Leo Trotzki 19191218 Jean Longuet

Leo Trotzki: Jean Longuet

(18. Dezember 1919)

[Die Kommunistische Internationale, Heft 7/8, November-Dezember 1919, S. 24-30]

Teurer Freund! Ein glücklicher Zufall und Jean Longuets sprichwörtliche Liebenswürdigkeit haben mir den stenographischen Text der Rede zukommen lassen, die der sozialistische Deputierte am 18. September dieses Jahres (1919) in der französischen Kammer hielt. Die Rede trägt den Titel: “Gegen den imperialistischen Frieden — für das revolutionäre Russland”. Auf eine halbe Stunde versenkte mich die Broschüre in die Atmosphäre des französischen Parlaments aus der Epoche des Verfalls der bürgerlichen Republik und ließ mich an die erquickende Verachtung denken, mit der sich Marx über die künstliche Atmosphäre des Parlamentarismus äußerte.

Um mit einem Schlage seine Gegner für sich zu gewinnen, beginnt Jean Longuet damit, dass er seine “Kollegen” an die Mäßigung und an die Liebenswürdigkeit erinnert, die ihn in dieser Versammlung niemals verließen. Er schließt sich ganz und vollkommen “den so richtigen Erwägungen an, für die hier unser Kollege Viviani mit seiner wunderbaren Beredsamkeit eingetreten ist”. In dem Augenblick, wo Longuet das Messer seiner Kritik anzusetzen versucht, wollen die besonders frechen Schreier des Imperialismus ihm sofort mit dem Namen Elsaß-Lothringen den Mund stopfen. Oh! Zuvorkommendheit ist Jean Longuets erster Charakterzug. Aus Zuvorkommendheit sucht er in erster Linie einen gemeinsamen Boden mit dem Gegner ausfindig zu machen. Elsaß-Lothringen! hat nicht Longuet jetzt eben gesagt, er fände selbst im Friedensvertrage eine Reihe glücklich gelungener Paragraphen? “Es wurde hier jetzt eben eine Anspielung auf Elsaß-Lothringen gemacht. in diesem Punkte sind wir alle einig”. Und momentan versteckt Jean Longuet die Lanzette seiner Kritik, die wunderbarerweise einem Instrument zum Nägelputzen ähnelt, in der Westentasche.

In seiner Kritik des Friedensvertrages geht Longuet vom Begriff der Nation aus, wie er von niemand anderem als von Renan, diesem reaktionären Jesuiten ohne Gott, definiert wurde. Von Renan, der einen gemeinsamen Boden mit dem nationalistischen Parlament gewährleisten soll, geht Longuet zum befreienden Prinzip der nationalen Selbstbestimmung über, das “von der russischen Revolution aufgestellt und von Präsident Wilson aufgenommen worden ist”. “Gerade dieses Prinzip, meine Herren, ja, das ehrwürdige erhabene Prinzip von Renan, Lenin und Wilson” möchte Jean Longuet im Friedensvertrage verkörpert wissen. Doch “in einer gewissen Anzahl von Fällen (er sagt wirklich: in einer gewissen Anzahl von Fällen) ist das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung im Friedensvertrage unerfüllt geblieben”. Dieser Umstand wirkt auf Longuet betrübend.

Der höfliche Redner wird unterbrochen, man nennt ihn Deutschlands Sachwalter. Jean Longuet verteidigt sich energisch gegen die Anklage, die ihn als Beschützer Deutschlands, d. h. eines zertretenen und bedrückten Landes‚ gegen Frankreich, in Person seiner regierenden Henker, betrachtet. “Meine Freunde in Deutschland" — ruft Longuet aus — "waren [die,] die sich gegen den Kaiser erhoben, jahrelang im Kerker geduldet haben, diejenigen, von denen einige ihr Leben für die Sache geopfert haben, die wir verteidigen”. Um welche “Sache” es sich hier handelt; um die “Wiederherstellung des im Jahre 1871 zertretenen Rechts” oder um die Zerstörung der bürgerlichen Ordnung, darüber sagt Longuet gar nichts. Mit den Leichnamen Liebknechts und Rosa Luxemburgs pariert er die Angriffe der französischen Imperialisten. Wenn die Helden des Kommunismus zu Lebzeiten alle Longuets, diese Aktionäre des Imperialistenblocks, auf dessen einem Flügel der russische Zar stand, beschämten, so sind sie nach dem Tode gerade gut dazu geeignet, um durch vermeintliche Freundschaft mit ihnen den französischen Arbeiter zu imponieren und ihr heldenhaftes Märtyrertum den wütenden Hunden des französischen Imperialismus als Gnadenknochen vorzuwerfen.

Und unmittelbar nach dieser Operation wendet sich Jean Longuet der “schönen Rede unseres Freundes Vandervelde” zu. Ich zähle nach: drei Textzeilen trennen die Erwähnung der Märtyrergestalten Liebknecht und Luxemburg von der Verweisung auf “unseren Freund Vandervelde”. Dort, wo das Leben einen Abgrund aufgerissen hat, wo es zwischen Liebknecht und Vandervelde nichts als die Verachtung eines Revolutionärs gegen einen Verräter bestehen lässt, dort umarmt die Freundschaft des höflichen Longuet auf einmal den Helden und den Abtrünnigen. Nicht genug damit! Und seine Achtung — im Sinne des parlamentarischen Wortgebrauchs — Liebknecht gegenüber zu legalisieren, beruft sich Longuet auf das Zeugnis des königlichen Ministers Vandervelde, der anerkannt hat, — und wer sollte das besser wissen als Vandervelde? — dass zwei Menschen die deutschen Sozialismus gerettet haben: Liebknecht und Bernstein. Aber Liebknecht hielt ja Bernstein für einen erbärmlichen Schleicher des Kapitalismus. Aber Bernstein hielt ja Liebknecht für einen Wahnsinnigen und Verbrecher. Was hat das zu sagen? Auf der Bühne des verreckenden Parlamentarismus, in der künstlichen Atmosphäre von Lüge und Konvention kombiniert der höfliche Longuet mühelos Liebknecht, Vandervelde und Bernstein, wie er jetzt eben Renan, Lenin und Wilson vereinigte.

Aber die Handlanger des Imperialismus im Parlament beeilen sich nicht, den gemeinsamen Boden zu betreten, den Longuet mit seiner Beredsamkeit düngt. Nein, von ihren Positionen wollen sie nicht um eine Spanne weichen. Mögen die Äußerungen des Vandervelde über Liebknecht und Bernstein lauten wie sie wollen, aber die belgischen Sozialisten sind ja für den Friedensvertrag. “Sagen Sie, Herr Longuet, ja oder nein, stimmten die belgischen Sozialisten für den Friedensvertrag? (Sehr gut! Sehr gut!).” Jean Longuet selbst beabsichtigt zum Zweck einer verspäteten Reparatur seines sozialistischen Rufes gegen das Traktat stimmen, dessen Erscheinen er durch sein ganzes Benehmen vorbereitet hat. Deshalb lässt er die Frage ganz einfach unbeantwortet. Ja oder nein? Stimmten die belgischen “Freunde” für den gemeinen, gewissenlosen, ganz von Grausamkeit, Habsucht und Niedertracht durchtränkten Vertrag von Versailles? Ja oder nein? Jean Longuet schweigt. Solange eine Tatsache von der Parlamentstribüne aus nicht festgestellt ist, existiert sie so gut wie gar nicht. Jean Longuet ist nicht verpflichtet, ehrlose Handlungen seines “beredten Freundes Vandervelde” zu zitieren, wenn er die Möglichkeit hat, seine stilisierten Reden zu zitieren.

Und weiter. … Vandervelde! Belgien! Die Neutralitätsverletzung! “Hier sind wir alle einig.” Wir alle brandmarken dieses Niedertreten der Unabhängigkeit des kleinen Landes. Es ist wahr, die Deutschen protestierten mit einer Verspätung. Nichts zu machen, so geht die Geschichte ihren Gang. “Nur langsam, nur allmählich" — erklärt Longuet melancholisch — "erwacht das Gewissen des vergewaltigten und betrogenen Volkes. War es denn nicht bei uns ebenso vor 47 Jahren, nach dem Sturz des Kaisertums?” In dem Moment, wo die wachsamen Kommis des Kapitalismus aufmerksam werden in der Erwartung, Longuet würde sagen: “Unser eigenes Volk, duldet es nicht Eure Herrschaft bis auf den heutigen Tag, ist es nicht von Euch betrogen, niedergetreten, unterdrückt, ist es nicht von Euch in einen internationalen Henker verwandelt? Hat es je ein Zeitalter, hat es ein Volk gegeben, dem der Wille und die Gewalt seiner Regierung eine so schmachvolle, verbrecherisch henkerische Rolle in der Geschichte hat spielen lassen, wie die, die heute vom geknechteten Volk Frankreichs gespielt wird?” — in demselben Moment wälzt der höfliche Jean Longuet 47 Jahre von dem Rücken des französischen Volkes ab, um die verbrecherische Gewalttäterbande, die das Volk betrügt und zertritt, nicht in der siegreichen Regierung Clemenceaus sondern in der längst gestürzten und in ihrer Gemeinheit überflügelten Regierung Napoleons III. zu entdecken.

Und wiederum hält der Deputierte die harmlose Taschenlanzette in der Hand. “Ihr unterstützt Noske mit seinen 1.200.000 Soldaten, die morgen gegen uns eine große Armee werden schaffen können.” Eine überraschende Anklage! Warum sollen denn die Börsenvertreter nicht Noske unterstützen? Das Band des Hasses gegen das revolutionäre Proletariat vereinigt sie. Aber diese Frage — die einzig reale — existiert für Longuet nicht. Er möchte seine Kollegen einschüchtern, dadurch dass er sagt, Noskes Armee werde “gegen uns” auftreten. Gegen wen? Noske erdrosselt Luxemburg, Liebknecht und ihre Partei. Gegen uns — gegen die französischen Kommunisten? Nein, gegen die Dritte Republik, gegen das gemeinsame staatliche Unternehmen von Clemenceau-Bartou-Briand-Longuet.

Abermals Elsaß-Lothringen. Abermals “hierin sind wir alle einig.” Gewiss ist es betrübend, dass kein Plebiszit durchgeführt worden ist. Um so mehr betrübend, da “wir” uns vor einem Plebiszit absolut nicht zu fürchten haben. Übrigens werden die nächsten Wahlen das Plebiszit ersetzen. Unterdessen wird auch Millerand die nötige patriotisch, reinigende Erziehungsarbeit in Elsaß-Lothringen leisten, damit das künftige “Plebiszit" das höfliche Rechtsbewusstsein Longuets mit den Tatsachen der Politik Foch-Clemenceau endgültig aussöhne. Longuet erfleht nur eins — man möge die Reinigungsarbeit mit Maßgefühl durchführen, damit die tiefen Sympathien Elsaß-Lothringens Frankreich gegenüber beeinträchtigt werden”. Man humanisiere ein wenig Millerand, — und alles wird zum Besten verlaufen in dieser besten aller Welten.

Das französische Kapital hat sich des Saarbeckens bemächtigt. Hier gibt es keine “Wiederherstellung des verletzten Rechts”, und kein einziger durchtriebener Reporter hat hier “tiefe Sympathien” entdecken können. Hier gab es nur offenen Raub am helllichten Tage. Longuet ist gekränkt, Longuet ist betrübt. Vom humanitären Standpunkt abgesehen, “ist die Kohle des Saarbeckens, wie die Techniker uns belehren, nicht von bester Qualität." War es denn wirklich nicht möglich — hält Longuet vor — die “uns" nötige Kohle vom gekreuzigten Deutschland aus dem Ruhrgebiet zu nehmen? Wir hätten Kohle von bedeutend besserer Qualität und ohne parlamentarische Schwierigkeiten hinsichtlich der nationalen Selbstbestimmung. Dem Herrn Deputierten fehlt es augenscheinlich nicht an praktischem Sinn.

Gewiss, Jean Longuet ist Internationalist. Er erkennt das selber an. Und wer sollte das besser wissen? Was ist aber Internationalismus? “Wir fassten ihn niemals im Sinne der Erniedrigung des Vaterlandes auf, dabei ist das unsrige so vortrefflich, dass wir nicht gezwungen sind, uns dem Interesse irgend einer anderen Nation entgegenzustellen”. (Chor der Freunde: “Sehr gut! Sehr gut!”). Dieses vortreffliche Vaterland, das Foch-Clemenceau zur Verfügung steht, wird von Longuets Internationalismus keineswegs behindert, die hohe Qualität der Ruhrkohle auszunutzen. Nur muss dies in der parlamentarisch abgerundeten Form geschehen, die, wie wir sehen, von allen unseren Freunden gebilligt wird.

Jean Longuet wendet sich jetzt England zu. Wenn er bei der Beurteilung der Politik seines eigenen Landes sich auf Renans Autorität stützte, so erscheint er auch auf dem Schauplatz der englischen Politik in einer vollkommen respektablen Gesellschaft. Da man nicht umhin kann, Irland zu erwähnen, so “sei es gestattet, der großen Staatsmänner Englands, Gladstones und Campbell-Bannermanns zu gedenken”. Würde von Seiten Englands Irland die Freiheit verliehen werden, so stände der Föderation dieser Länder nichts im Wege. Nachdem Longuet nach der Methode des großen Gladstone Irlands Wohlfahrt gesichert hat, stößt er auf neue Schwierigkeiten: Frankreich selbst hat mehr als ein Irland. Longuet erwähnt Tunis: “Gestatten Sie mir, meine Herren, Sie daran zu erinnern, dass dieses Land während des Krieges Frankreich die edelsten und größten Opfer dargebracht hat. Von 55.000 Kämpfern, die Tunis für Frankreich herausgestellt hat, sind ungefähr 45.000 Tote und Verwundete geblieben — so lauten die offiziellen Zahlenangaben. Und wir sind berechtigt zu sagen, dass diese Nation … durch ihre Opfer sich ein Recht auf größere Gerechtigkeit und größere Freiheit errungen hat”. (Chor der Freunde: “Sehr gut! Sehr gut!”). Die unglücklichen, beklagenswerten Araber aus Tunis, die von der französischen Bourgeoisie in den feuerspeienden Rachen des Kriegsofens geschleudert worden sind, das schwarze Kanonenfutter, das — ohne jegliche Ahnung wofür und wozu — an der Marne und Somme gleich den importierten spanischen Pferden und amerikanischen Büffeln vernichtet wurde — dieser ekligste Schandfleck im niederträchtigen Schauspiel des Weltgemetzels wird von Jean Longuet als hohes und edelmütiges Opfer hingestellt, das zuletzt durch Freiheit gekrönt werden soll. Nach der schlaffen Plauderei über Internationalismus und Selbstbestimmung wird das Recht der Araber von Tunis auf einen Fetzen Freiheit als ein Trinkgeld betrachtet, das die satte und großmütige Börse ihren Sklaven auf die Fürsprache eines ihrer Parlamentsmakler hin vorwirft. Wo sind denn die Grenzen des politischen Verfalls?

Nun kommt aber Russland. Hier macht Jean Longuet mit dem ihm eigenen Taktgefühl als Einleitung eine tiefe Verbeugung vor Clemenceau. “Haben wir hier nicht alle einstimmig unserem Beifall Ausdruck gegeben, als Clemenceau uns von dieser Tribüne aus den Paragraphen vorlas, der den schändlichen Frieden von Brest-Litowsk annulliert?” Bei der Erwähnung des Friedens von Brest-Litowsk gerät Jean Longuet ganz außer sich. “Brest-Litowsk ist das Denkmal der Wildheit und der Ehrlosigkeit des preußischen Militarismus”. Longuet sprüht Blitze und Donner. Kein Wunder: parlamentarische Blitze gegen den längst von der Revolution weggefegten Frieden von Brest-Litowsk — bilden einen so günstigen und glücklichen Hintergrund für die delikaten kritischen Operationen des Deputierten mit dem Frieden von Versailles.

Jean Longuet erklärt sich für den Frieden mit Sowjetrussland. Aber selbstverständlich keineswegs in einem kompromittierenden Sinne. Nein, Longuet kennt ganz genau den rechten Weg zum Frieden. Diesen Weg hat selbst Wilson betreten, als er seinen Bevollmächtigten Bullit nach Sowjetrussland sandte. Der Sinn und der Inhalt der Mission Bullits sind jetzt zur Genüge bekannt. Seine Bedingungen bildeten eine potenzierte Reproduktion der Kühlmann- und Czernin-Paragraphen von Brest-Litowsk. Hier gab es sowohl Russlands Zergliederung, als auch eine grausame wirtschaftliche Ausplünderung. Doch … wählen wir lieber für unser Gespräch ein anderes Thema. Wilson hält bekanntlich an der nationalen Selbstbestimmung fest, und Bullit … “Ich betrachte Herrn Bullit als einen der aufrichtigsten, ehrlichsten und wohlgesinntesten aller Menschen, die ich jemals traf”. Wie erfreulich es ist, von Longuet belehrt zu werden, dass Rechtschaffenheit noch nicht aufgehört hat bei der amerikanischen Börse in Kost zu sein, und dass es in der französischen Kammer immer noch Deputierte gibt, die die amerikanische Tugend richtig zu schätzen wissen.

Nachdem Longuet Clemenceaus und Bullits Güte gegen Russland volle Anerkennung gezollt hat, lässt er auch die Sowjetrepublik nicht unbelobigt. “Keiner" — sagt er — "wird glauben wollen, dass das Sowjetregime zwei Jahre hindurch hätte bestehen können, wenn es nicht die breitesten Massen des russischen Volkes hinter sich hätte. Es hätte nicht eine Armee von 1.200.000 Soldaten schaffen können, die von den besten Offizieren des alten Russland geführt werden und mit einem Enthusiasmus der Freiwilligen vom Jahre 1793 kämpfen”. In diesem Moment seiner Rede erreicht Longuet den Kulminationspunkt. Während er der Konventarmeen gedenkt, versinkt er in die nationale Tradition, verdeckt alle Klassengegensätze, vereinigt sich in heroischen Erinnerungen mit Clemenceau und liefert gleichzeitig eine historische Formel für die indirekte Adoptierung des Sowjetstaates und der Sowjetarmee.

So ist Longuet. So ist der offizielle französische Sozialismus. So ist der Parlamentarismus der Dritten Republik in seinem besonders “demokratischen" Ausdruck. Konvention und Phrase, Welkheit und Verschlagenheit, höfliche Lüge, Argumente und Handgriffe eines kleinen Sachwalters, der aber seine Tribüne ganz ernst für den Schauplatz der Geschichte hält. Jetzt, wo Klasse gegen Klasse offen ins Feld zieht, wo die historischen Ideen bis an die Zähne bewaffnet sind und wo Eisen in ihrem Rechtsstreit entscheidet, welch beleidigende Verhöhnung unserer Epoche sind jetzt “Sozialisten" vom Schlage Longuet. Wir sahen ihn jetzt eben: er verbeugt sich nach rechts, er macht Kratzfüße nach links, er betet zum großen Gladstone, der Irland betrog, er fällt in die Knie vor seinem leiblichen Großvater Marx, der den Heuchler Gladstone verachtete und hasste, er preist den Zarengünstling Viviani, den ersten Ministerpräsidenten des imperialistischen Krieges, kombiniert Renan mit der russischen Revolution, Wilson mit Lenin, Vandervelde mit Liebknecht, verfertigt für das “Völkerrecht" ein Fundament aus Kohle vom Ruhrgebiet und aus Gebeinen von Tunis, und während er alle diese unglaublichen Wunderdinge verrichtet, mit denen verglichen Feuer zu schlucken ein Kinderspiel ist, bleibt Longuet sich selbst gleich, er steht da als höfliche Verkörperung des offiziellen Sozialismus und als Krönung des französischen Parlamentarismus.

Teurer Freund! Es ist Zeit, mit diesem andauernden Missverständnis aufzuräumen. Allzu groß sind die Fragen und Aufgaben, die die französische Arbeiterklasse zu lösen hat, sie sind zu scharf gestellt, als dass man das gleichzeitige Bestehen des verachtenswerten Longuetismus und der großen Realität des proletarischen Kampfes um die Macht länger dulden könnte. Mehr als alles übrige brauchen wir Klarheit und Wahrheit. Jeder Arbeiter muss ganz genau wissen, wer sein Freund, wer sein Feind, wer ein zuverlässiger Kampfgenosse und wer ein schnöder Verräter ist. Liebknecht und Luxemburg sind unser, Longuet und Vandervelde dagegen müssen unbarmherzig in den gleichen Müllhaufen mit der Bourgeoisie geworfen werden, aus dem sie vergeblich auf den sozialistischen Weg herauszuklettern versuchen. Unser Zeitalter fordert vollwichtige Gedanken und Worte als Vorbedingung vollwichtiger Taten. Wir brauchen nicht mehr die veralteten Dekorationen des Parlamentarismus, sein Halbdunkel, seine optischen Täuschungen. Das Proletariat Frankreichs braucht die frische und kühne Luft der proletarischen Straße, einen präzisen Gedanken im Kopf, einen festen Willen im Herzen und — eine Büchse in der Hand.

Mit dem Longuetismus aufzuräumen, das fordert unverzüglich die politische Hygiene. Und wenn Longuets Rede in mir ein Gefühl erregte für das die höfliche Sprache des Parlamentarismus keine passende Bezeichnung hat, so denke ich jetzt, am Schluss meines Briefes, mit Freuden an die herrliche Reinigungsarbeit, die das feurige französische Proletariat im durch und durch verunreinigten Gebäude der bürgerlichen Republik ausführen wird, wenn es endlich an die Lösung seiner letzten historischen Aufgaben herantritt.

Moskau, den 18. Dezember 1919.

L. Trotzki.

Kommentare