Leo
Trotzki: Japan vor der Katastrophe
[Nach
Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 859 f.]
Frage:
Wie wird sich ein militärischer Sieg Japans in China auf das
politische Gleichgewicht im Fernen Osten auswirken?
Antwort:
Ein
tatsächlicher, entscheidender Sieg Japans über China würde die
Vertreibung Großbritanniens aus China bedeuten, die USA würden vor
hermetisch verschlossenen Türen stehen, der fernöstliche Teil der
Sowjetunion wäre direkt bedroht, und im nächsten Stadium auch
Französisch-Indochina und die holländischen Inseln.
Ich glaube jedoch nicht, dass sich ein solcher Plan in die Tat
umsetzen lässt. Wie ich in den vergangenen zehn Jahren mehr als
einmal geschrieben habe, wird der erste große Krieg für Japan in
einer sozialen Katastrophe größten Ausmaßes enden.
Frage:
Wie wird sich das militärische Abenteuer auf die innere politische
und ökonomische Struktur Japans auswirken?
Antwort:
Das
Reich des Mikado birgt in sich die gleichen sozialen Widersprüche,
die seinerzeit das zaristische Reich sprengten: halb feudale
Verhältnisse auf dem Lande; eine Monarchie, die sich aus »göttlichem
Recht« herleitet; die schreckliche Armut des Volkes; ein enger
Binnenmarkt für die Industrie; ein ungeheures Anwachsen des
Militärhaushalts; eine militärische Kaste, die in sich alle inneren
Widersprüche des Landes widerspiegelt; usw. usw.
Frage:
Wie könnte sich die Lage weiter entwickeln, falls die gesamte
japanische Armee auf das Festland entsandt wird – immer vor dem
Hintergrund der Tatsache, dass die japanischen Massen das
China-Abenteuer offenkundig ablehnen?
Antwort:
Bei
der Masse der japanischen Soldaten schlägt sich die tiefe
Unzufriedenheit der japanischen Bauern und Arbeiter nieder. Wie
üblich wird zu Beginn des Krieges die ganze Armee von
chauvinistischer Begeisterung erfasst werden, aber die Gegenreaktion
wird nicht lange auf sich warten lassen.
Großbritannien
gelang es im 20. Jahrhundert nicht mehr, Indien zu erobern; im
Gegenteil, es ist im Begriff, Indien zu verlieren. Japan ist nicht
Großbritannien. China ist stärker als Indien. Der japanische
Imperialismus wird sich bei seinem China-Abenteuer das Genick
brechen.
Frage:
Welche innenpolitischen Faktoren sind für die gegenwärtige,
abwartende Politik Russlands gegenüber dem chinesisch-japanischen
Konflikt bestimmend? Ist Russland gegebenenfalls auf einen Krieg mit
Japan vorbereitet? Hat sich seine Armee von den Auswirkungen der
jüngsten »Säuberung« erholt? Halten Sie die Behauptung für wahr,
die man unlängst in mehreren Veröffentlichungen in den Vereinigten
Staaten lesen konnte, wonach sich Stalin jetzt wieder »fest im
Sattel« fühle und daher zu einem entschiedeneren Vorgehen in Asien
bereit sei?
Antwort:
Stalin
führt einen Bürgerkrieg gegen das Volk. In allen Bereichen des
öffentlichen Lebens – in der Wirtschaft, in der Armee, in der
Literatur usw. – bringen die aufrichtigeren, begabteren, kritischer
denkenden Exponenten die Unzufriedenheit der Massen mit der
demoralisierten bürokratischen Kaste zum Ausdruck. Sie sind es, die
Stalin mittels der GPU systematisch ausrottet. Die Bürokratie ist
zum Haupthindernis für die ökonomische und kulturelle Entwicklung
des Landes geworden. Daher werden der Hydra der Unzufriedenheit immer
neue Köpfe wachsen. Stalins Regime ist zum Untergang verurteilt.
Viele Berichte, die uns in letzter Zeit, ob zensiert oder
»unzensiert«, aus Moskau erreichen, wollen beweisen, dass die
blutige Säuberung Stalins Stellung »gestärkt« habe. Die Verfasser
dieser Berichte haben entweder nichts verstanden, oder sie haben nur
zu gut verstanden.
Stalins
Außenpolitik wird nicht von den Interessen der UdSSR, sondern von
seiner Sorge um die Selbsterhaltung der herrschenden Kaste diktiert.
Stalin hat den Rückzug angetreten und wird weiter zurückweichen.
Der Krieg wird der herrschenden bürokratischen Kaste Zügel anlegen.
Dennoch zweifle ich nicht daran, dass die UdSSR aus einem Krieg im
Fernen Osten als Sieger hervorgehen wird.