Leo Trotzki 19311130 Japans Intervention in der Mandschurei und die Sowjetunion

Leo Trotzki: Japans Intervention in der Mandschurei und die Sowjetunion

[Nach Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 748-754, dort mit umfangreichen Fußnoten]

Die Hilflosigkeit des Völkerbundes in der japanisch-chinesischen Frage übertrifft selbst die Erwartungen der unversöhnlichsten Gegner und Kritiker dieser Institution. Der widersprüchliche Charakter des Völkerbunds – wenn Sie gestatten, würde ich lieber sagen: sein verräterischer Charakter – wird am deutlichsten von Frankreich repräsentiert. Frankreichs offizieller Delegierter, Außenminister Briand, leitet die ganze Friedensaktion, während die gesamte Regierungspresse und vor allem Le Temps die japanische Intervention nach Kräften unterstützt und damit die offizielle Diplomatie Frankreichs desavouiert. Liest man Tag für Tag die Leitartikel von Le Temps, so könnte man glauben, man habe das Organ des Tokioter Generalstabs und nicht des Pariser Außenministeriums vor sich. Der Unterschied zwischen der tatsächlichen Politik des Herrn Briand und den militärischen Operationen des Generals Honjo ist wohl nicht sonderlich groß, wenn die offiziöse französische Presse beide Standpunkte so erfolgreich miteinander vereinbaren kann. An diesem Beispiel sehen wir erneut, dass Frankreich zur Aufrechterhaltung seiner »Versailler« Hegemonie – einer instabilen Hegemonie, da sie nicht dem wirklichen ökonomischen Gewicht des Landes entspricht – gezwungen ist, bei allen reaktionären Elementen in Europa und der Welt Rückhalt zu suchen und an allen Ecken und Enden militärische Gewalt, koloniale Eroberungen usw. zu unterstützen.

Aber der japanisch-chinesische Konflikt, genauer gesagt der japanische Überfall auf China, musste natürlich, bevor er Rückendeckung in Paris fand, Unterstützung in Tokio und in gewissem Umfang auch in Nanjing finden. Die heutige dramatische Entwicklung in der Mandschurei resultiert unmittelbar aus der vernichtenden Niederlage der chinesischen Revolution und aus dem Näherrücken der Revolution in Japan.

Die chinesische Revolution von 1925-1927 war eine Revolution der nationalen Befreiung und brachte gewaltige Massen in Bewegung. Die Partei der Guomindang, die sich der Führung der Bewegung bemächtigt hatte, hat die Revolution schließlich mit militärischen Mitteln unterdrückt. Sie hat nicht zugelassen, dass eine demokratische Nation entsteht, sie hat China geschwächt, den Kampf der Generals-Cliquen Wiederaufleben lassen und dadurch die Raubgier geweckt, vor allem die Japans.

Die militärische Intervention Japans in der Mandschurei ist aber keineswegs Ausdruck der Stärke des gegenwärtigen japanischen Staates. Im Gegenteil, sie wurde von wachsender Schwäche diktiert. Es ist sehr lehrreich, das mandschurische Abenteuer des Zarismus, das zum Krieg von 1904-1905 geführt hat, und das Abenteuer der Regierung des Mikado, dessen Weiterentwicklung ebenso zum Krieg oder richtiger, zu einer Reihe von Kriegen führen muss, in Analogie zu setzen. Die zaristische Regierung stürzte sich seinerzeit auf den Osten, um einen Ausweg aus den unerträglichen inneren Widersprüchen zwischen dem sich entwickelnden Kapitalismus und der archaischen, halb feudalen, ständisch-agrarischen Struktur des Landes zu suchen. Doch hat diese Therapie den Krankheitsverlauf nur beschleunigt und zur ersten russischen Revolution von 1905 geführt.

Die agrarisch-ständische Schicht Japans ist bis heute halb feudal geblieben. Zu Beginn dieses Jahrhunderts konnte sich der Widerspruch zwischen dem jungen japanischen Kapitalismus und dem staatlichen Regime noch nicht entfalten. Im Gegenteil, der Kapitalismus hat die starken alten feudalen Klassen, Institutionen und Traditionen mit Erfolg für seine militärischen Ziele ausgenutzt. Eben diese Verbindung hat Japan 1904/1905 seinen grandiosen Sieg über das zaristische Russland eingebracht.

Seit damals hat sich die Lage radikal geändert. Die kapitalistische Entwicklung hat im letzten Vierteljahrhundert die alten japanischen Verhältnisse und Institutionen, mit dem Mikado an der Spitze, gründlich unterminiert. Die herrschenden Klassen verweisen die japanischen Bauern auf die reichen Ländereien der Mandschurei. Aber die Bauern wollen vorher die Agrarfrage bei sich daheim lösen. Nur auf einer neuen demokratischen Basis kann Japan endgültig eine moderne Nation werden. Die Herren über Japans Schicksal fühlen sich jetzt etwa so, wie sich die Zarenmonarchie zu Beginn dieses Jahrhunderts gefühlt hat. Und die böse Ironie des Schicksals will es, dass das herrschende Japan einen Ausweg aus seinen unerträglichen Widersprüchen in derselben Mandschurei sucht, wo sich die zaristische Monarchie ihre schwere vorrevolutionäre Wunde holte.

Wie sich die Ereignisse im Fernen Osten in den nächsten Tagen oder Wochen entwickeln werden, ist schwer vorherzusagen: Hier sind zu viele widersprüchliche und gegenläufige Faktoren am Werk. Eine konjunkturelle Bilanz zu ziehen, ist um so schwieriger, weil sich die japanische Regierung selbst, als Regierung einer vorrevolutionären Periode, durch

außerordentliche Instabilität und die Neigung zu überraschenden Aktionen auszeichnet. Aber wie sich die Ereignisse in den nächsten Wochen auch immer entwickeln werden, ihr allgemeiner Verlauf lässt sich nahezu unfehlbar voraussehen. Selbst wenn es jetzt gelänge, die Ausweitung der militärischen Operationen zu hemmen und dadurch zu verhindern, dass sie unmittelbar in einen Krieg auf breiter Front übergehen, bedeutete dies nicht mehr als eine Atempause. Das herrschende Japan ist in der Mandschurei gebunden. Der Völkerbund versucht, den Konflikt beizulegen (soweit er das wirklich anstrebt), um den Preis neuer Zugeständnisse an Japan – auf Kosten Chinas. Das bedeutet, dass Japan sich selbst bei günstigem Ausgang seiner jetzigen militärischen Operationen noch stärker in der Mandschurei binden wird. China wird die japanischen »Rechte« in der Mandschurei spüren, wie man einen scharfen Splitter im nackten Fuß spürt. Zwar ist China durch das Treiben der Guomindang-Militärcliquen geschwächt. Aber Chinas nationales Erwachen bleibt ein Faktor von gewaltiger historischer Bedeutung und wird noch an Bedeutung zunehmen. Um seine Positionen zu halten, wird Japan sich in immer neue militärische Expeditionen stürzen müssen. Die Notwendigkeit, neue Truppen zu entsenden, wird wiederum dazu führen, die dadurch anfallenden Kosten durch eine Ausweitung seiner »Rechte«, d. h. durch neue Eroberungen und Gewalttaten zu rechtfertigen. Dieser Prozess hat seine eigene, automatische Logik. Die internationale Lage wird für Japan immer angespannter. Die militärischen Ausgaben werden ständig steigen, wobei das ursprüngliche Kalkulieren mit wirtschaftlichen Vorteilen im Lauf der Ereignisse von militärischen Prestigeerwägungen abgelöst wird. Die Unzufriedenheit im Lande wird zunehmen. Unter diesen Umständen kann die Mandschurei für die japanische Monarchie das werden, was Marokko für die spanische Monarchie geworden ist, nur wesentlich rascher.

Kann die gegenwärtige Verwicklung in der Mandschurei nicht zu einem Krieg zwischen Japan und der Sowjetunion führen? Auf diese Frage kann ich natürlich, wie auf die vorige auch, nur als Beobachter antworten, der nicht in die Pläne und Absichten der Regierungen eingeweiht ist und ausschließlich auf der Grundlage objektiver Indizien und der Logik der Dinge urteilt. Von der sowjetischen Regierung kann jedenfalls absolut ausgeschlossen werden, dass sie einen Konflikt mit Japan wünscht. In dieser Frage ist es außerordentlich lehrreich, die neuesten Tendenzen der französischen offiziösen Presse zu verfolgen. In den ersten Wochen der japanischen Intervention konnte Le Temps gar nicht oft genug wiederholen, nicht Japan müsse man fürchten, sondern die Sowjetunion, die offenbar aggressive Handlungen plane. Telegramme über eine Konzentration sowjetischer Truppen wurden wie aus einem Füllhorn ausgeschüttet. Dadurch erreichte man die notwendige Ablenkung der Aufmerksamkeit und gewann Zeit für die japanischen Militärbehörden. Als sich dann die Schwäche des Völkerbundes mit hinreichender Deutlichkeit offenbart hatte, stellte sich die französische offiziöse Presse die Aufgabe – genauer gesagt, wurde ihr die Aufgabe gestellt –, die Regierungen der Großmächte mit dem Fait accompli auszusöhnen und zu veranlassen, Japan so weit wie möglich entgegenzukommen. Von diesem Augenblick an begann Le Temps zu versichern, von einer Einmischung der UdSSR könne nicht die Rede sein, es handele sich um einen rein lokalen Konflikt, um eine Provinz-Episode, alles werde aufs Beste geregelt, man dürfe sich nicht aufregen und einmischen: Japan wisse sehr wohl selbst, was es in der Mandschurei wolle.

Die französische Presse sucht für ihre beruhigenden Beteuerungen eine Stütze in der »Schwäche« der UdSSR und der Roten Armee. Hierbei bedient sie sich nicht selten der oben erwähnten Analogie mit dem russisch-japanischen Krieg von 1904/1905. Diese Analogie ist sehr aufschlussreich, aber nur unter der Bedingung, dass man dort ein Pluszeichen setzt, wo früher ein Minuszeichen stand, und umgekehrt. Denn wenn das heutige Japan dem Japan zu Beginn des Jahrhunderts überhaupt nicht mehr ähnlich ist, dann gleicht die heutige Sowjetunion dem zaristischen Russland noch weniger. Natürlich ist die sowjetische Revolution noch längst nicht vollendet. In der wirtschaftlichen Entwicklung der Union gibt es viele Widersprüche, die sich unter Umständen in politische Schwierigkeiten verwandeln. Das zu leugnen, hieße Vogel-Strauß-Politik treiben. Aber bei historischen Einschätzungen großen Stils darf man die Proportionen nicht aus dem Blick verlieren und die grundlegenden Fakten über den nebensächlichen nicht vergessen. Die Rote Armee ist das historische Produkt dreier Revolutionen, die die russische Nation, und mit ihr einige verbündete und befreundete Nationen, aufgerüttelt und erzogen haben. Im Falle eines Krieges, dessen Unvermeidlichkeit und Notwendigkeit von den Massen der Bevölkerung der UdSSR verstanden werden wird, wird sich die von drei Revolutionen geweckte Energie in eine gewaltige Kraft verwandeln. Nur Blinde können das nicht sehen!

Zwar ist der fernöstliche Kriegsschauplatz weit entfernt, und die Eisenbahnverbindungen dorthin sind ein großes Problem. In dieser Hinsicht sind Japans Vorteile nicht1 zu bezweifeln. Aber nur in dieser Hinsicht. In jeder anderen läge das entscheidende Übergewicht auf Seiten der UdSSR. Allein schon die Rote Armee wäre der heutigen vorrevolutionären japanischen Armee haushoch überlegen, und schon das könnte von entscheidender Bedeutung sein. Und darüber hinaus würden sich die Operationen in einem Land entfalten, das den Japanern gegenüber außerordentlich feindlich, der Sowjetunion gegenüber aber freundschaftlich eingestellt ist. Denn wenn die Sowjetunion zu einem Krieg gezwungen wäre, so könnte und würde sie ihn nur als Verbündeter des chinesischen Volkes führen, das um seine nationale Befreiung kämpft.

Wie sehr China auch immer durch das Regime seiner Militärmachthaber geschwächt ist – die grandiosen Erschütterungen zweier Revolutionen haben zahllose Elemente des neuen China politisch vorbereitet. Hunderttausende und Millionen von Chinesen verstehen mit der Waffe umzugehen. Der Hunger und das erwachte Nationalgefühl drängen sie zu den Waffen. Schon als Partisanenabteilungen, die für die japanischen Kommunikationswege und einzelne Truppenteile eine ständige Drohung darstellen, können die improvisierten chinesischen Heere jetzt für die Japaner zu einer großen Gefahr werden, die keinesfalls weniger bedrohlich ist als die spanische Guerilla es für Napoleons Okkupationstruppen war. Ein militärisches Bündnis zwischen der Sowjetrepublik und China wäre für Japan eine wahre Katastrophe.

Warum soll dann, werden Sie fragen, die Sowjetunion auf einen Krieg verzichten? Sind denn die friedlichen Erklärungen Moskaus nicht nur ein diplomatischer Deckmantel für ganz unfriedliche Absichten? Nein, das denke ich nicht. Mehr noch: ich halte das für ausgeschlossen. Unabhängig von seinem militärischen Ausgang würde ein Krieg der Sowjetrepublik gewaltige ökonomische Lasten aufbürden, die zu den schon bestehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten hinzukämen. Der ökonomische Aufbau würde stocken, politische Schwierigkeiten wären sehr wahrscheinlich. Unter solchen Bedingungen würde man nur dann in einen Krieg ziehen, wenn es absolut unvermeidlich wäre. Aber das ist es nicht. Im Gegenteil, selbst vom rein militärischen Standpunkt aus hat die sowjetische Regierung nicht den geringsten Grund, irgend etwas zu übereilen oder vorzupreschen. Mit seinem mandschurischen Unternehmen wird Japan sich nur selbst schwächen. Die Bedingungen des Fernen Ostens – die Unermesslichkeit des Raums, die allgemeine ökonomische Rückständigkeit und vor allem das schwach entwickelte Verkehrswesen – sind so beschaffen, dass die Befürchtung vollkommen grundlos ist, von hier aus ginge irgendeine unmittelbare oder auch nur entfernte Gefahr für die Lebenszentren der Sowjetunion, einschließlich ihrer asiatischen Zentren, aus.

Die Frage der Ostchinesischen Eisenbahn, so wichtig sie ist, kann in diesem Zusammenhang nicht von entscheidender Bedeutung für die Festlegung der Politik beider Seiten sein. Die sowjetische Regierung hat wiederholt erklärt, dass sie durchaus bereit ist, die Bahn einer wirklich starken chinesischen Regierung zu übergeben, d. h. einer Regierung, die sich auf das erwachte chinesische Volk stützt. Hätte man die Bahn in den vergangenen Jahren Zhang Zuolin oder Zhang Xueliang übergeben, so hätte das bedeutet, sie direkt oder indirekt Japan in die Hand zu geben, das sie gegen China und gegen die Sowjetunion eingesetzt hätte. Die sowjetische Politik gegenüber der Ostchinesischen Eisenbahn als »Imperialismus« zu interpretieren, heißt, die Dinge im Interesse des aggressiven japanischen Militarismus auf den Kopf zu stellen. Auf jeden Fall aber ist das Problem der Bahnlinie kein isoliertes. Die Bahn ist ein untergeordnetes Element im Problemkontext des Fernen Ostens. Das letzte Wort in dieser Frage wird China selbst sprechen. Dass die flammenden Sympathien der Völker der Sowjetunion dem chinesischen Volk gehören, braucht nicht eigens betont zu werden.

Es wird nicht überflüssig sein hinzuzufügen, dass dem denkenden Politiker, auch dem Gegner, allein schon die gegenwärtige Lage in Europa klar machen muss, dass die Sowjetunion sich nicht wünschen kann und auch nicht wünscht, sich die Hände im Fernen Osten zu binden. Sie werden fragen, was ich damit meine. Ich denke an die Möglichkeit, dass die Nationalsozialisten, d. h. die Faschisten, in Deutschland an die Macht kommen. Würde dies Wirklichkeit, so bedeutete es nach meiner tiefsten Überzeugung die Unvermeidlichkeit eines Krieges zwischen dem faschistischen Deutschland und der Sowjetrepublik. Und das ginge wirklich auf Leben und Tod. Aber das ist ein großes selbständiges Thema, auf das wir vielleicht bei anderer Gelegenheit zurückkommen.

1 Wort ergänzt. Im englischen Text (Writings 1930-31, S. 356-361) steht „indubitable

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