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Leo Trotzki 19210710 Die Hauptlehren des dritten Kongresses

Leo Trotzki: Die Hauptlehren des dritten Kongresses

(10. Juli 1921)

[Kommunist, 4. August 1921]

Die Klassen haben ihren Ursprung in der Produktion. Sie sind solange lebensfähig, solange sie die notwendige Rolle im Prozess der allgemeinen Organisation der Arbeit spielen. Die Klassen verlieren den Boden unter den Füßen, wenn die Bedingungen ihrer ferneren Existenz in Widerspruch mit dem Wachstum der Produktion, d.h. mit der weiteren Entwicklung der Wirtschaft kommen. In einer solchen Lage befindet sich jetzt die Bourgeoisie.

Das bedeutet aber durchaus nicht, dass die Klasse, deren Wurzel abgestorben ist und die zum Parasiten geworden ist, schon sofort zugrunde gehen muss. Wenn auch das Fundament der Klassenherrschaft die Wirtschaft ist, so halten sich dennoch die Klassen unmittelbar durch die staatlich-politischen Apparate und Organe wie Armee, Polizei, Parteien, Gerichte, Presse usw. Mit Hilfe dieser Organe, die den „Überbau“ des wirtschaftlichen Fundaments darstellen, kann sich die herrschende Klasse noch Jahre und Jahrzehnte, nachdem sie bereits zu einem direkten Hemmnis für die gesellschaftliche Entwicklung geworden ist, an der Macht halten. Wenn dieser Zustand sich zu lange hinauszieht, so kann die herrschende Klasse das Land und das Volk, welches sie beherrscht, bei ihrem Untergange mitreißen.

Daraus folgt die Notwendigkeit der Revolution. Die neue Klasse, die neue Wurzel der wirtschaftlichen Entwicklung, liegt im Proletariat. Das Proletariat muss die Bourgeoisie stürzen, ihr die Macht aus den Händen reißen und muss den Staatsapparat in eine Waffe der Reorganisation der Gesellschaft umwandeln.

Die Bourgeoisie war schon vor dem Weltkriege zum Parasiten, zur antisozialen Klasse geworden. Im Kriege aber hat sich am deutlichsten gezeigt, dass sich die Herrschaft der Bourgeoisie mit der Weiterentwicklung, sogar mit einer ferneren Erhaltung der Wirtschaft im Widerspruch steht. Der Krieg hat nicht nur diesen Widerspruch zutage gefördert, sondern ihn noch verstärkt und bis zum Äußersten zugespitzt. Während des Krieges haben sich die politischen Organe der bürgerlichen Herrschaft, Staat, Armee, Polizei, Parlament, Presse bis zum Äußersten diskreditiert und geschwächt. In der ersten Zeit nach dem Kriege war die Bourgeoisie gänzlich desorientiert, fürchtete die Abrechnung, hatte das Vertrauen auf die alten Methoden und Gewohnheiten der Herrschaft verloren, sondierte ängstlich den Boden, schwankte und machte Zugeständnisse. In dem für die Bourgeoisie kritischen Jahre, 1919, hätte das europäische Proletariat sich mit den geringsten Opfern der Staatsmacht bemächtigen können, wenn an seiner Spitze eine tatsächlich revolutionäre Organisation gestanden hätte, die sich klare Ziele gesetzt und fähig gewesen wäre, sie zu verfolgen, d.h. wenn an ihrer Spitze die Kommunistische Partei gestanden hätte. Das war aber nicht der Fall. Im Gegenteil: die Arbeiterklasse, die nach dem Kriege für sich neue Existenzbedingungen zu erobern versuchte und die bürgerliche Gesellschaft angriff, schleppte auf ihrem Rücken die Parteien und Gewerkschaften der Zweiten Internationale, deren Anstrengungen - bewusst oder instinktiv - im Wesentlichen auf die Erhaltung der kapitalistischen Gesellschaft gerichtet waren.

Die Bourgeoisie, die sich hinter der Sozialdemokratie deckte, nützte die Kampfpause auf das Vorzüglichste aus. Sie erholte sich von der Panik, stellte ihre staatlichen Organe wieder her, ergänzte sie durch konterrevolutionäre bewaffnete Banden, warb politische Spezialisten für den Kampf mit der offenen revolutionären Bewegung an, die mit Hilfe kombinierter Methoden der Einschüchterung, der Bestechung, Provokation, Isolierung, Teilung usw. arbeiteten. Die Hauptaufgabe dieser Spezialisten besteht darin, den einzelnen getrennten Teilen der proletarischen Vorhut eine Reihe von Kämpfen zu liefern, sie zur Ader zu lassen und dadurch den Arbeiterklasse den Glauben an den möglichen Erfolg zu rauben.

Auf dem Gebiete der Wiederherstellung der Wirtschaft hat die Bourgeoisie in den drei Jahren nach dem Kriege nichts Wesentliches geleistet. Im Gegenteil, erst jetzt entfalten sich die Folgen des Krieges in ihrem ganzen Umfang in Form einer in der kapitalistischen Geschichte noch nie dagewesenen Krisis. Wir sehen auf diese Weise besonders deutlich, dass z.B. die politischen Bedingungen der Gewerkschaft, wenn sie auch letzten Endes von den wirtschaftlichen Bedingungen abhängen, durchaus nicht parallel und automatisch mit ihnen verlaufen. Während auf dem Gebiete des Verkehrs und der Produktion der kapitalistische Weltapparat vollkommen darnieder liegt, so dass der Zustand des Jahres 1919 im Vergleich mit dem jetzigen höchste Wohlfahrt bedeutet, hat es die Bourgeoisie auf politischem Gebiete verstanden, die Organe und Waffen ihrer Herrschaft in hohem Grade zu festigen. Die Führer der Bourgeoisie sehen sehr deutlich den wirtschaftlichen Abgrund, der sich vor ihnen auftut. Sie sind aber bereit und werden bis zum Ende kämpfen. Sie sehen die geschaffene Lage als eine Frage der politischen Strategie an. Sie verfolgen kühn jede Bewegung des Proletariats, bemühen sich, dasselbe zu schwächen, besonders in Deutschland, wo sie es in einer Reihe blutiger Einzelkämpfe zersplittern.

Die Arbeiter haben diese drei Jahre viel gekämpft und schwere Opfer gebracht. Es gelang ihnen nicht, die Macht zu erobern. Die Arbeiterklasse wurde deshalb vorsichtiger, als sie in den Jahren 1919-20 war. Bei einer Reihe elementarer und halbelementarer Angriffe sind die Arbeiter jedes Mal auf einen besser organisierten Widerstand gestoßen und wurden zurückgeschlagen. Sie begriffen und fühlten, dass für den Erfolg eine feste Führung und revolutionäre Strategie notwendig sei. Wenn die Arbeitermassen jetzt nicht mehr unmittelbar auf revolutionäre Losungen wie im Jahre 1918 und 1919 reagieren, so nicht deshalb, weil sie weniger revolutionär, sondern weil sie weniger naiv geworden sind. Sie wünschen eine Garantie für den Sieg. Nur die Partei kann sie zu dem entscheidenden Kampf führen, welche in der Praxis unter allen Umständen und Bedingungen nicht allein ihre Bereitwilligkeit zu kämpfen, d.h. ihren Mut beweist, sondern auch ihre Fähigkeit, Massen im Kampfe zu führen, zu manövrieren, anzugreifen, aus dem Feuer zu führen, wenn die Bedingungen ungünstig sind, alle Kräfte und Mittel für den Schlag zusammenzufassen und dadurch systematisch ihren Einfluss auf die Massen und ihre Autorität zu erhöhen. Es ist zweifellos, dass sich die Parteien der Kommunistischen Internationale nicht in genügendem Maße Rechenschaft von dieser Aufgabe gegeben haben. Darin liegt die Hauptquelle der taktischen Fehler und der inneren Krisen der einzelnen kommunistischen Parteien.

Die rein mechanische Vorstellung über die proletarische Revolution, die nur aus der Tatsache des andauernden Verfalles der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, brachte einige Gruppen von Genossen zu der im Grunde falschen Theorie der Initiative der Minderheit, die durch ihren Heldenmut die „Mauer der allgemeinen Passivität“ des Proletariats niederreißt und der ununterbrochenen Angriffe der proletarischen Vorhut als neue Kampfmethode der Teilkämpfe, die mit der Anwendung von Methoden des bewaffneten Aufstands usw. spielen (am deutlichsten findet sich diese Tendenz in der Wiener Zeitschrift „Kommunismus“.) Es ist selbstverständlich, dass diese Art von taktischer Theorie mit Marxismus nichts gemein hat. Ihre Anwendung kommt der Strategie der militärpolitischen Führer der Bourgeoisie gleich.

Es besteht kein Zweifel, dass die abenteuerlichen Methoden und Theorien, als Reaktion gegen die reformistischen und zentristischen Strömungen, in der Arbeiterklasse entstanden und deren direkte Ergänzung sind. Während die reformistischen und zentristischen Strömungen eine äußere Kraft und ein offener Feind sind, sind die abenteuerlichen und subjektiven Strömungen hauptsächlich eine innere Gefahr, deren Geringschätzung unverzeihlich wäre. Das Übel der revolutionären Subjektivität besteht nach einem Ausdruck Dr. Herzens darin, dass es eine zwei- oder fünfmonatige statt einer neunmonatigen Schwangerschaft annimmt. Das blieb noch nie ungerächt.

Der dritte Kongress konstatierte den weiteren Verfall der weltwirtschaftlichen Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft. Er warnt aber gleichzeitig energisch die bewussten Arbeiter vor der naiven Vorstellung, dass daraus automatisch der Untergang der Bourgeoisie auf dem Wege von unausgesetzten Offensiven des Proletariats folgt. Noch niemals war der Instinkt der Klassenselbsterhaltung der Bourgeoisie mit solch verschiedenartigen Methoden der Verteidigungen und des Angriffs ausgerüstet wie jetzt. Die wirtschaftlichen Vorbedingungen des Sieges der Arbeiterklasse sind augenscheinlich. Ohne diesen Sieg droht in naher oder ferner Zukunft der Verfall und das Verderben der ganzen Zivilisation. Dieser Sieg kann aber nur errungen werden durch eine vernünftige Führung der Kämpfe und in erster Linie durch die Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse. Das ist die Hauptlehre des 3. Kongresses.

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