Leo Trotzki 19320229 Interview mit einem Vertreter von American United Press Association

Leo Trotzki: Interview mit einem Vertreter von American United Press Association

[Nach Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 755-759, dort mit umfangreichen Fußnoten]

Japans militärische Aktivitäten in China entwickeln sich wie eine Spirale: ihr Radius vergrößert sich von Monat zu Monat. Das bringt politische und diplomatische Vorteile: Sowohl das eigene Volk wie der Gegner werden allmählich in den Krieg hineingezogen, die übrige Welt wird vor eine Serie vollendeter Tatsachen gestellt. Die Vorgehensweise zeigt, dass die Militärclique im gegenwärtigen Anfangsstadium nicht nur äußere, sondern auch innere Widerstände zu überwinden hat. Unter rein militärischem Gesichtspunkt bringt ein solches Vorgehen »in kleinen Rationen« Nachteile mit sich. Doch offensichtlich gehen die japanischen Regierungskreise davon aus, dass man sich angesichts der militärischen Schwäche Chinas und der unversöhnlichen Gegensätze im Lager der Gegner und Rivalen zunächst den Zeitverlust erlauben kann, der durch das Weiterdrehen der Spirale zustande kommt.

Offensichtlich soll aber dem ersten Stadium – mit oder ohne Pause – ein zweites folgen, d. h. das Stadium eines wirklichen Krieges. Was ist sein politisches Ziel? Die führende Pariser Presse, die die Ideen und Losungen des japanischen Generalstabs fleißig ins Französische übersetzt, hat stets versichert, dass es sich nicht um einen Krieg, sondern um Polizeimaßnahmen handelt. Diese Interpretation, ein notwendiger Bestandteil des Spiralsystems, wird hinfällig, wenn die militärischen Aktionen das notwendige Maß erreicht haben und die Truppen der angreifenden Seite entsprechend ihren Aufgaben gerüstet sind.

Das Ziel Japans ist die Kolonisierung Chinas. Ein grandioses Ziel, aber man muss sogleich sagen: Es übersteigt Japans Kräfte. Japan ist zu spät gekommen: In einer Zeit, da England mit dem Verlust Indiens rechnen muss, kann Japan die Umwandlung Chinas in ein neues Indien nicht gelingen.

Aber kann es nicht auch das politische Ziel der Tokioter Oligarchie sein, einen Schlag gegen die UdSSR zu führen? Es wäre leichtsinnig, einen solchen Plan für ausgeschlossen zu halten. Aber dies Projekt kann nicht im Vordergrund stehen. Erst wenn Japan die Mandschurei erobert und sich in ihr festgesetzt hat, könnte es sich zur Aufgabe stellen, einen Schlag gegen den Nordwesten zu führen. Aber da die sowjetische Regierung einen Krieg nicht will und nicht wollen kann, wird Japan sich seinerseits kaum zu unmittelbar aggressiven Schritten gegenüber der Sowjetunion entschließen, bevor es nicht sein chinesisch-mandschurisches Aufmarschgebiet gesichert und aufgerüstet hat.

Es gibt auch noch eine andere wichtige Überlegung, die in dieselbe Richtung weist. Den Krieg gegen China glaubt die japanische Oligarchie – ob begründet oder nicht, ist eine andere Frage – Stück für Stück, auf Raten, führen zu können: Ein solches Vorgehen soll die Sache auch für den japanischen Finanzminister, den sie ja unmittelbar angeht, akzeptabler machen.

Ein Krieg gegen die Sowjetunion würde Vorbereitungen in ganz anderem Maßstab voraussetzen. Ohne mächtige Verbündete, die in der Lage sind, den Krieg freigiebig zu finanzieren, wird Japan sich kaum erdreisten, die Grenzen der Mandschurei zu überschreiten. In welchem Maße Tokio heute oder morgen mit Kriegsanleihen in Milliardenhöhe rechnen kann, ist in Paris oder New York leichter zu beurteilen als auf Prinkipo.

Alle Versuche, der sowjetischen Regierung aggressive Absichten in Bezug auf den Fernen Osten zuzuschreiben, sind haltlos und müssen in sich zusammenfallen. Ein Krieg wäre ein schwerer Schlag gegen den Wirtschaftsplan, mit dem die ganze Zukunft des Landes aufs engste verknüpft ist. Eine Fabrik, die nicht zu hundert Prozent vollendet ist, ist keine Fabrik. Aber in der Sowjetunion gibt es Hunderte und Tausende von Fabriken, die sich noch im Aufbau befinden. Ein Krieg würde sie für lange Zeit in totes Kapital verwandeln. All das ist zu offensichtlich, als dass man es noch hervorheben müsste

Selbst wenn man annimmt, dass ein militärischer Zusammenstoß im Fernen Osten unvermeidlich ist – und das ist die Überzeugung vieler japanischer, und nicht nur japanischer, Staatsmänner –, hätte die sowjetische Regierung keinerlei Grund, einen Konflikt zu forcieren. Japan hat sich in China auf ein grandioses Unternehmen mit unabsehbaren Folgen eingelassen. Es kann und wird einzelne militärische und diplomatische Erfolge haben, doch nur für kurze Zeit; die Schwierigkeiten hingegen bestehen permanent und werden sogar zunehmen. In Gestalt von Korea hat Japan sein Irland. In China versucht es, sich ein Indien zu schaffen. Nur völlig stumpfsinnige Generale feudalen Typs können die nationale Bewegung in China geringschätzig betrachten. Diese erwachende große Nation mit 450 Millionen Seelen lässt sich nicht mit Hilfe der Luftwaffe in Schach halten. Und in dem fetten Boden der Mandschurei wird Japan bis zu den Knien, wenn nicht bis zum Gürtel versinken. Da in Japan selbst die ökonomische Entwicklung in einen unversöhnlichen Gegensatz zu der feudalen Struktur der Gesellschaft geraten ist, ist eine innere Krise ganz unvermeidlich. Zunächst wird die Sei-yukai-Partei der Minseito-Partei das Feld räumen, die sich nach links entwickelt; dann wird die revolutionäre Partei ihr Haupt erheben ... Frankreich hat bei der Finanzierung des Zarismus große Verluste erlitten. Es irrt, wenn es meint, dadurch sei es gegen Verluste bei der Finanzierung des Mikado versichert. Es ist klar: Im Fernen Osten hat die sowjetische Regierung keinerlei Grund, sich zu beeilen oder nervös zu werden.

Ein Krieg zwischen der UdSSR und Japan könnte also nur dann ausbrechen, wenn Japan, in Abstimmung mit den mächtigeren Verbündeten, bewusst und absichtlich einen Konflikt hervorriefe. Bei einem solchen Krieg stünde natürlich ungleich mehr auf dem Spiel als bei der Frage der Ostchinesischen Eisenbahn und der Mandschurei. Einige französische Zeitungen stellen die voreilige Prognose, der Bolschewismus »werde in den Steppen Sibiriens untergehen«. Sibiriens Steppen und Wälder sind groß, und in ihnen kann vieles untergehen. Aber ist es denn sicher, dass es gerade der Bolschewismus sein wird?

Denkt man über einen möglichen Krieg zwischen den Sowjets und Japan oder zwischen Japan und den Vereinigten Staaten nach, so rückt sogleich das Raum-Problem in den Vordergrund: Die unendliche Weite des Festlandes und die des Wassers als mögliche Arenen für militärische Operationen. Auf den ersten Blick geht das Problem der Strategie völlig in dem des Raums auf. Daraus ziehen viele voreilig ungünstige Schlussfolgerungen für die Sowjetunion: Die dünne Besiedlung der asiatischen Teile der UdSSR, die industrielle Rückständigkeit, die Unzulänglichkeit der Eisenbahnverbindungen – all das seien negative Faktoren auf Seiten der Sowjets. In gewissem Maße stimmt das, aber eben nur in gewissem Maße. Selbst wenn man das Problem auf militärisch-technische Fragen begrenzt, muss man erkennen, dass dieselben Räume auch die Rolle von Verbündeten der Sowjets spielen. Nimmt man militärische Erfolge Japans in der Richtung von Osten nach Westen, so lässt sich leicht vorhersehen, dass die Schwierigkeiten mindestens im Quadrat der von den japanischen Truppen zurückgelegten Entfernung zunehmen würden. Die Erfolge würden sich selbst aufzehren. Und dabei hätte Japan sein Irland und sein Indien im Rücken.

Doch darf man das Problem nicht so borniert sehen. Der Krieg würde ja nicht nur mit militärischen Mitteln geführt. Die Sowjetunion stünde nicht allein. China lebt. Es will und kann um seine Existenz kämpfen. Wer diesen Faktor ignoriert, der wird mit dem Kopf gegen eine Wand stoßen.

Es ist keine leichte Aufgabe, Millionen von Soldaten auf der sibirischen Magistrale zu transportieren und mit allem zu versorgen, was für die Führung eines Krieges nötig ist. Doch könnten bei den gegenwärtig außerordentlich gewachsenen industriellen Möglichkeiten der Sowjetunion notfalls die Mittel für den Eisenbahntransport erheblich gesteigert werden. Das würde natürlich Zeit kosten. Aber ein Krieg der großen Entfernungen wäre unvermeidlich auch ein Krieg in großen Zeiträumen. Womöglich müsste man einen »Fünfjahresplan« für den Krieg ausarbeiten und dementsprechend den Fünfjahresplan der Wirtschaft umbauen. Natürlich würde das der Wirtschaft und der Kultur der Kriegsteilnehmer einen furchtbaren Schlag versetzen. Aber ich gehe von der Hypothese aus, dass es keinen anderen Ausweg gibt. Wenn der Krieg nicht zu vermeiden ist, muss er mit allem Ernst geführt werden, und alle Kräfte und alle Mittel müssen dafür mobilisiert werden.

Eine Teilnahme der Sowjetunion am Krieg würde dem chinesischen Volk neue Perspektiven eröffnen und bewirken, dass es einen gewaltigen nationalen Aufschwung nimmt. Wer die Logik der Situation und die Psychologie der Volksmassen kennt, wird daran nicht zweifeln. China hat Menschen im Überfluss. Millionen Chinesen haben gelernt, mit dem Gewehr umzugehen. Es fehlt ihnen nicht an Kampfeswillen, sondern an einer richtigen, militärischen Ausbildung, an Organisation und System, an einem fähigen Kommando. Die Rote Armee könnte hier äußerst wirkungsvoll Hilfe leisten. Die besten Teile der Armee Tschiang Kaischeks wurden seinerzeit, wie bekannt, unter Führung von sowjetischen Instrukteuren aufgebaut. Die Erfahrungen der Militärschule von Whampoa – auf eine andere politische Grundlage gestellt (diese Frage werde ich hier nicht anschneiden) – könnte man in größtem Stil weiterentwickeln. Die sibirische Eisenbahn transportiert dann, neben der erforderlichen Kampfausrüstung, weniger eine Armee als vielmehr die Quintessenz einer Armee. Wie man aus aufgeweckten und aufgerüttelten Menschenmassen Truppen improvisiert, das haben die Bolschewiki gut gelernt und das können sie noch nicht vergessen haben. Ich zweifle nicht daran, dass man im Verlauf von 12 bis 18 Monaten eine erste Million Kämpfer mobilisieren, ausrüsten, bewaffnen, ausbilden und ins Feuer führen kann, Kämpfer, die von der Ausbildung her den Japanern nicht nachstehen und sie an Kampfbegeisterung übertreffen werden. Die zweite Million braucht keine sechs Monate mehr. Ich spreche von China. Aber darüber hinaus bleiben noch die Sowjetunion, die Rote Armee, ihre grandiosen Reserven ... Nein, die führende französische Presse (die reaktionärste auf der ganzen Welt) hat es zu eilig damit, die Sowjets in den Steppen Sibiriens zu begraben: Blanker Hass ist überhaupt ein schlechter Ratgeber, vor allem, wenn es um eine historische Prognose geht.

Aber wenn die Perspektiven so günstig sind, werden Sie fragen, warum will dann die sowjetische Regierung mit aller Kraft den Krieg vermeiden? Auf diese Frage habe ich schon geantwortet: Im Fernen Osten arbeitet der Faktor Zeit gegen das imperialistische Japan, das seinen Kulminationspunkt bereits überschritten hat und nun seinem Untergang entgegengeht. Außerdem – und das ist nicht weniger wichtig – gibt es auf der Welt nicht nur den Fernen Osten. Der Schlüssel zur Weltlage liegt heute nicht in Mukden, sondern in Berlin. Kommt Hitler an die Macht, dann würde dies für die Sowjetunion eine ungleich größere unmittelbare Gefahr bedeuten als die Pläne der Militäroligarchie in Tokio.

Aber wir haben von Anfang an gesagt, dass wir uns auf die Frage des Fernen Ostens beschränken wollen. Gestatten Sie daher, hiermit zu schließen.

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