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Leo Trotzki 19390304 Noch einmal über die Ursachen der Niederlage in Spanien

Leo Trotzki: Noch einmal über die Ursachen der Niederlage in Spanien

4. März 1939

[Veröffentlicht im Socialist Appeal vom 21. März 1939. Nach Revolution und Bürgerkrieg in Spanien, S. 322-327]

Die Erfinder des Regenschirms

Ein alter französischer Humorist schrieb einst eine Geschichte, wie ein Kleinbürger auf die Erfindung des Regenschirms kam. Als er im Regen auf den Straßen spazierte, fing er an, darüber nachzudenken, wie schön es wohl wäre, wenn die Straßen mit Dächern versehen wären … Das aber würde die freie Luftzirkulation behindern … Man brauchte also ein tragbares Dach, eines pro Person, wie aber könnte man es verschieben? Es musste also von dem Fußgänger getragen werden, mit einer Art Stange in seinen Händen, usw. Zum Schluss rief unser Erfinder aus: „Aber nein – das ist ja ein Regenschirm!" Unter den „Linken" kann man jetzt auf Schritt und Tritt Erfinder des Regenschirms treffen.

Seinerzeit hatte der Bolschewismus die reformistische Politik für eine Reihe von Jahren in einen schlechten Ruf gebracht. Aber mit dem Aufkommen der Reaktion haben die Stalinisten mit allen ihren dienstbaren Geistern begonnen, den Regenschirm des Reformismus wiederzuentdecken, wie z.B. „die Volksfront" (Koalition mit der Bourgeoisie), die Pflicht des Proletariats, das demokratische Vaterland zu verteidigen (Sozialpatriotismus), und so weiter. Und das mit aller Überzeugungskraft der Unwissenheit!

Ein anderer neuentdeckter Regenschirm

In der mexikanischen Zeitung El Popular, die für ihre gründliche Gelehrsamkeit, ihre Ehrlichkeit im Denken und den revolutionären Charakter ihrer Politik fast internationalen Ruhm erlangt hat, übernimmt Guillermo Vegas Leon, der unseren Lesern nicht völlig unbekannt ist, mit Hilfe eines neuentdeckten Regenschirms die Verteidigung der Politik der spanischen Volksfront. Der Krieg in Spanien, seht ihr, ist nicht ein Krieg für den Sozialismus, sondern eher ein Krieg gegen den Faschismus. Im Krieg gegen den Faschismus ist es unzulässig, sich in solche Abenteuer wie die Übernahme von Fabriken und Boden hineinzubegeben. Nur die Freunde des Faschismus können solche Pläne vorschlagen. Und so weiter und so fort. Historische Ereignisse haben offensichtlich keinen Einfluss auf Leute, die im Königreich billiger Zeitungsblätter leben.

Herr Leon weiß nicht, dass der gleiche Regenschirm von den russischen Menschewiki und den Sozialrevolutionären (der Partei Kerenskis) bei ihrem Vorgehen benutzt wurde. Unermüdlich wiederholten sie, die Russische Revolution sei „demokratisch" und nicht sozialistisch; in einem Krieg mit Deutschland, das die junge demokratische Republik bedrohe, bedeute jeder Versuch, sich auf Abenteuer wie die Enteignung der Produktionsmittel einzulassen, eine Hilfe für die Hohenzollern. Und da es bei ihnen nicht wenige Schurken gab, behaupteten sie auch, die Bolschewiki täten die alles aus irgendwelchen geheimnisvollen Gründen …

Der Klassencharakter der Revolution

Ob eine Revolution „antifaschistisch" oder proletarisch, bürgerlich oder sozialistisch ist, wird nicht durch politische Etiketts, sondern die Klassenstruktur einer gegebenen Nation bestimmt. Leon hat nicht gemerkt, wie die gesellschaftliche Entwicklung seit ungefähr der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vor sich gegangen ist. Und doch hat diese Entwicklung in den kapitalistischen Ländern die Klein- und Mittelbourgeoisie fortgespült, sie in den Hintergrund gedrängt, degradiert und absinken lassen. Die Hauptklassen der modernen Gesellschaft – auch in Spanien – sind die Bourgeoisie und das Proletariat. Die Kleinbourgeoisie kann nicht – jedenfalls nicht für längere Zeit – die Macht ausüben: diese muss entweder in den Händen der Bourgeoisie oder des Proletariats liegen. In Spanien ging die Bourgeoisie, aus Angst um ihr Eigentum, völlig ins Lager des Faschismus über. Das Proletariat ist die einzige Klasse, die einen ernsthaften Kampf gegen den Faschismus führen kann. Allein das Proletariat hätte die unterdrückten Massen, vor allem die spanische Bauernschaft, um sich scharen können. Aber Arbeitermacht kann allein sozialistische Macht sein.

Das Beispiel Chinas und Russlands

Aber, wendet Herr Leon ein, das unmittelbare Ziel ist der Kampf gegen den Faschismus. Alle unsere Kräfte müssen auf dieses unmittelbare Ziel konzentriert werden, usw. Selbstverständlich! Aber erkläre uns bitte, warum während eines Kampfes gegen den Faschismus der Boden den Großgrundbesitzern und die Betriebe den Kapitalisten gehören müssen, die sich alle im Lager Francos befinden? Vielleicht, weil die Bauern und Arbeiter „nicht reif genug" für die Übernahme von Boden und Betrieb sind? Aber sie bewiesen ihre Reife, indem sie aus eigener Initiative Boden und Betriebe übernahmen. Reaktionäre, die sich selbst als Republikaner bezeichneten, waren unter der Führung der Stalinisten in der Lage, diese mächtige Bewegung angeblich im Namen des „Antifaschismus", in Wirklichkeit jedoch im Interesse bürgerlicher Eigentümer zu zerschlagen.

Betrachten wir ein anderes Beispiel. Momentan befindet sich China in einem Krieg gegen Japan, einem gerechten Verteidigungskrieg gegen Plünderer und Unterdrücker. Mit diesem Krieg als Vorwand hat die Regierung Tschiang Kai-schek, mit Hilfe der Stalin-Regierung, jeden revolutionären Kampf und vor allem den Kampf der Bauern um den Boden erstickt. Die Ausbeuter und die Stalinisten sagen: „Jetzt ist nicht die Zeit, die Agrarfrage zu lösen. Jetzt handelt es sich um den gemeinsamen Kampf gegen den Mikado". Und doch leuchtet es jedem ein: besäßen die chinesischen Bauern gerade jetzt den Boden, dann würden sie ihn mit Händen und Füßen gegen die japanischen Imperialisten verteidigen. Wir müssen wieder einmal daran erinnern: wenn die Oktoberrevolution imstande war, in einem dreijährigen Krieg zahllose Feinde, einschließlich des Expeditionskorps der mächtigsten imperialistischen Mächte zu besiegen, so nur, weil dieser Sieg in erster Linie durch die Tatsache errungen wurde, dass die Bauern während des Krieges den Boden in Besitz genommen hatten, während die Arbeiter die Betriebe übernahmen. Nur das Verschmelzen des sozialistischen Umsturzes mit dem Bürgerkrieg machte die Russische Revolution unbezwingbar.

Leute wie Herr Leon bestimmen den Charakter einer Revolution nach dem Namen, den sie von bürgerlichen Liberalen erhält, und nicht danach, wie sie sich im aktuellen Klassenkampf darstellt, noch wie sie von den revolutionären Massen – wenn auch nicht immer voll bewusst – empfunden wird. Wir aber betrachten die spanische Revolution nicht mit den Augen des liberalen Philisters Azaña, sondern mit denen der Arbeiter Barcelonas und Asturiens und der Bauern Sevillas, die für die Betriebe, den Boden, eine bessere Zukunft, und nicht für den alten parlamentarischen Regenschirm der Volksfront kämpften.

Die leere Abstraktion eines „Antifaschismus"

Schon die Konzeption eines „Antifaschismus" und „Antifaschisten" ist eine Fiktion und Lüge. Der Marxismus geht an jede Erscheinung von einem Klassenstandpunkt heran. Azaña ist nur insoweit „Antifaschist", wie der Faschismus bürgerliche Intellektuelle daran hindert, parlamentarische oder andere Karrieren einzuschlagen. Sollte Azaña zwischen Faschismus und der proletarischen Revolution wählen müssen, so wird er immer auf der Seite der Faschisten zu finden sein. Seine gesamte Politik während der sieben Revolutionsjahre beweist das.

Andererseits kann die Losung „Gegen Faschismus, für Demokratie" nicht für Millionen und Abermillionen der Bevölkerung anziehend sein, schon deswegen, weil in Kriegszeiten im Lager der Republikaner keinerlei Demokratie war und ist. Bei Franco wie bei Azaña herrschte Militärdiktatur, Zensur, Zwangsrekrutierung, Hunger, Blut und Tod. Die abstrakte Losung „Für Demokratie" ist für liberale Journalisten, nicht aber für die unterdrückten Arbeiter und Bauern ausreichend. Sie haben außer Sklaverei und Armut nichts zu verteidigen. Sie werden alle ihre Kräfte auf die Zerschlagung des Faschismus nur dann richten, wenn sie gleichzeitig damit neue und bessere Lebensbedingungen erlangen können. Folglich kann der Kampf des Proletariats und der ärmsten Bauern gegen den Faschismus im gesellschaftlichen Sinne nicht defensiv, sondern nur offensiv sein. Deshalb irrt Leon gewaltig, wenn er als Nachbeter „maßgeblicher" Philister uns lehrt, dass der Marxismus Utopien zurückweist, und dass die Vorstellung von einer sozialistischen Revolution während eines Kampfes gegen den Faschismus utopisch wäre. Tatsächlich ist die schlimmste und reaktionärste Form des Utopismus die Vorstellung, es sei möglich, gegen den Faschismus zu kämpfen, ohne die kapitalistische Wirtschaft zu stürzen.

Der Sieg war möglich

Wirklich erstaunlich ist die völlige Unwissenheit dieser Leute. Sie haben keine Ahnung von einer Weltliteratur, die bei Marx und Engels beginnt und in der gerade das Konzept der demokratischen Revolution und ihrer internen Klassenmechanik der Analyse unterworfen worden ist. Offensichtlich haben sie nie die grundlegenden Dokumente der ersten vier Kongresse der Kommunistischen Internationale gelesen, die beweisen, erklären und selbst einem Kind ermöglichen, die Tatsache zu begreifen, dass unter den heutigen Bedingungen der Kampf gegen den Faschismus nur mit den Methoden des proletarischen Klassenkampfes um die Macht denkbar ist.

Diese Herren schildern die Geschichte so, als ob sie unverdrossen die Bedingungen für die sozialistische Revolution vorbereite, die Rollen angemessen zuteile, in Großbuchstaben auf einen Triumphbogen schreibe: EINTRITT ZUR SOZIALISTISCHEN REVOLUTION, den Sieg garantiere und danach die ehrenwerten Führer höflich einlade, prominente Positionen als Minister, Botschafter usw. einzunehmen. Nein, die Frage steht ein wenig anders; sie ist weitaus komplizierter, schwieriger und gefährlicher. Opportunisten, reaktionäre Dummköpfe und kleinbürgerliche Feiglinge haben nie die Situation begriffen – und werden es nie tun –, welche den sozialistischen Umsturz auf die Tagesordnung stellt. Dazu muss man ein revolutionärer Marxist, ein Bolschewik sein; dazu muss man imstande sein, die öffentliche Meinung der „gebildeten" Kleinbourgeoisie geringzuschätzen, die nur die selbstsüchtigen Klassenbefürchtungen des Kapitalismus widerspiegeln.

Das Proletariat war stark genug

Die Führer von CNT und FAI haben selbst nach dem Aufstand vom Mai 1937 erklärt: „Hätten wir gewollt, wir hätten jederzeit die Macht ergreifen können, weil alle Kräfte auf unserer Seite waren, aber wir waren gegen jede Diktatur," usw., usw. Was die anarchistischen Diener der Bourgeoisie wollten oder nicht wollten, ist am Ende von zweitrangiger Bedeutung. Indes, sie mussten zugeben, dass das aufständische Proletariat stark genug war, um die Macht zu erobern. Hätte es eine revolutionäre und nicht eine verräterische Führung besessen, dann hätte es den Staatsapparat von all den Azañas gesäubert, die Macht der Sowjets errichtet, den Bauern das Land gegeben, die Betriebe den Arbeitern – und die spanische Revolution wäre sozialistisch und unüberwindlich geworden.

Da es aber in Spanien keine revolutionäre Partei gab, stattdessen eine Vielzahl von Reaktionären, die sich für Sozialisten und Anarchisten hielten, gelang es ihnen unter dem Etikett der Volksfront, die sozialistische Revolution zu erdrosseln und Francos Sieg zu sichern.

Es ist einfach lächerlich, die Niederlage mit Hinweisen auf die Militärintervention der italienischen Faschisten und der deutschen Nazis, und auf das niederträchtige Verhalten der französischen und britischen „Demokratien" zu rechtfertigen. Feinde werden immer Feinde bleiben. Die Reaktion wird immer, wenn sie kann, intervenieren. Imperialistische „Demokratie" wird immer betrügen. Das hieße also, der Sieg des Proletariats ist im Allgemeinen unmöglich! Aber wie steht es mit dem Sieg des Faschismus selbst in Italien und Deutschland? Da gab es keine Intervention. Stattdessen gab es dort ein mächtiges Proletariat und eine sehr große Sozialistische Partei und im Falle Deutschlands ebenfalls eine große Kommunistische Partei. Warum wurde denn dort kein Sieg über den Faschismus errungen? Ganz genau deshalb, weil die führenden Parteien versuchten, in beiden Ländern die Frage auf einen Kampf „gegen den Faschismus" zu reduzieren, wenn nur eine sozialistische Revolution den Faschismus schlagen kann.

Die spanische Revolution war eine überragende Schule. Es wäre unverzeihlich, sich gegenüber ihren teuer erkauften Lehren die geringste Leichtfertigkeit zu erlauben. Nieder mit Scharlatanerie, Phrasendrescherei, selbstzufriedener Unwissenheit und intellektuellem Parasitismus! Wir müssen ernsthaft und ehrlich lernen und die Zukunft vorbereiten.

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