Leo Trotzki 19270228 Über Sibirien

Leo Trotzki: Über Sibirien

Rede auf einem Abend der Sibirier am 28. Februar 1927 (Auszug)

[Nach Schriften 2.1, Hamburg 1990, S. 113-119, dort mit umfangreichen Fußnoten]

Die internationale Bedeutung Sibiriens

Sibirien ist das Tor unseres Arbeiterstaates zum Pazifik. Der Pazifik und seine Küsten aber werden immer mehr zum Schauplatz der Gegenwartsgeschichte. Zur Zeit ist Sibirien noch tiefstes Hinterland der Sowjetunion. Aber in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren könnte die Geschichte uns befehlen: »Linksum kehrt!« Die Front läge dann am Pazifik und das Hinterland läge im Westen, hinter dem Ural.

Den Europäern fällt es schwer, sich ihren traditionellen Dünkel abzugewöhnen. Europa hat im Laufe von Jahrhunderten Menschheitsgeschichte gemacht. Alles übrige war gleichsam zweitrangig. Inzwischen hat der imperialistische Krieg gigantische Veränderungen in der Bedeutung Europas bewirkt, genauer gesagt, aufgedeckt. Die Achse der Weltwirtschaft hat sich in Richtung Amerika verschoben. Über dem Lärm des imperialistischen Krieges und dem Getöse der nachfolgenden Revolutionen ist das nicht sogleich bemerkt worden. Die Europäer waren erst einmal beleidigt, als man sie darauf hinwies. Aber die Tatsache lässt sich nicht abstreiten. Europa ist in den Hintergrund gedrängt worden, der Atlantik hat seine Bedeutung an den Pazifik abgetreten.

Was sind nun in diesem Zusammenhang die Perspektiven der weiteren Entwicklung? Unter den europäischen Konservativen gibt es Amateure, die mit viel Getuschel, Gejammer und mit Zahlen jonglierend beweisen wollen, dass nichts Besonderes geschehen sei. Es ist aber etwas geschehen! Der Kampf zwischen Europa und Amerika – das ist der Kampf eines Unternehmens mittlerer Größe mit veralteter Technik, rückständigen Arbeitsverfahren, innerlich zerrissen und permanent zerstritten, gegen ein gigantisches zentralisiertes Unternehmen, in dem das Fließband die Arbeitsnorm bestimmt. Um konkurrieren zu können, braucht man Betriebskapital. Amerika hat davon weitaus mehr. Außerdem steht Europa bei den Amerikanern in der Schuld. Da kann man Vorbehalte, auch echte, anmelden, so viel man will – am Wesentlichen können sie doch nichts ändern: Der Vorsprung des großen und modernen Unternehmens gegenüber dem mittleren und veralteten wird im Laufe der Jahre nur noch zunehmen. Das lässt sich nicht umgehen! Anwachsen wird die Bedeutung der Vereinigten Staaten gegenüber Europa und die des Pazifischen gegenüber dem Atlantischen Ozean.

Doch es geht nicht nur um Amerika, sondern auch um Asien. Man muss nur erwähnen, dass der Anteil Europas am Welthandel vor dem Krieg 64% betrug, der Asiens alles in allem nur 10%. Jetzt liegt der Anteil Europas bei 52%, der Asiens ungefähr bei 15%. Auch hier hat sich das Kräfteverhältnis zum Nachteil Europas verändert. Auf der Grundlage des Kapitalismus gibt es für Europa keinen Ausweg. Seine Bedeutung wird – bei unvermeidlichen Schwankungen in der einen oder anderen Richtung – zurückgehen. Darin liegt auch die Voraussetzung für die revolutionäre Situation in Europa.

Die Vereinigten Staaten drängen Europa zurück, gleichzeitig unterdrücken sie auch den ganzen amerikanischen Kontinent (Kanada auf friedliche Weise, Südamerika unter Blutvergießen). Doch der eigentliche Kampf der Vereinigten Staaten um die Weltherrschaft wird sich an den Küsten und auf den Inseln des Pazifik abspielen. Dieser Kampf, der eigentlich dem Hauptrivalen, nämlich England, gilt, kann unvermittelt auch zu einer Auseinandersetzung mit Japan führen, weil Amerika die Führungsrolle in der Wirtschaft Chinas und des asiatischen Kontinents überhaupt beansprucht. England wird angesichts seines Niedergangs versuchen, in China mit dem Knüppel zu agieren, die aufsteigenden Vereinigten Staaten dagegen mit dem Rubel, und zwar mit dem Doppelrubel, der sich Dollar nennt. Es ist offensichtlich, dass die Vereinigten Staaten – sollte es ihnen gelingen, sich Chinas zu bemächtigen – nicht nur die Perspektiven des Sozialismus bedrohen, sondern auch die Selbständigkeit Sibiriens und darüber hinaus ganz Asiens. Die Politik der »offenen Tür« bedeutet, dass die Vereinigten Staaten die Tür zum Haus der asiatischen Völker vor allem für sich selbst öffnen wollen. Die Zukunft Sibiriens beruht nicht zuletzt auf der Fähigkeit des chinesischen Volkes, das mehr und mehr von seinem Proletariat geführt wird, über sein Türschloss und den zugehörigen Schlüssel zu verfügen und allein darüber zu entscheiden, wann es die Tür öffnet und für wen.

Gegenwärtig ist Sibirien die große Brücke zwischen Moskau und Kanton.

Von der Bedeutung dieser Verbindung legt die Geschichte der letzten Jahre beredtes Zeugnis ab. Solange Sibirien in den Händen der Weißgardisten war, und später, als der Ferne Osten einen Pufferstaat bildete, verlief die revolutionäre Bewegung in China schwankend. Je mehr sich die Sowjetordnung in Nord- und Zentralasien festigte, desto selbstbewusster wurden die chinesischen Volksmassen bei ihrem Vormarsch. Diese Art von »Intervention« leugnen wir nicht: die Intervention einer Idee, die Kraft des Beispiels, die mitreißende Wirkung unserer Nachbarschaft. Und dagegen kommt keine Protestnote der Welt an (Beifall). Das Schicksal Sibiriens, wir wiederholen es, kann nicht isoliert betrachtet werden.

Zwischen dem europäischen Russland und China hat Sibirien, das die Sieben-Ströme-Eisenbahn enger mit Taschkent verbinden und Indien annähern wird – hat dieses Sibirien sein Schicksal unauflöslich mit dem Schicksal des Proletariats im Westen und mit den erwachenden Völkern im Osten verbunden.

Ja, Sibirien braucht dringend Forscher, Techniker, Kulturarbeiter und Facharbeiter. Aber es genügt nicht, in die Tiefen der Erde hinabzusteigen, man muss sich auch auf politischem Terrain bewähren. Man muss die Geschicke Sibiriens mit dem Schicksal des weltweiten Klassenkampfes verbinden können. Wohl muss man Gold und Kohle finden, Eisenerz zu Metall verhütten, aber für wen? Man muss Wirtschaft und Technik mit der großen internationalen Politik verbinden.

Ein Sibirien der Regionen, ein verschlossenes Sibirien, ein Sibirien, das nicht über die eigenen Grenzen zu blicken vermag, ist nicht unser Sibirien. Auf diesem Wege ist die Wiedergeburt eines beschränkten Provinzialismus und kolonisatorischer Tendenzen unvermeidlich: brutale Gewalt gegenüber den schwachen Fremdvölkern, Verachtung für die Chinesen, Abneigung gegenüber den Japanern und Abscheu vor der gelben Rasse insgesamt. Nur mit dieser abstoßenden Maske des Chauvinismus kann die sibirische Konterrevolution ihr Haupt erheben. Doch mit dem Schutzpanzer des Internationalismus kann sich Sibirien vor den großen Gefahren schützen, die ihm vom Pazifik her drohen. Alles, was die werktätigen Massen der verschiedenen Völker Asiens zusammenschließt und ihnen Vertrauen zueinander einflößt, sichert die Zukunft eines jeden asiatischen Landes, darunter auch die Sibiriens.

Daran haben auch diese zehntausend Arbeiter aus Shanghai, die ein neues Kapitel in der Geschichte der chinesischen Revolution aufgeschlagen haben, unmittelbaren Anteil. Sie bauen mit an Sowjet-Sibirien, weil sie Mitkämpfer der Weltrevolution sind. Gerade in diesen Tagen werfen uns die kapitalistischen Feinde vor, dass wir uns in die Geschicke anderer Völker »einmischen«. Doch zur gleichen Zeit vermitteln uns die Depeschen ein immer genaueres und vollständigeres Bild von den Vorgängen in Shanghai und Umgebung. Um das Ausländerviertel werden die fremden Truppen verstärkt: dreitausend Engländer mit Artillerie, ein Kommandotrupp Italiener, zweitausend Amerikaner in den Gewässern um Shanghai. Ein Regiment russischer Weißgardisten ist in Nanjing eingedrungen. In Shanghai sind drei amerikanische Minensuchboote aus Manila eingetroffen. Ein Bataillon der französischen Fremdenlegion ist aus Algier nach Shanghai verlegt worden. Und heute Abend lautet das Telegramm: Mussolini berät die Frage, ob man nicht die faschistische Miliz nach Shanghai entsenden solle, denn die sei bekanntlich »im Bürgerkrieg sehr erfahren«. Doch auch wir haben ja eine gewisse Erfahrung im Bürgerkrieg – nur auf der anderen Seite. Heißt das etwa, dass auch wir bewaffnete Streitkräfte nach Shanghai schicken können? Das Gesindel der »Schwarzen Hundert« in Europa und überall auf der Welt versucht, die junge heroische Arbeiterklasse Chinas zu unterdrücken, und beschuldigt uns gleichzeitig der Einmischung in die Geschicke anderer Völker. Unser Verbrechen besteht darin, dass wir uns an ihrer Gewalt und ihren Henkersmethoden nicht beteiligen! Unter dem Schutz ausländischer – vor allem britischer – Truppen hat der konterrevolutionäre Kommissar von Shanghai 50 Streikführer auf den Plätzen der Stadt gehängt, während weitere Dutzende insgeheim ermordet wurden. Und Austen Chamberlain ist beleidigt, wenn ihn unser Karikaturist darstellt, wie er den Henkern applaudiert. Nur applaudiert? Nein, er ist ja der Anstifter, er hat den eingeseiften Strick geschickt, ihn den Henkern in die Hand gelegt. Jeder Revolutionär, nicht nur bei uns, sondern überall auf der Welt, jeder ehrliche Arbeiter in England schämt sich allenfalls der mangelnden Kraft, der Unfähigkeit, sich auf der Stelle, sofort, wirklich einzumischen und mit starker Hand diesen Henkerstrupp festzuhalten und in der Mündung des Yangtse zu ersäufen (Beifall).

Locker-Lampson in seiner Engstirnigkeit nannte die Protestnote Chamberlains »unschuldiges Schafsgeblöke«; dieser ehrenwerte, extrem-rechte Gentleman hätte aggressives Grunzen vorgezogen. Doch ist die Note von Chamberlain keineswegs so unschuldig. Außer weiteren Plänen in Bezug auf uns verfolgt sie noch eine äußerst wichtige Aufgabe in Bezug auf China: sie deckt das blutige Geschäft an der Pazifikküste. Die Clique um MacDonald und die gebrandmarkten Verräter des Generalrats werden versuchen, mit diplomatischen Grimassen und kleinen Schritten die anglo-sowjetischen Beziehungen vor dem Bruch zu »bewahren« und zugleich die Augen vom Gemetzel an den Arbeitern Shanghais abzuwenden. Es ist wahrlich schwer zu entscheiden, wer am widerwärtigsten ist: die Blökenden, die Grunzenden oder die servil Winselnden.

Die Note von Chamberlain beschuldigt uns einer – hören Sie zu, ich lese vor – »fixen Idee, die nur aus der tief im Geiste der Sowjetmacht selbst verwurzelten, möglicherweise sogar ihrem Charakter entspringenden Feindseligkeit erklärt werden kann« usw. usf. »Sogar ihrem Charakter entspringend!« Er gefällt ihnen nicht, sehen Sie, unser »Char-r-rakter« (Gelächter). Unser Charakter ist wirklich schlecht, vielleicht deshalb, weil unser Gedächtnis so gut ist. Unser Charakter hat sich im Kampf gegen die Unterdrücker gebildet, in den Aufständen gegen den Zarismus, in den Ereignissen des Bürgerkriegs. Nur zu gut erinnern wir uns an die Taten von Nikolaus II., von Koltschak, Denikin, Judenitsch – allesamt Verbündete Chamberlains. Wir erinnern uns auch an das Treiben der Engländer im Kaukasus, in Murmansk, in Archangelsk und in Sibirien. Überall findet man dort noch die blutigen Spuren der Versuche des englischen Imperialismus, dem Willen des revolutionären Volks Gewalt anzutun. Wir haben das Schicksal der 26 Kommissare von Baku nicht vergessen – und wir werden es auch nicht vergessen!–, die der Leiter der britischen Mission, Teague Jones, unter dem Oberbefehl von General Walker erschossen hat. Wir haben auch nicht vergessen, welch niederträchtige Rolle General Knox in Sibirien gespielt hat. Nichts werden wir vergessen, so ist eben unser Charakter! Und sollten sie angesichts der Ereignisse von Shanghai wagen, etwas von unserer »fixen Idee« zu murmeln, dann werden wir den Arbeitern überall auf der Welt, vor allem in Großbritannien, zurufen: Da habt ihr die schändliche Heuchelei der herrschenden Klassen! Wir rufen den Proletariern von Shanghai zu, die den Generalstreik der Arbeiter Großbritanniens fortgesetzt haben: Ihr Brüder in Shanghai, auch wir haben das durchgemacht, wir kennen das und verstehen es, auch wir kannten schwache Stunden, als alles danach aussah, als seien wir zu Boden gedrückt und dem Untergang geweiht, doch wir haben uns wieder erhoben und sind vorangeschritten. Verliert auch ihr nicht den Mut in diesen schweren Tagen! Schließlich sagen wir zu den Werktätigen der Sowjetunion und vor allem denen Sibiriens: »Die Augen auf Shanghai gerichtet! Dort entscheidet sich jetzt ein gut Teil eures eigenen Schicksals!« (Beifall.)

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