Leo Trotzki‎ > ‎Spanien‎ > ‎

Leo Trotzki 19370928 Über die „Ultralinken" im Allgemeinen und die unheilbaren im Besonderen

Leo Trotzki: Über die „Ultralinken“ im Allgemeinen und die unheilbaren im Besonderen

Einige theoretische Erörterungen.

[Nach Der einzige Weg, Zeitschrift für die Vierte Internationale, Nr. 3 (März 1938), S. 62-64 bzw. Revolution und Bürgerkrieg in Spanien, S. 281-286]

Das marxistische Denken ist konkret, d.h. es fasst alle entscheidenden oder wichtigen Faktoren einer gegebenen Frage nicht nur in ihrem gegenseitigen Verhältnis, sondern auch in ihrer Entwicklung. Es löst die Lage des Augenblicks nicht in der allgemeinen Perspektive auf, sondern ermöglicht durch diese allgemeine Perspektive, die jeweilige Lage in all ihrer Besonderheit zu analysieren. Bei dieser konkreten Analyse aber beginnt eben die Politik. Das opportunistische wie das sektiererische Denken haben das gemein, dass sie aus der Vielfältigkeit der Umstände und Kräfte einen oder zwei Faktoren herauslösen, die ihnen am wichtigsten erscheinen – und es zuweilen tatsächlich sind, – sie von der komplexen Wirklichkeit trennen und ihnen unbegrenzte und unbeschränkte Kraft zuschreiben.

In der langen Vorkriegsperiode bediente sich der Reformismus auf diese Art sehr wichtiger, aber zeitlich begrenzter Faktoren: der machtvollen Entwicklung des Kapitalismus, der Hebung des Lebensstandards des Proletariats, der Stabilität der Demokratie, usw. Heute ist es das Sektierertum, das sich der wichtigsten Faktoren und Tendenzen bedient: des kapitalistischen Niedergangs, des gesunkenen Lebensstandards der Massen, des Verfaulens der Demokratie usw. Aber ebenso wie der Reformismus der vorhergehenden Epoche verwandelt das Sektierertum geschichtliche Tendenzen in allmächtige und absolute Faktoren. Die «Ultralinken» bleiben in ihrer Analyse dort stehen, wo sie erst anfängt. Sie stellen der Wirklichkeit ein fix und fertiges Schema gegenüber. Indes die Massen leben in der Wirklichkeit. Darum hat das sektiererische Schema nicht den geringsten Boden in der Mentalität der Arbeiter. Seinem eigentlichen Wesen gemäß ist das Sektierertum der Unfruchtbarkeit geweiht.

Der imperialistische Kapitalismus ist nicht mehr imstande, die Produktivkräfte der Menschheit zu entwickeln; aus diesem Grunde kann er den Arbeitern weder materielle Zugeständnisse machen, noch ihnen wirksame Sozialreformen gewähren. All das ist richtig. Doch nur im Maßstab einer gesamten Epoche. Es gibt Industriezweige, die sich seit dem Krieg fabelhaft entwickelt haben (Automobile, Flugwesen, Elektrizität, Radio) trotz der Tatsache, dass das allgemeine Produktionsniveau nicht oder nur sehr wenig das Vorkriegs- und Kriegsniveau überstieg. Diese faulende Wirtschaft hat außerdem ihre Flut und Ebbe. Die Arbeiter kommen aus den Kampf, der zuweilen siegreich ist, fast nicht heraus. Freilich nimmt der Kapitalismus den Arbeitern mit der rechten Hand wieder ab, was er ihnen mit der linken gab. So macht das Steigen der Preise in Frankreich die großen Errungenschaften der Ära Leon Blums wieder zunichte. Doch dies Resultat, das durch die Wirkung verschiedener Faktoren zustande kam, treibt seinerseits die Arbeiter auf den Weg des Kampfes. Und eben diese machtvolle Dialektik unserer Epoche eröffnet eine revolutionäre Perspektive.

Ein Gewerkschaftsführer, der sich ausschließlich von der allgemeinen Tendenz des faulenden Kapitalismus leiten ließe, um auf jeden ökonomischen Teilkampf zu verzichten, wäre faktisch trotz seinen «revolutionären» Anschauungen ein Agent der Reaktion. Ein marxistischer Gewerkschaftsführer hat nicht nur die allgemeinen Tendenzen des Kapitalismus zu beachten, sondern auch die spezifischen Züge der jeweiligen Lage, Konjunktur, der örtlichen Verhältnisse, einschließlich des psychologischen Elements zu analysieren, um dann Kampf, Abwarten oder Rückzug vorzuschlagen. Nur auf Grund dieser praktischen, eng mit der Erfahrung der großen Masse verknüpften Aktivität kann der Gewerkschaftsführer die allgemeinen Tendenzen des faulenden Kapitalismus bloßlegen und die Arbeiter für die Revolution erziehen.

Es ist wohl wahr, dass unsere Epoche politisch durch unerbittlichen Kampf zwischen Sozialismus (Kommunismus) und Faschismus gekennzeichnet ist. Doch das bedeutet leider nicht, dass das Proletariat sich schon überall dieser Alternative bewusst sei, noch auch, dass es in einem gegebenen Lande, zu einem gegebenen Zeitpunkt sich nicht um den Teilkampf zur Erhaltung der demokratischen Freiheiten kümmern brauche. Die Grundalternative: Kommunismus oder Faschismus, die Lenin aufstellte, ist vielfach zu einer leeren Formel geworden, deren sich die Linkszentristen nur allzu häufig bedienen, um ihre Kapitulationen zu decken, oder die Sektierer, um ihre Untätigkeit zu rechtfertigen.

Bei seinem Eintritt in die Regierung der katalanischen Generalidad gab der unselige Andres Nin eine Radioerklärung ab, die mit folgender These begann : «Der Kampf, der jetzt einsetzt, ist kein Kampf zwischen bürgerlicher Demokratie und Faschismus, wie einige denken, sondern zwischen Faschismus und Sozialismus». Das war übrigens die geläufige Formel der POUM. Alle Artikel der «Batalla» waren nur Auslegungen und Varianten davon. Wir haben, z.B. in Belgien, einige Sektierer gesehen, die diese Formel aufgriffen, um darin eine völlige oder teilweise Rechtfertigung der POUM-Politik zu finden. Nin indes hat praktisch die leninistische Formel in ihr Gegenteil verkehrt: er trat in eine bürgerliche Regierung ein, deren Ziel es war, alle Errungenschaften und Stützpunkte der entstehenden sozialistischen Revolution wieder fortzunehmen und zu ersticken. Das Wesen seines Gedankens war ungefähr dies: da dies eine «im Wesen» sozialistische Revolution ist, so kann unser Eintritt in die Regierung ihr nur helfen. Und da ruft der pseudorevolutionäre Sektierer : «Eine Beteiligung an der Regierung ist vielleicht ein Fehler, aber es wäre ein Verbrechen, seine Bedeutung zu übertreiben. Hat nicht Nin anerkannt, dass die Revolution «im Wesen» sozialistisch ist?» Ja, er proklamierte es, aber nur, um eine Politik zu rechtfertigen, die die Grundlagen der Revolution unterhöhlt.

Der sozialistische Charakter der Revolution, der von den sozialen Grundfaktoren unserer Epoche bestimmt ist, bietet sich jedoch nicht schon vom ersten Anfang der revolutionären Entwicklung an fix und fertig und ein für allemal gesichert dar. Nein, seit April 1931 nahm das große spanische Drama den Charakter einer «republikanischen» und «demokratischen» Revolution an. Während der folgenden Jahre verstand es die Bourgeoisie, den Ereignissen ihren Stempel aufzudrücken, obgleich die Alternative Kommunismus oder Faschismus – letzten Endes – voll in Kraft blieb. Je mehr die Linkszentristen und die Sektierer diese Alternative in ein überhistorisches Gesetz verwandeln, umso weniger sind sie imstande, die Massen dem bürgerlichen Einfluss zu entreißen Schlimmer, sie verstärken diesen Einfluss nur. Die POUM hat für ihre Erfahrung teuer gezahlt, ohne übrigens leider daraus die notwendigen Lehren zu ziehen.

Wenn die Linkszentristen sich hinter Lenin verkriechen, um die Revolution in ihren ursprünglichen Rahmen zu fesseln, den der bürgerlichen Demokratie, so schöpfen die Ultralinken aus derselben Leninschen Alternative das Recht, die reale Entwicklung der Revolution zu ignorieren und zu «boykottieren».

«Der Unterschied zwischen der Negrin- und der Francoregierung», habe ich einem amerikanischen Genossen geantwortet, «ist der zwischen der faulenden bürgerlichen Demokratie und dem Faschismus». Mit dieser elementaren Feststellung beginnt unsere politische Orientierung. — Wie?, entrüsten sich die Ultralinken, — man will uns so vor die Wahl zwischen der bürgerlichen Demokratie und dem Faschismus stellen? Aber das ist ja reiner Opportunismus! Die spanische Revolution ist im Grunde ein Kampf zwischen Sozialismus und Faschismus. Die bürgerliche Demokratie ist ganz und gar auswegslos... Und so weiter.

Die Alternative: Sozialismus oder Faschismus bedeutet nur, und das ist ziemlich wichtig, dass die spanische Revolution siegreich sein kann nur durch die Diktatur des Proletariats. Aber das bedeutet keineswegs, dass der Sieg von vorneherein gesichert ist. Es heißt noch – und darin liegt ja eben die ganze politische Aufgabe, – diese zwitterhafte, verworrene, halbblinde und halb-taube Revolution in eine sozialistische zu verwandeln. Es gilt nicht nur zu sagen was ist, sondern auch von dem auszugehen was ist. Die Führung gebenden Parteien, selbst die die von Sozialismus reden, die POUM mit einbegriffen, tun alles was sie können, um die Verwandlung dieser bestohlenen und entstellten Halbrevolution in eine bewusste und vollendete Revolution zu verhindern. Der von ihrem Instinkt getriebenen Arbeiterklasse gelang es allerdings in den höchsten Augenblicken der Revolution, auf dem Wege zum Sozialismus bedeutende Strecken zurückzulegen. Aber während der Ebbe können die Führung gebenden Parteien diese Strecken wiedererobern. Es ist nicht schwer, gestützt auf irgendeine soziologische Verallgemeinerung, über diese widerspruchsvolle Realität hinweg zu springen. Aber damit kommt man nicht einen zollbreit weiter. Es gilt, die materiellen Schwierigkeiten in der Aktion zu überwinden, d.h. durch eine der Realität entsprechende Taktik.

Der militärische Kampf in Spanien wird augenblicklich auf der einen Seite von Franco, auf der anderen von Negrin-Stalin geführt. Stellt Franco den Faschismus dar, Negrin-Stalin jedoch keineswegs den Sozialismus. Im Gegenteil, sie bilden eine «demokratische» Bremse, welche die Bewegung zum Sozialismus hemmt. Die historische Alternative Kommunismus oder Faschismus ist noch nicht politisch zum Ausdruck gekommen. Weit davon entfernt. Seit Juli 1936 wurde die spanische Revolution sogar weit zurückgeworfen hinter das Ziel, das Nin ihr steckte, ohne es zu verstehen. Aber der Bürgerkrieg in Spanien bleibt trotzdem eine Tatsache von grundlegender Wichtigkeit. Diese Tatsache heißt es nehmen wie sie ist, d.h. als den bewaffneten Kampf zwischen zwei sozialen Lagern, die einerseits von der bürgerlichen Demokratie, andererseits vom erklärten Faschismus beherrscht werden. Es gilt eine richtige Haltung in diesem zwitterhaften Kampf zu finden, um ihn von innen her in einem Kampf für die Diktatur des Proletariats zu verwandeln.

Die Negrin-Stalin-Regierung ist eine scheindemokratische Bremse auf dem Wege zum Sozialismus, aber auch eine, gewiss nicht sichere, gewiss nicht dauerhafte, aber immerhin eine Bremse auf dem Wege zum Faschismus. Morgen, übermorgen kann das Proletariat vielleicht diese Bremse zerbrechen und die Macht ergreifen. Aber wenn es hälfe, und sei es auch nur passiv, sie heute zu brechen, so würde es nur dem Faschismus Vorschub leisten. Die Aufgabe ist nicht nur, theoretisch beide Lager richtig einzuschätzen, sondern auch praktisch ihren Kampf zu einem neuen Sprung vorwärts auszunutzen.

Die Linkszentristen wie die unheilbaren «Ultralinken» zitieren oft das Beispiel der bolschewistischen Politik im Konflikt Kerenski-Kornilow, ohne etwas davon zu verstehen. Die POUM sagt: «Aber die Bolschewiki kämpften doch mit Kerenski zusammen». Die Ultralinken erwidern: «Aber die Bolschewiki verweigerten Kerenski selbst unter der Drohung Kornilows jegliches Vertrauen». Alle beide haben recht... zur Hälfte, d.h. alle beide haben vollkommen unrecht. Die Bolschewiki blieben zwischen Kerenskis und Kornilows Lager nicht neutral. Sie kämpften in ersterem gegen letzteres. Sie nahmen das offizielle Oberkommando hin, solange sie nicht stark genug waren, es zu stürzen. Gerade seit August, d.h. seit Kornilows Erhebung datiert der fabelhafte Aufstieg der Bolschewiki. Dieser Aufstieg war möglich nur dank den zwei Seiten der bolschewistischen Politik. Während sie in vorderster Linie am Kampf gegen Kornilow teilnahmen, übernahmen die Bolschewiki nicht die geringste Verantwortung für Kerenskis Politik: im Gegenteil, sie machten ihn für den reaktionären Angriff verantwortlich und bezichtigten ihn der Unfähigkeit, seiner Herr zu werden. So bereiteten sie die politischen Voraussetzungen der Oktoberrevolution vor, in der die Alternative Bolschewismus oder Konterrevolution (Kommunismus oder Faschismus) aus einer historischen Tendenz zu einer lebendigen und unmittelbaren Wirklichkeit wurde.

Diese Lehre müssen wir der Jugend beibringen. Wir müssen ihr die marxistische Methode einimpfen. Aber was die Leute betrifft, die schon einige Jahrzehnte über das Schulalter hinaus sind und die uns — und der Wirklichkeit — hartnäckig immer dieselben Formeln entgegenhalten, die sie übrigens von uns übernommen haben, so muss man sie öffentlich für unheilbar erklären. Es ist notwendig, sie meilenweit von den Stäben entfernt zu halten, wo die revolutionäre Politik erarbeitet wird.

28. September 1937.

1Während wir diese Zeilen schreiben, ist in Spanien anscheinend eine neue „Säuberung" in großem Maßstabe durchgeführt worden. Soweit man aus den absichtlich unklar formulierten Berichten etwas entnehmen kann, richten sich diesmal die Schläge besonders gegen die Anarchosyndikalisten. Möglich, dass es sich um die Vorbereitung einer Aussöhnung zwischen Negrin-Stalin und Franco handelt. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass die Moskauer Bürokratie, die alles mit Hilfe der GPU zu lösen vermeint, auf diese Weise Vorbereitungen auf den ihr stets entgangenen „Sieg" trifft. In Wirklichkeit kann sie nur den Triumph Francos oder die Militärdiktatur von irgendeinem „republikanischen" Miaja vorbereiten, die einer Francodiktatur wie ein Ei dem anderen ähnelt.

Nur völlig Schwachsinnige können irgendwelche Illusionen über die Ziele oder Methoden der stalinistischen Clique oder der Demokratie Negrins haben. Der Kampf zwischen den beiden Lagern kann durchaus in jedem Augenblick zu Ende sein. Die neue so entstandene Situation würde eine neue Taktik bedingen – in Übereinstimmung mit dem gleichen strategischen Ziel. Aber gegenwärtig geht die militärische Auseinandersetzung zwischen Negrin und Franco noch weiter, und die Taktik des heutigen Tages muss von der heutigen Situation diktiert sein.


1 Die folgenden Zeilen fehlen in „Der einzige Weg“ und sind entnommen aus Revolution und Bürgerkrieg in Spanien, S. 286

Kommentare