Leo Trotzki 19360318 Stalins Erklärungen und Offenbarungen

Leo Trotzki: Stalins Erklärungen und Offenbarungen

(Auszug)

[Nach Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 824-826, dort mit umfangreichen Fußnoten]

In Stalins Interview mit Roy Howard ist, unter rein praktischem Gesichtspunkt, das Wichtigste die Warnung, die UdSSR werde in jedem Falle militärisch intervenieren, falls Japan in die Mongolische Volksrepublik einfallen sollte. Ist diese Warnung eigentlich richtig? Wir meinen, ja. Nicht nur, weil es sich um die Verteidigung eines schwachen Staats gegen einen imperialistischen Räuber handelt: Wenn man sich ausschließlich von dieser Erwägung leiten ließe, dann müsste die UdSSR mit allen imperialistischen Staaten der Welt ständig Krieg führen. Dazu ist die Sowjetunion zu schwach, und diese Schwäche, so fügen wir gleich hinzu, ist die einzige Rechtfertigung für den »Pazifismus« ihrer Regierung. Aber die Frage der Mongolei betrifft die künftigen strategischen Positionen Japans in einem Krieg gegen die UdSSR. Hier muss man klar entscheiden, bis zu welcher Linie man zurückweicht. Vor einigen Jahren hat die Sowjetunion die Ostchinesische Eisenbahn an Japan abgetreten, ebenfalls eine höchst wichtige strategische Position. Damals wurde dieser Akt von der Komintern als eine freiwillige Bekundung von Pazifismus gepriesen. In Wahrheit handelte es sich um einen aufgezwungenen Akt der Schwäche. Die Komintern hat die chinesische Revolution der Jahre 1925-1927 mit Hilfe der »Volksfront«-Politik zugrunde gerichtet. Dadurch bekamen die Imperialisten freie Hand. Durch das Abtreten der strategisch äußerst wichtigen Bahnlinie hat die sowjetische Regierung es Japan erleichtert, in Nordchina Eroberungen zu machen und heute Anschläge auf die Mongolei zu verüben. Selbst einem Blinden müsste jetzt klar sein, dass es bei der Abtretung der Bahnlinie nicht um abstrakten Pazifismus ging (der in diesem Falle nur Dummheit und Verrat gewesen wäre), sondern um ein ungünstiges Kräfteverhältnis: Die chinesische Revolution war vernichtend geschlagen und weder die Rote Armee noch die Rote Flotte waren kampfbereit. Jetzt hat sich die Lage in militärischer Hinsicht offensichtlich derart zum Besseren gewendet, dass es die sowjetische Regierung für möglich hält, ein kategorisches Veto in der Frage der Mongolei einzulegen. Man kann die Festigung der Positionen der UdSSR im Fernen Osten nur ebenso begrüßen wie die Tatsache, dass die sowjetische Regierung in der Frage nach Japans Fähigkeit, angesichts seiner inneren Widersprüche einen großen und lang dauernden Krieg zu führen, eine kritischere Haltung einnimmt. Hier sei angemerkt, dass die sowjetische Bürokratie, die gegenüber den eigenen Werktätigen sehr mutig ist, angesichts der imperialistischen Gegner leicht in Panik verfällt: Mit dem Proletarier macht der Kleinbürger keine Umstände, aber den Großbourgeois fürchtet er.

Die offizielle Formel der sowjetischen Außenpolitik, von der Komintern breit propagiert, lautet: »Wir wollen keinen Fußbreit fremden Bodens. Aber auch von unserem eigenen Boden werden wir niemand auch nur einen Zollbreit überlassen.« Indessen geht es bei der Mongolei keineswegs um die Verteidigung des »eigenen Bodens«: Die Mongolei ist ein unabhängiger Staat. Die Verteidigung der Revolution, wie sogar aus diesem kleinen Beispiel ersichtlich, reduziert sich nicht auf die Verteidigung von Grenzen. Die wirkliche Methode der Verteidigung besteht darin, die Positionen des Imperialismus zu schwächen und die Positionen des Proletariats und der Kolonialvölker auf der ganzen Welt zu stärken. Ein ungünstiges Kräfteverhältnis kann dazu zwingen, dem Feind zahlreiche »Fußbreit« Boden abzutreten, um die grundlegende Basis der Revolution zu retten – dies war bei Brest-Litowsk der Fall und teilweise auch bei der Ostchinesischen Eisenbahn. Umgekehrt kann ein günstigeres Kräfteverhältnis dem Arbeiterstaat die Verpflichtung auferlegen, den revolutionären Bewegungen in anderen Ländern zu Hilfe zu kommen, und zwar nicht nur moralisch, sondern wenn erforderlich, auch mit Hilfe bewaffneter Kräfte: Befreiungskriege sind Bestandteil von Befreiungsrevolutionen.

An den Erfahrungen mit der Mongolei zerschellt die Ideologie des konservativen Pazifismus, die sich auf die historischen Grenzen wie auf Gesetzestafeln stützt, also vollkommen. Die Grenzen der Sowjetunion sind nur vorläufige Schützengräben des Klassenkampfs. Sie haben nicht einmal eine nationale Rechtfertigung. Das ukrainische Volk – um nur eines von vielen Beispielen zu nennen – ist durch eine staatliche Grenze in zwei Hälften geteilt. Bei einer günstigen Entwicklung der Verhältnisse wäre die Rote Armee verpflichtet, der von den polnischen Henkern unterdrückten Westukraine zu Hilfe zu kommen. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, welchen gigantischen Impuls eine Vereinigung der Arbeiter- und Bauernukraine der revolutionären Bewegung in Polen und in ganz Europa geben würde. Die Grenzen aller Staaten sind nichts als Fesseln für die Produktivkräfte. Die Aufgabe des Proletariats besteht nicht in der Aufrechterhaltung des Status quo, d. h. in einer Verewigung der Grenzen, sondern im Gegenteil in ihrer revolutionären Aufhebung mit dem Ziel der Schaffung von Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas und der ganzen Welt.

Damit aber eine solche internationale Politik, wenn nicht jetzt, dann in der Zukunft, möglich wird, muss sich die Sowjetunion von der Herrschaft der konservativen Bürokratie mit ihrer Religion des »Sozialismus in einem Lande« befreien.

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