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Leo Trotzki 19190309 An die Genossen des Spartakusbundes

Leo Trotzki: An die Genossen des Spartakusbundes

[Eigene Übersetzung nach The first five years of the Communist International, Band 1, New York 1945, S. 39-43]

Mit der größten Bereitschaft und Freude gehe ich auf den Vorschlag des Genossen Albert, den Delegierten der deutschen Kommunistischen Partei [auf dem Ersten Kominternkongress] ein, ein paar Zeilen für die deutsche Parteipresse zu schreiben.

Da ich wie alle russischen Marxisten während meines Emigrantendaseins ein Schüler des deutschen Sozialismus war, arbeitete ich eine Reihe von Jahren lang nach Kräften an der deutschen Parteipresse mit. Mit besonderem Dank nutze ich diese Gelegenheit, meine Zusammenarbeit – unter den bestehenden, extrem geänderten Bedingungen – wiederaufzunehmen.

In diesen Jahren hat der Hegelsche Maulwurf der Geschichte eifrig seine unterirdischen Tunnel gegraben; vieles, was einst fest gestanden hatte, liegt jetzt in Ruinen – vieles, was schwach war, oder zu sein schien, ist jetzt mächtig geworden. Moskau pflegte zu Recht als die Verkörperung der Weltreaktion betrachtet zu werden. Heute wurde Moskau zum Versammlungsort der Dritten Kommunistischen Internationale. Früher konnte ich das Berlin der Hohenzollern nur mit Hilfe eines falschen Passes betreten. (Ich möchte mich im Nachhinein bei den geschätzten Gendarmen der preußischen Monarchie entschuldigen, die jetzt die Rolle von Wächtern der Republik erfüllen.) Heute … beiläufig können auch heute die Tore Berlins nicht als offen für russische Kommunisten betrachtet werden. Aber ich hoffe auf die Öffnung dieser Tore, wir werden nicht so lange warten müssen, wie wir bereits gewartet haben. Es gab auch in der deutschen Sozialdemokratie ein paar Änderungen. Genosse Albert bestätigt, was wir nie bezweifelten, nämlich, dass die deutschen Arbeiter dem Kampf der russischen Arbeiterklasse nicht nur aufmerksam, sondern mit leidenschaftlicher Sympathie folgen. Weder die gewissenlosen Verleumdungen der Bourgeoisie noch die geschmackloseste Kritik von Karl Kautsky hat sie von dieser Sympathie abgelenkt.

Von Kautsky haben wir gehört, dass die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse zwar die historische Aufgabe der Sozialdemokratie ist, aber die Sowjetmacht zur Korrektur und Reform an Kerenski, Zeretelli und Tschernow ausgehändigt werden muss, weil die russische Kommunistische Partei weder durch die Tore noch zu der Zeit an die Macht genommen ist, die Kautsky vorgeschrieben hatte.

Kautskys pedantisch-reaktionäre Kritik muss für die deutschen Genossen, die die Periode der ersten russischen Revolution bewusst erlebt und die Artikel von Kautsky 1905/6 gelesen haben, um so unerwarteter kommen. Damals verstand Kautsky (zugegebenermaßen nicht ohne den wohltätigen Einfluss von Rosa Luxemburg) gründlich, dass die russische Revolution nicht mit einer bürgerlich-demokratischen Republik zufrieden sein könne, sondern wegen dem Niveau des Klassenkampfes im Lande und wegen den gesamten internationalen Verhältnissen des Kapitalismus zur Diktatur der Arbeiterklasse führen muss. Kautsky schrieb damals entschieden für eine Arbeiterregierung mit einer sozialdemokratischen Mehrheit. Es kam ihm damals nicht einmal in den Sinn, den tatsächlichen Verlauf des Klassenkampfes von irgend welchen vorübergehenden und oberflächlichen Kombinationen der politischen Demokratie abhängig zu machen. Kautsky verstand damals, dass die Revolution zum ersten Mal die viele Millionen starken bäuerlichen und Mittelschichtmassen wecken würde; und das würde nicht auf einen Schlag geschehen, sondern schrittweise, Schicht für Schicht, so dass im entscheidenden Augenblick im Kampf zwischen dem Proletariat und der kapitalistischen Bourgeoisie die breiten Bauernmassen immer noch auf einem äußerst primitiven Niveau der politischen Entwicklung sein und ihre Stimmen den politischen Zwischenparteien geben würden, was nur die Rückständigkeit und die Vorurteile der Bauernschaft widerspiegeln würde. Kautsky verstand damals, dass das Proletariat, wenn es durch die Logik der Revolution bei der Eroberung der Macht ankam, diese Aktion nicht willkürlich in eine unbestimmte Zukunft vertagen könne, weil so ein Akt der Selbstverleugnung nur der Konterrevolution den Boden bereiten würde. Kautsky verstand damals, dass das Proletariat, nachdem es die revolutionäre Macht in seine Hände genommen hat, die Schicksal der Revolution nicht von den schwankenden Stimmungen der am wenigsten bewussten und noch unaufgeweckten Massen zu einem bestimmten Zeitpunkt abhängig machen würde, sondern im Gegenteil die ganze Staatsmacht, die es in seinen Händen konzentriert hätte, in einen mächtigen Apparat zur Aufklärung und Organisierung der rückständigsten und unwissendsten Bauernmassen verwandeln würde. Kautsky verstand, dass es bedeuten würde, völlig unwissend dem gegenüber zu bleiben, was unter der Sonne geschah, wenn man das Etikett „bürgerlich” an die russische Revolution kleben und damit ihre Aufgaben beschränken würde. Er anerkannte ziemlich richtig – zusammen mit den revolutionären Marxisten Russlands und Polens – dass im Fall, dass das russische Proletariat vor der europäischen Arbeiterklasse die Macht erlangte, es die Stellung als herrschende Klasse würde nutzen müssen, um mit allen Mitteln die Ausdehnung der proletarischen Revolution in Europa und der ganzen Welt zu fördern – und sei es nur zur Rettung der russischen Revolution, indem letztere zu einem integralen Teil der europäischen Revolution gemacht und so der Übergang Russlands zu einem sozialistischen System beschleunigt würde. Damals wurden alle diese Weltperspektiven, die vom wirklichen Geist der marxistischen Lehre durchdrungen waren, natürlich weder von Kautsky noch von uns irgendwie davon abhängig gemacht, wie und für wen die Bauernschaft im November-Dezember 1917 bei den Wahlen zur sogenannten Verfassunggebenden Versammlung stimmen würde.

Heute, wo die vor 15 Jahren skizzierten Perspektiven Wirklichkeit geworden sind, weigert sich Kautsky, der russischen Revolution einen Echtheitsstempel auszustellen, weil die russische Revolution nicht von der politischen Abteilung der bürgerlichen Demokratie gesetzlich bestätigt wurde. Eine erstaunliche Tatsache! Welche unglaubliche Herabwürdigung des Marxismus! Man kann mit völliger Berechtigung sagen, dass der Zusammenbruch der Zweiten Internationale in der philisterhaften Haltung seines herausragenden Theoretikers gegenüber der russischen Revolution einen noch schändlicheren Ausdruck findet als in der Abstimmung vom 4. August 1914 für die Kriegskredite.

Für eine Reihe von Jahren förderte und verteidigte Kautsky die Ideen der sozialen Revolution. Heute, wo die Revolution gekommen ist, scheut Kautsky entsetzt vor ihr zurück. Er schwört der Sowjetmacht in Russland ab, er lehnt die mächtige Bewegung des kommunistischen Proletariats in Deutschland feindselig ab. Kautsky erinnert sehr an einen Lehrer, der jahrein, jahraus in den abgeschossenen vier Wänden seines Klassenzimmers seine Schüler den Frühling beschreiben lässt und dann gegen Ende seiner pädagogischen Laufbahn zufällig in die Natur im Frühling stolpert, den Frühling nicht erkennt, durchdreht (soweit Durchdrehen einem Lehrer angemessen ist) und zu beweisen beginnt, dass in der Natur die größte Unordnung herrscht, dass heißt, dass der wirkliche Frühling überhaupt kein Frühling ist, weil er im Gegensatz zu den – Naturgesetzen stattfindet. Wie gut ist es, dass die Arbeiter nicht einmal auf die Pedanten mit der größten Autorität hören, sondern auf die Stimme des Frühlings hören.

Wir, die Schüler der deutschen Philosophie, die Schüler von Marx, bleiben zusammen mit den deutschen Arbeitern überzeugt, dass der Frühling der Revolution ganz in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen und gleichzeitig den Gesetzen der Marxschen Theorie stattfindet, denn der Marxismus ist keine übergeschichtliche Kindergartenrute ist, sondern die Gesellschaftsanalyse der Wege und Methoden eines sich tatsächlich entfaltenden geschichtlichen Prozesses.

Wir lernten gleichfalls vom Genossen Albert, dass die revolutionären deutschen Arbeiter die Anklagen zurückweisen, die seinerzeit von der selben kautskyanischen Unabhängigen Partei gegen uns erhoben wurden, die uns dafür verurteilten, dass wir es für möglich hielten, den Frieden von Brest-Litowsk mit dem siegreichen deutschen Militarismus zu schließen. Bernstein veröffentlichte seinerzeit literarische Produktionen, in denen er uns nicht nur hart verurteilte, weil wir den Frieden mit den Hohenzollerndiplomaten geschlossen hatten, sondern seine Kritik auch mit den finstersten Beleidigungen ergänzte. Er beschuldigte uns – nicht mehr und nicht weniger – der bewussten Täuschung der russischen Arbeiter bezüglich der Unausweichlichkeit der deutschen Revolution – einzig zu dem Zweck, unsere Intrigen mit der Hohenzollernregierung zu verdecken. Ich verzichte darauf, darauf hinzuweisen, dass diese „Theoretiker des Marxismus”, die sich selbst für wirkliche Realisten und Weise halten, selbst einen Monat vorher die Unausweichlichkeit einer sozialen Katastrophe in Deutschland nicht verstanden, während wir „Utopisten” sie vom ersten Tag des Krieges an vorhergesagt hatten. Aber ist es nicht erstaunliche politische Dummheit, gleichzeitig die deutsche Revolution für unmöglich zu erklären und von der Regierung eines geschwächten und erschöpften Landes wie Russland zu fordern, dass es um jeden Preis – Hand in Hand mit dem englischen Imperialismus – einen Krieg gegen die Hohenzollern führen solle? Laut Bernstein & Co begingen wir die Sünde, den Kampf gegen den deutschen Imperialismus nicht zu unserem Monopol zu machen und unsere Hoffnungen auf die revolutionäre Tätigkeit des deutschen Proletariats zu setzen. Aber auch hier waren wir im Recht. Im Gegensatz zu der Logik der Pedanten und Schullehrer hat die deutsche Arbeiterklasse mit der Monarchie abgerechnet und geht den richtigen Weg zur völligen Zerstörung der Herrschaft der Bourgeoisie. Leider habe ich nicht die Gelegenheit, mich zu überzeugen, ob jetzt die englischen und französischen Bernsteins die deutsche Arbeiterklasse beschuldigen, dass sie gezwungen ist, einen Frieden mit dem anglo-französischen Imperialismus zu schließen. Aber wir russischen Kommunisten bezweifeln keinen Augenblick, dass der schreckliche Friede, der jetzt dem deutschen Volk von den Weltbanditen auferlegt wird, den herrschenden Klassen der Entente völlig zum Schaden gereichen wird.

Weil das Argument der illegitimen Geburt der Diktatur des Proletariats in Russland keinen großen Einfluss auf die deutschen Arbeiter hat, wird jetzt ein neues Argument vorgebracht, um die russische Revolution zu verleumden. Stellt euch vor, die Sowjetregierung hat das Ziel, mit der Roten Armee in Ostpreußen einzufallen. Wir zweifeln nicht, dass auch diese Fiktion, die politische Scharlatane verbreiten, um Idioten zu ängstigen und zu täuschen, von den deutschen Arbeitern nicht geglaubt werden wird. Es ist unsere feste Überzeugung, dass wir unsere Pflicht gegenüber der internationalen Revolution erfüllen, wenn wir die Herrschaft der Arbeiterklasse auf dem Boden Russlands erhalten. Diese Aufgabe erfordert von dem russischen Proletariat eine ungeheure Anspannung der Kräfte und revolutionäre Aufopferung. Bis jetzt ist unsere Rote Armee mit dieser Aufgabe erfolgreich fertig geworden. In den letzten sechs Monaten hat sie 700.000 Quadratkilometer mit einer Bevölkerung von 42.000.000 befreit. Wir erwarten zuversichtlich, dass die Arbeiter- und Bauernarmee nicht nur die sozialistische Macht auf diesem Gebiet erhalten, sondern auch jene Provinzen der Föderationsrepublik säubern wird, wo die Macht der Bourgeoisie noch mit der Unterstützung des ausländischen Imperialismus aufrechterhalten wird. Bezüglich Deutschlands betrachten wir die Aufgabe seiner Umgestaltung in eine sozialistische Republik vor allem als Sache des deutschen Proletariats. Genau aus diesem Grund ist die Sache in festen und zuverlässigen Händen. Wir senden dem deutschen Proletariat unsere leidenschaftlichen Grüße und bitten es zu glauben, dass sie dem Herzen aller russischen Kommunisten nie so nahe und teuer waren wie heute, wo sie unter den unglaublichen Härten im Kampf gegen Verräter und Wendehälse auf einem Weg, der von den Leichen ihrer besten Kämpfer wie Liebknecht und Luxemburg gesäumt ist unermüdlich und mutig zum endgültigen Sieg marschieren.

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