Leo Trotzki 19240424 Die UdSSR und Japan

Leo Trotzki: Die UdSSR und Japan

Interview des Korrespondenten der japanischen Zeitung Osaka Mainichi, K. Fusse, mit dem Genossen L. D. Trotzki

[Nach Schriften 2.1, Hamburg 1990, S. 66-69, dort mit umfangreichen Fußnoten]

1. Frage: Obwohl mehrfach Verhandlungen geführt wurden, haben sich die sowjetisch-japanischen Beziehungen in letzter Zeit verschlechtert. 1920 sagte mir Genosse W. I. Lenin bei einem persönlichen Gespräch: »Ungeachtet aller Ereignisse bin ich optimistisch, was unsere künftigen Beziehungen anbelangt.« Ich erführe nun gerne, wie Sie die künftigen Beziehungen zwischen der UdSSR und Japan einschätzen.

Antwort: Sie teilen mir mit, dass Ihnen Genosse W. I. Lenin bei einem persönlichen Gespräch gesagt hat: »Ungeachtet aller Ereignisse bin ich optimistisch, was unsere künftigen Beziehungen anbelangt.« Natürlich wollte Wladimir Iljitsch damit keineswegs sein Vertrauen in die guten Absichten der japanischen Regierung im Jahre 1920 ausdrücken. Gemeint war doch wohl, dass das große japanische Volk es schließlich auch gegen den Widerstand seiner Reaktion schaffen werde, normale, ja freundschaftliche Beziehungen zur Sowjetunion herzustellen. Diesem Gedanken kann ich mich nur anschließen.

2. Frage: Bei den sowjetischen Ostexperten trifft man auf zwei einander widersprechende Ansichten über das heutige Japan: die einen meinen, Japan habe nach der Katastrophe aufgehört, ein imperialistischer Staat zu sein; die anderen sehen im Gegenteil eine Verstärkung des Imperialismus voraus. Auf welchem Wege könnten nach Ihrer Meinung Japan und das japanische Volk sich vom Vorwurf des Imperialismus befreien, der es so oft daran gehindert hat, freundschaftliche Beziehungen zu der großen Völkerfamilie aufzubauen?

Antwort: Ich glaube nicht, dass das Erdbeben den imperialistischen Charakter der Politik der herrschenden Klassen Japans zerstört hat. Der Imperialismus hängt von der Sozialstruktur eines Staates ab, nicht von der geologischen Struktur seines Territoriums. Das Erdbeben hat den Imperialismus vorübergehend in seinen Möglichkeiten geschwächt, nicht aber ihn als politische Methode liquidiert. Ein Gegengewicht zum Imperialismus könnte nur durch die umfassende Demokratisierung des gesellschaftlichen und politischen Lebens in Japan geschaffen werden.

3. Frage: Der Weltkrieg hat der Menschheit eine schreckliche Lehre erteilt. Der Pulvergeruch ist noch kaum verflogen, das Säbelgerassel gerade erst verklungen. Glauben Sie, dass trotz dieser Lehren der Geschichte auch weiterhin bewaffnete Konflikte zwischen den Völkern möglich sind, und aus welchen Gründen könnten sie entstehen?

4. Frage: Die Möglichkeit eines japanisch-amerikanischen Krieges wird von den Militärexperten der ganzen Welt unterschiedlich beurteilt. Die einen halten einen Krieg für unvermeidlich, die anderen für unmöglich. Gestatten Sie mir, an Sie, als die große Autorität, den militärischen Organisator und Schöpfer einer der bedeutendsten Armeen der Welt, die Frage zu richten, für wie wahrscheinlich Sie einen solchen Krieg halten?

Antwort: Kann man denn wirklich glauben, dass »die Lehren der Geschichte« in Gestalt des letzten imperialistischen Krieges neue Kriege verhindern? Nein, ich glaube das ganz und gar nicht. In den Augen von Utopisten ist immer der letzte Krieg die rettende Lehre der Geschichte. Doch hat das die Entstehung des nächsten Krieges noch nie verhindern können. Die Kriege unserer Zeit haben ihre Wurzeln in der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur, die unversöhnliche Interessenkonflikte auf dem Weltschauplatz erzeugt. Im zerstörten Europa stehen bereits jetzt wieder genauso viele Soldaten wie am Vorabend des letzten Krieges. Die Gegensätze in Europa sind heute noch ausgeprägter als vor dem imperialistischen Krieg.

Auch an den Küsten des Stillen Ozeans haben sich die Gegensätze nicht gemildert, sondern verschärft. Ob ich mich denen anschließen kann, die einen Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Japan für unmöglich halten? Nein, dieser Ansicht kann ich mich beim besten Willen nicht anschließen. Die Vereinigten Staaten und Japan sind zwei der mächtigsten kapitalistischen Staaten. Sie verfügen über Streitkräfte und sind durch viele gegensätzliche Interessen entzweit.

Ob ich einen Krieg zwischen den beiden für »unvermeidlich« halte? Nein, nein. Das hängt von der Stärke des Widerstandes ab, der sich gegen die imperialistischen Tendenzen innerhalb dieser beiden Staaten entwickelt.

5. Frage: Nach Meinung breiter gesellschaftlicher Kreise in Japan haben die UdSSR und Japan nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Politik gemeinsame Interessen. Erstens könnte Russland als einziger europäischer Staat Japan in der Frage der Gleichberechtigung der Rassen unterstützen, in der Japan auf der Konferenz von Versailles eine einstimmige Absage erhalten hat; zweitens stimmt die russische Haltung zur Befreiung der Völker des Ostens vom Joch Europas und Amerikas mit der Losung des japanischen Volkes »Asien den Asiaten« überein; drittens sind in China – Nachbar sowohl der UdSSR als auch Japans, die beide an guten Beziehungen zu China interessiert sind –, wegen seiner unsicheren inneren Lage allerlei Überraschungen möglich, weshalb die UdSSR und Japan in ihrer Chinapolitik unbedingt solidarisch handeln müssen.

Glauben Sie, dass diese Gemeinsamkeit der politischen Interessen eine Bedeutung für die zukünftigen sowjetisch-japanischen Beziehungen haben könnte?

Antwort: Ja, sofern es um den Kampf gegen die abstoßenden und beschämenden Bestrebungen geht, die Japaner als niedere Rasse zu behandeln, wird das japanische Volk an der Sowjetunion immer einen treuen, standhaften und uneigennützigen Freund haben. Die Ideologie von höheren bzw. niederen Rassen war nur Ausdruck der Arroganz der herrschenden Klassen des alten Europa in der Zeit, als Asien den Schlaf der Unbeweglichkeit schlief. Doch all das gehört endgültig und vollständig der Geschichte an. Asien ist erwacht. Und sollte Europa noch lange unter den vom Versailler Vertrag geschaffenen Bedingungen weiter faulen, dann wird sich das Zentrum der historischen Entwicklung endgültig nach Amerika und Asien verlagern. Da aber die herrschenden Klassen der Vereinigten Staaten eine unfreundliche oder verächtliche Einstellung zur gelben Rasse kultivieren, verstärken sie die Gefahr neuer blutiger Konflikte von gewaltigen Ausmaßen.

Sie sagen, dass unsere Losung für die Befreiung der Völker des Ostens mit der Losung des japanischen Volkes »Asien den Asiaten« identisch ist. Ja, hier herrscht volle Übereinstimmung, weil wir entschieden gegen die Aufrechterhaltung der Herrschaft und Tyrannei des europäischen Imperialismus über die Völker Asiens eintreten. Doch daraus folgt natürlich keineswegs, dass wir einem einzigen asiatischen Volk das Recht zugestehen, ein anderes asiatisches Volk zu unterdrücken und zu unterjochen. Nein, auch innerhalb eines vom europäischen Joch befreiten Asien treten wir ein für das Selbstbestimmungsrecht aller Nationen.

Früher oder später können normale und stabile Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Japan auf der Basis der Gleichberechtigung beider Seiten, und natürlich nicht auf Kosten irgendeines Dritten, aufgenommen werden.

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