Leo Trotzki 19240618 Die sowjetisch-japanischen Beziehungen

Leo Trotzki: Die sowjetisch-japanischen Beziehungen

Interview des Genossen Tomisi Naito, Vorsitzender der Gesellschaft Nitschiro Soofukai, mit dem Genossen Trotzki

[Nach Schriften 2.1, Hamburg 1990, S. 75-79, dort mit umfangreichen Fußnoten]

Sehr geehrter Genosse Tomisi Naito,

die Mitgliedschaft in der russisch-japanischen Gesellschaft für gegenseitige Hilfe, die während des Aufenthalts von Genosse Joffe in Japan gegründet worden ist, nehme ich dankbar an. Zugleich nutze ich die Gelegenheit, um in aller Offenheit auf Ihre Fragen zu antworten.

1. Sie fragen, worin man vor allem eine Bedrohung der Beziehungen zwischen Japan und Sowjetrussland sehen könnte: in der Politik der japanischen Regierung oder überhaupt im gesamten japanischen Staatswesen, oder gar in Fehlern des japanischen Nationalcharakters.

Um zunächst mit der Frage nach den »Fehlern des Nationalcharakters« aufzuräumen: das ist die Position des Chauvinismus, die Position der amerikanischen Bourgeoisie, die den Japanern den Zutritt zu den Vereinigten Staaten verwehrt. Wir Kommunisten hegen unversöhnliche Feindschaft gegen jede Art und alle Erscheinungsformen von Chauvinismus. Natürlich lässt sich nicht abstreiten, dass sich bei den verschiedenen Völkern infolge ihrer besonderen historischen Entwicklung nationale psychologische Eigenarten herausgebildet haben. Doch erstens ändern sich diese Züge bei jedem Volk mit den Veränderungen der gesellschaftlichen Bedingungen. Die rasche Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse in Japan hat dieses Land außerordentlich schnell der ganzen übrigen kapitalistischen Welt angenähert. Jedenfalls sind die werktätigen Massen aller Länder, auch die Japans, gleichermaßen daran interessiert, Schluss zu machen mit der Ausbeutung und freundschaftliche Beziehungen zwischen allen Völkern herzustellen. Mögen die »weißen« Chauvinisten auch noch so ohrenbetäubend heulen und kläffen – nirgendwo und von niemandem ist je bewiesen worden, dass der Charakter der gelben Rasse schlechter sei als der der weißen.

Also schließen wir, dass sich in der Politik der japanischen Regierung immer die Interessen und Pläne kleiner, doch sehr einflussreicher Gruppen der besitzenden Klassen widergespiegelt haben und dass sie sich deshalb als Bedrohung der gutnachbarlichen Beziehungen zwischen Japan und der Sowjetunion erwiesen hat. Daraus folgt, wie mir scheint, dass Japan einer tiefgreifenden Demokratisierung seiner Gesellschaftsstruktur, seines Staatswesens und folglich auch seiner Außenpolitik bedarf.

2. Sie fragen, was für die Festigung der Freundschaft zwischen Japan und Russland wichtiger sei – die kulturelle, die politische oder die wirtschaftliche Zusammenarbeit.

Wie ich aus dem erläuternden Schreiben der russisch-japanischen Gesellschaft für gegenseitige Hilfe ersehe, setzt sie sich in erster Linie aus Professoren, Rechtsanwälten, Gelehrten, Journalisten, Künstlern, Schriftstellern und überhaupt aus Vertretern der sogenannten freien Berufe oder, wie man bei uns sagt, der Intelligenzija zusammen. Allein schon aufgrund dieser Zusammensetzung sollte die Gesellschaft ihre Bemühungen in erster Linie auf eine kulturelle Annäherung der beiden Länder konzentrieren. Grundvoraussetzung für eine Annäherung ist die regelmäßige gegenseitige Information. Wie Sie wissen, vermitteln jedoch die internationalen kapitalistischen Nachrichtenagenturen nicht nur Informationen, sondern verbreiten auch ungeheuerliche Lügen, vor allem über die Sowjetunion. Wir werden dafür sorgen, dass Japan die Wahrheit über Sowjetrussland erfährt und dass auch unsere Öffentlichkeit wahrheitsgemäß und vollständig über alle Vorgänge und Bestrebungen der verschiedenen Klassen, Parteien und Gruppen Japans informiert wird. Wir werden alle Bücher und einzelne Aufsätze, die für beide Völker von Nutzen sein könnten, vom Japanischen ins Russische und vom Russischen ins Japanische übersetzen.

Was die wirtschaftliche Zusammenarbeit angeht, so liegt der Schlüssel dazu vor allem bei den kapitalistischen Gruppen Japans, nicht bei der Intelligenz. Doch wenn es der japanischen Demokratie gelingt, die politische Annäherung zwischen beiden Staaten zu gewährleisten und zu konsolidieren, dann wird das auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit erleichtern.

3. Sie schreiben, dass die japanische Jugend jetzt vor der Notwendigkeit stehe, ihre Haltung zur künftigen asiatischen Revolution festzulegen, und fragen in diesem Zusammenhang um Rat. Ich will dazu nur einen Gedanken äußern, der mir in diesem Zusammenhang der allerwichtigste zu sein scheint; sehr wahrscheinlich sage ich Ihnen damit nichts Neues. Dass die japanische Jugend mit den unterdrückten Völkern des Ostens fühlt, ist vollkommen verständlich, natürlich und erfreulich. Doch wenn dieses Mitgefühl formlos, unbestimmt, sentimental bleibt, dann wird es den unterdrückten Kolonialvölkern wenig nützen; im Gegenteil, unter gewissen Umständen kann es sogar ungewollt die japanischen Imperialisten unterstützen. Das mag auf den ersten Blick unwahrscheinlich erscheinen, dennoch ist es so. Der japanische Imperialismus als Ausdruck der Interessen der japanischen Feudalherren, der höheren Bürokratie und vor allem des japanischen Großkapitals trachtet danach, sich die Völker Asiens zu unterwerfen, angefangen bei China. Er liebt die Formel: »Asien den Asiaten!« Doch verstehen die japanischen Imperialisten diese Formel nicht in dem Sinne, dass jedes asiatische Volk ein Recht auf Selbstbestimmung hat, vielmehr so, dass das Recht auf Ausbeutung der werktätigen Massen Asiens allein der asiatischen Bourgeoisie, d.h. in erster Linie der japanischen als der reichsten und stärksten, gebührt. Keinen Moment darf man die Augen davor verschließen, dass die Losung »Asien den Asiaten«, die auf den ersten Blick eine Losung der Befreiung zu sein scheint, in gleichem Maße zum Werkzeug des japanischen Imperialismus geworden ist wie die Losung »Amerika den Amerikanern« für den amerikanischen Imperialismus. Derjenige japanische Revolutionär, der das nicht verstanden hat und sich auf allgemeine Phrasen gegen die europäischen und amerikanischen Übergriffe auf Asien beschränkt, unterstützt damit unbewusst den japanischen Imperialismus. Und unter dem Aspekt der sozialen und nationalen Interessen der werktätigen Massen des Ostens ist der japanische Imperialismus nicht weniger gefährlich als jeder andere.

Unsere Lehrer haben einst gesagt, dass jeder russische Revolutionär, der zum Panslawisten geworden ist, damit für die Revolution verloren ist. Der Panslawismus unserer Intelligenz speiste sich aus unklaren, sentimentalen Träumen von der Befreiung aller Slawen vom fremdländischen Joch; zur gleichen Zeit hielt sich der Zarismus für berufen, alle Slawen »zu befreien«, d.h. sie seiner Gewalt zu unterwerfen. So haben diese panslawistischen Revolutionäre dem Zarismus den Boden bereitet und schließlich die letzten Überreste ihrer revolutionären Identität verloren. Einer der größten Verdienste Lenins bestand darin, dass er nicht nur die Handlungen, sondern auch die Reden der Revolutionäre, in denen die panslawischen Ansprüche des Zarismus direkt oder indirekt bestätigt wurden, unbarmherzig geißelte. Allein deshalb brachten alle Nationalitäten des alten Zarenreichs sowie die werktätigen Massen der anderen Länder unserer Partei grenzenloses Vertrauen entgegen.

Dem Imperialismus darf man nicht einmal den kleinen Finger reichen, sonst ergreift er gleich die ganze Hand und damit auch die ganze Seele. Ein Freund der asiatischen Völker ist derjenige japanische Revolutionär, der seine erste Pflicht im Kampf gegen den eigenen Imperialismus sieht und so tatsächlich den Völkern des Ostens hilft, sich von den räuberischen Bestrebungen der japanischen Bourgeoisie und der aller anderen Länder zu befreien.

4. Sie fragen, ob der Kampf der werktätigen Massen des Ostens gegen die kolonialen Unterdrücker die Form eines Krieges annehmen wird.

Es ist schwer, genau vorauszusagen, welche Form der Befreiungskampf im Osten annehmen wird. Aber die Geschichte lehrt, dass weder unterdrückte Klassen noch unterdrückte Völker sich je ohne mannhaften revolutionären Kampf vom Joch befreit haben.

5. Sie fragen, welche Bücher ich zur Übersetzung ins Japanische empfehlen kann. Es fällt mir schwer, eine Antwort zu geben, weil ich den gegenwärtigen Zustand des japanischen Buchmarktes leider zu wenig kenne. Es bedarf keines besonderen Hinweises, dass in erster Linie die klassischen Werke von Marx und Engels, angefangen mit dem KommunistischenManifest, gebraucht werden. Dazu unbedingt eine sorgfältige Auswahl der Werke Lenins, beginnend mit seinen frühesten Arbeiten, die für die Anfangsperiode des revolutionären Kampfes des Proletariats und die Rolle der jungen Intelligenz in diesem Kampf charakteristisch sind. Von erstrangiger Bedeutung für jeden japanischen Revolutionär sind die Arbeiten Lenins zur nationalen Frage: das ist der beste, zuverlässigste Schutz vor dem Gift des Chauvinismus.

Sofern Sie nach meinen eigenen Büchern fragen, erlaube ich mir, darauf hinzuweisen, dass vielleicht das Buch über die Revolution von 1905 (wohl mit einigen Kürzungen) dem japanischen Leser einen gewissen Nutzen bringen kann.

6. Was ist der Unterschied zwischen den imperialistischen Armeen und der Roten Armee? Die Antwort auf diese Frage ist meiner Ansicht nach im Roten Merkblatt enthalten, das ich für die Rote Armee geschrieben habe. Ich lege dieses Merkblatt bei.

Mit freundschaftlichem Gruß

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