Leo Trotzki 19340800 Wolken über Fernost

Leo Trotzki: Wolken über Fernost

[Nach Schriften 2.2, Hamburg 1990, S. 793-799, dort mit erläuternden Fußnoten]

Auf den ersten Blick muss es Befremden auslösen, dass in den Monaten äußerst gespannter sowjetisch-japanischer Beziehungen nur unbedeutende Truppenverbände im Fernen Osten konzentriert wurden. Am 3. Februar erklärte der japanische Kriegsminister Hayashi, seine Regierung verfüge in der Mandschurei über ganze 50.000 Soldaten, während die UdSSR im nächstgelegenen Grenzabschnitt 100.000 Mann und 300 Flugzeuge zusammengezogen habe. In einer Entgegnung auf Hayashi erklärte Blücher, der Befehlshaber der Fernostarmee, in Wirklichkeit habe Japan in der Mandschurei 130.000 Soldaten massiert, also mehr als ein Drittel seiner regulären Armee, zu denen noch 115.000 Soldaten von Mandschukuo hinzukämen – zusammen 245.000 Mann und 500 Flugzeuge. Gleichzeitig fügte Blücher beruhigend hinzu, die sowjetischen Streitkräfte seien den japanischen nicht unterlegen. Nach den Maßstäben eines größeren Krieges haben wir es sozusagen mit Partisanenabteilungen zu tun.

Die Eigenarten des fernöstlichen Kriegsschauplatzes – ein riesiger, dünnbesiedelter Raum, ein äußerst zerklüftetes Gelände, die schlechten Nachschublinien und die Entfernung zu den wichtigsten Stützpunkten – schließen eine Truppenmassierung in Millionenstärke, die Bildung einer lückenlosen und tief gestaffelten Front und damit einen Stellungskrieg aus. Am russisch-japanischen Krieg von 1904/1950 nahmen auf russischer Seite 320.000 Soldaten teil, gegen Ende, d. h., als die russische Armee vernichtend geschlagen war, 500.000. So viel dürften die Japaner wohl kaum aufgeboten haben. Der zaristischen Armee mangelte es weder an Transportmitteln noch an Mannschaftsstärke, sondern an Tüchtigkeit. Seit diesen Tagen hat sich die Kriegstechnologie so verändert, dass sie nicht wiederzuerkennen ist. Dagegen sind die wesentlichen Eigenschaften des fernöstlichen Kriegsschauplatzes die gleichen geblieben. Die Mandschurei ist für Japan nur ein Etappenstützpunkt, der durch das Meer von den wichtigsten Basen getrennt wird. Die japanische Flotte herrscht zwar auf See, aber weder unter Wasser noch in der Luft. Transporte zu Wasser sind daher mit Gefahren verbunden. Die chinesische Bevölkerung der Mandschurei ist den Japanern feindlich gesinnt. Japan wird an der fernöstlichen Front ebenso wenig Millionenheere zusammenziehen können wie die Sowjetunion. So geht modernste Technologie notwendigerweise eine Verbindung mit den taktischen Methoden der Vergangenheit ein. Die Strategie Napoleons, ja sogar Hannibals, behält jenseits des Baikals und in den Küstenprovinzen weitgehend ihre Gültigkeit. Großangelegte Kavallerieangriffe werden das Kriegsgeschick entscheidend wenden. Die japanischen Bahnlinien in der Mandschurei sind weitaus gefährdeter als die sowjetische Eisenbahn längs des Amur. Der modernen Technologie in Gestalt der Luftwaffe fallen bei Operationen eigenständiger Verbände und bei Kavallerieangriffen im Rücken des Feindes enorme Aufgaben zu: bei der Aufklärung, der Aufrechterhaltung von Transport- und Nachrichtenverbindungen und im Bombenkrieg. Da der Krieg am Amur und in den küstennahen Provinzen im Allgemeinen von Mobilität und Stellungswechsel geprägt sein wird, hängt sein Ausgang entscheidend von der Fähigkeit einzelner Einheiten ab, selbständig zu operieren, von der Initiative der untersten Offiziersränge und vom Ausbildungsstand des einzelnen, auf sich allein gestellten Soldaten. Meiner Meinung nach wird sich die Sowjetarmee der japanischen gegenüber in all diesen Dingen mindestens so überlegen erweisen, wie es die japanische Armee 1904/1905 gegenüber der zaristischen war.

Wie die Ereignisse des letzten Jahres gezeigt haben, kann sich Tokio nicht zum sofortigen Losschlagen durchringen. Und mit jedem weiteren Jahr, das inzwischen vergeht, verändert sich das Kräfteverhältnis keineswegs zu Japans Gunsten. Mit dem Aufbau einer militärisch-industriellen Basis in Kusnezk ist die Front in Fernost bereits nicht mehr notwendig auf das europäische Hinterland angewiesen. Die Sowjetregierung hat die gründliche Erneuerung der Transportkapazitäten auf der Bahnlinie Moskau-Chabarowsk durch Bau einer zweiten Spur zu einer der wichtigsten Aufgaben des Jahres 1934 erklärt. Gleichzeitig begannen die Arbeiten an der 1400 km langen Bahnverbindung vom Baikalsee zu den Gebieten am Unterlauf des Amur. Diese neue Hauptstrecke wird die überaus reichen Kohlevorkommen von Bureja und die Bergwerke von Chingan erschließen. Die Bureja-Region – 500 km von Chabarowsk entfernt und damit zehnmal näher gelegen als die Kusnezk-Region – wird sich durch das Industrialisierungsprogramm in eine eigenständige industrielle und militärtechnische Basis für den Fernen Osten verwandeln. Diese gigantischen Vorhaben im Transportwesen und in der Industrie gehen Hand in Hand mit beträchtlichen materiellen Anreizen für die Bevölkerung im Fernen Osten, so dass es zu einer raschen Besiedlung des Gebiets kommen wird – und diese entzieht den Plänen, die der japanische Imperialismus mit Sibirien hatte, den Boden.

Ungeachtet dessen ist der Krieg aufgrund der inneren Verfassung Japans fast unvermeidlich, ganz wie vor dreißig Jahren, als sich der Zarismus durch keinerlei Warnung vom Krieg abhalten ließ. Es ist keineswegs paradox festzustellen, dass ein Krieg in Fernost, einmal ausgebrochen, entweder sehr kurz, fast nur einen Augenblick, oder aber sehr lange dauern wird. Für Japans Kriegsziel – die Eroberung des Fernen Ostens und nach Möglichkeit auch eines beträchtlichen Teils der Gebiete jenseits des Baikals – ist an sich schon ein längerer Zeitraum erforderlich. Ein schnelles Kriegsende wäre nur möglich, wenn es der Sowjetunion gelänge, die japanische Offensivkraft gleich zu Beginn entscheidend und für lange Zeit zu brechen. Mit der Luftwaffe verfügt die Sowjetunion über ein unschätzbares Instrument zur Bewältigung dieser Verteidigungsaufgabe.

Man braucht kein Anhänger des »integralen« Luftkriegs zu sein, d. h. an die Verlagerung der entscheidenden militärischen Operationen in den Luftraum zu glauben, um zu erkennen, dass die Luftwaffe unter bestimmten Bedingungen zweifellos den Krieg entscheiden kann, indem sie die offensiven Operationen des Feindes vollständig zum Erliegen bringt. Genau so verhält es sich im Fernen Osten. Mit seiner Klage über die Konzentration der sowjetischen Luftstreitkräfte in den küstennahen Gebieten gibt Hayashi die begreifliche Besorgnis der herrschenden Kreise Japans zu erkennen, deren politische Zentren, Rüstungsbetriebe und wichtigsten Militärstützpunkte den Schlägen der Roten Luftflotte ausgesetzt sind. Von Stützpunkten in den küstennahen Provinzen aus können Langstreckenbomber die schwersten Verwüstungen in den lebenswichtigen Zentren des Inselreichs anrichten. Selbst wenn man Japan die Fähigkeit zugesteht, ebenso starke oder gar überlegene Luftstreitkräfte aufzubieten, was wenig wahrscheinlich ist, so würde das die Gefahr für die Inseln nur verringern, aber nicht bannen. Kein Luftraum lässt sich unüberwindlich abriegeln; es käme nur zu oft zu Durchbrüchen, und jeder Durchbruch wäre überaus folgenschwer. Den entscheidenden Ausschlag gibt in diesem Duell nicht die materielle, technische Überlegenheit, die zweifellos bei der sowjetischen Luftwaffe liegt und die diese in der nahen Zukunft nur ausbauen kann, sondern die geographische Lage, in der sich beide Seiten zueinander befinden.

Während fast alle japanischen Zentren in Reichweite für Luftangriffe liegen, könnten die japanischen Luftstreitkräfte keine auch nur annähernd ebenbürtigen Vergeltungsschläge ausführen: weder Moskau noch die (6000 bis 7000 km entfernte) Kusnezk-Basis sind ohne Zwischenlandung erreichbar. Und dabei gibt es weder in den küstennahen Gebieten noch in Ostsibirien Zentren von lebenswichtiger Bedeutung, deren Zerstörung den Kriegsverlauf entscheidend oder auch nur spürbar beeinflussen könnte. Dieser Lagevorteil, durch eine leistungsfähigere Technik noch vervielfacht, wird der Roten Armee ein Übergewicht verleihen, das sich schlecht in einem exakten Koeffizienten ausdrücken lässt, das sich jedoch als ausschlaggebend erweisen könnte.

Sollte sich jedoch herausstellen, dass die sowjetische Luftwaffe den enormen Anforderungen der dritten Dimension nicht gewachsen ist, so würde das Schwergewicht wieder im zweidimensionalen Raum liegen, wo die Gesetzmäßigkeiten des fernöstlichen Kriegsschauplatzes voll zum Tragen kämen, und deren erste heißt: Langsamkeit. Die Zeiten, zu denen eine rasche Besetzung der küstennahen Gebiete noch möglich war, sind eindeutig vorbei. Wladiwostok ist heute eine stark befestigte Stellung, die zum Verdun der Pazifikküste werden könnte. Der Versuch, eine Festung einzunehmen, kann nur von Land aus erfolgen und erfordert etwa ein Dutzend Divisionen – das Zwei- bis Dreifache dessen, was zu ihrer Verteidigung nötig ist. Selbst bei vollem Erfolg würde eine solche Operation Monate beanspruchen, womit der Roten Armee eine unschätzbare zusätzliche Frist zur Verfügung stünde. Ein japanischer Vormarsch nach Westen würde immense Vorbereitungsarbeiten erfordern: In der Etappe müssten Stützpunkte befestigt, Bahnlinien und Straßen gebaut werden. Gerade die Erfolge auf diesem Gebiet würden Japan wachsende Schwierigkeiten bereiten, da sich die Rote Armee auf ihre eigenen Stützpunkte zurückziehen könnte, während die Japaner ihre Kräfte auf unwirtlichem Terrain auseinanderziehen müssten und dabei die versklavte Mandschurei, das unterjochte Korea und das feindliche China im Nacken hätten. Ein lang anhaltender Krieg würde die Möglichkeit eröffnen, tief im Rücken der Japaner mit Hilfe sowjetischer Technik und sowjetischer Berater eine chinesische Armee aufzustellen.

Aber damit begeben wir uns schon auf das Feld im wahrsten Sinne weltpolitischer Zusammenhänge – mit all den Eventualitäten, Gefahren und unbekannten Größen, die sie in sich bergen. Viele der obigen Überlegungen und Einschätzungen würden gegenstandslos, wenn der Krieg mehrere Jahre dauerte und die Sowjets zwänge, zwanzig Millionen Mann zu den Waffen zu rufen. In diesem Falle erwiese sich wahrscheinlich die sowjetische Landwirtschaft, deren Grundprobleme bei weitem noch nicht gelöst sind, nach – oder neben – dem Transportwesen als das schwächste Glied. Doch gerade im Hinblick auf einen längeren Krieg ist es absolut unzulässig, die UdSSR als isoliertes Problem, ohne direkten Bezug zur Weltlage insgesamt, zu betrachten. Wie werden sich die Staaten in Ost und West gruppieren? Kommt das Militärbündnis zwischen Japan und Deutschland zustande? Kann die UdSSR Verbündete finden, und wenn ja, welche? Was wird aus der Freiheit der Meere? Wo liegt für Japan das Existenzminimum, und wie steht es überhaupt um seine wirtschaftliche Stellung? Wird sich ein neuer Blockadering um Deutschland schließen? Wie stabil werden die Regime der verschiedenen kriegführenden Staaten sein? Die Liste solcher Fragen ließe sich endlos fortsetzen. Sie alle werden unter den Bedingungen eines Weltkriegs aufgeworfen werden, aber niemand kann sie a priori beantworten. Die Antwort wird sich finden, wenn das Gemetzel der Völker tatsächlich seinen Lauf nimmt, und diese Antwort könnte über unsere ganze Zivilisation ein vernichtendes Urteil sprechen.

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