leichnam sei und als ob der Kommunismus die Führung des Proletariats bereits erobert habe oder aber erobern werde, das seinerseits schon beinahe die Bauern anführt. Die Führer und ihre Soziologen verwechseln in ganz unverantwortlicher Weise Wunsch und Wirklichkeit. Richtiger gesagt: Sie geben das, was mit einer richtigen Politik im Verlauf der letzten sechs Jahre hätte erreicht werden können, für das aus, was sich faktisch als Resultat einer falschen Politik ergeben hat. Wenn dann der Widerspruch zwischen Einbildung und Wirklichkeit deutlich wird, gibt man den indischen Kommunisten die Schuld – sie seien schlechte Vollstrecker einer Generalinsolvenz, die als Generallinie ausgegeben wird.

Die Avantgarde des indischen Proletariats beginnt erst mit der Lösung ihrer großen Aufgaben. Vor ihr liegt ein weiter Weg. Die Reihe von Niederlagen ist der Preis nicht nur für die allgemeine Rückständigkeit des Proletariats und der Bauernschaft, sondern auch für die Sünden der Führung. Die Hauptaufgabe besteht jetzt darin, eine klare marxistische Konzeption für die Triebkräfte der Revolution zu entwickeln, eine richtige Perspektive und eine weitsichtige Politik, die die alten Muster, Schablonen und bürokratischen Vorlagen beiseite schiebt und bei der Verwirklichung der großen revolutionären Aufgaben den realen Etappen des politischen Erwachens und des revolutionären Wachstums der Arbeiterklasse sensibel Rechnung trägt.

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