Leo Trotzki‎ > ‎Komintern‎ > ‎

Leo Trotzki 19221228 Bericht über den Vierten Kominternkongress

Leo Trotzki: Bericht über den Vierten Kominternkongress

(auf einer Versammlung der Kommunistischen Fraktion des 10. Allunionskongresses der Sowjets unter Beteiligung parteiloser Delegierter)

[Eigene Übersetzung nach The first five years of the Communist International, Band 2, London 1974, S. 304-333]

Genossen,

Sie habt mich eingeladen, einen Bericht, über den jüngsten Weltkongress der Kommunistischen Internationale zu geben. Ich denke, das heißt nicht, dass Sie eine Tatsachenzusammenfassung der Arbeit des letzten Kongresses wollen, denn in diesem Fall wäre es viel geschickter, sich den Sitzungsprotokollen zuzuwenden, die schon in gedruckten Bulletins verfügbar sind, statt einem Bericht zuzuhören. So wie ich meine Aufgabe verstehe, ist sie, zu versuchen, Ihnen eine Bewertung der allgemeinen Lage der revolutionären Bewegung und ihrer Perspektiven im Lichte jener Fakten und Fragen zu geben, vor denen wir auf dem Vierten Weltkongress standen.

Das setzt natürlich eine größere oder geringere Vertrautheit mit den Bedingungen der internationalen revolutionären Bewegung voraus. Lassen Sie mich nebenbei bemerken, das unsere Presse leider keineswegs alles tut, was sie sollte, um uns so eng mit den Tatsachen der Weltarbeiterbewegung, besonders der kommunistischen Bewegung, vertraut zu machen, wie es unsere Presse meinetwegen mit Fakten macht, die unser Wirtschaftsleben, unseren Sowjetaufbau betreffen. Aber für uns sind das Erscheinungen von gleicher Wichtigkeit. Was mich betrifft, habe ich mehr als einmal zu Guerillaaktionen gegriffen (entgegen meiner Gewohnheit), um unsere Presse die außerordentlichen Möglichkeiten nutzen zu lassen, die uns zur Verfügung stehen, um unsere Partei mit einem vollständigen, konkreten und genauen Bild dessen zu versorgen, was im Bereich des revolutionären Kampfes stattfindet. Das sollte auf täglicher Grundlage ohne Dozieren, Predigen oder Verallgemeinerungen (denn wir brauchen Verallgemeinerungen nur von Zeit zu Zeit) stattfinden, sondern einfach Tatsachen und Material aus dem inneren Leben jeder kommunistischen Partei liefern.

Ich denke, dass an diesem Punkt der Druck der öffentlichen Meinung der Partei auf unsere Presse ausgeübt werden sollte, deren Herausgeber die ausländischen Zeitungen lesen und die auf der Grundlage dieser Presse von Zeit zu Zeit Verallgemeinerungen anbieten, aber praktisch kein Faktenmaterial. Aber insofern hier die Fraktion des Sowjetkongresses und folglich hochqualifizierte Parteielemente versammelt sind, kann ich für den Zweck meines Berichts eine allgemeine Vertrautheit mit den tatsächlichen Bedingungen der Kommunistischen Parteien und anderer Parteien, die auf die Arbeiterbewegung Einfluss haben, voraussetzen. Meine Aufgabe besteht darin, unsere allgemeinen Kriterien, unsere Sicht bezüglich der Bedingungen für und die Tempos der Entwicklung der proletarischen Revolution vom Standpunkt der neuen Fakten zur Überprüfung vorzulegen, besonders jener Fakten, die uns durch den Vierten Kongress der Komintern geliefert wurden.

Genossen, ich möchte gleich am Anfang sagen, dass wir bei der Einschätzung der Arbeiterbewegung und ihrer revolutionären Möglichkeiten im Kopf haben sollten dass es drei große Bereiche gibt, die zwar von einander abhängig sind, sich aber zutiefst voneinander unterscheiden, damit wir nicht verwirrt werden und unsere Perspektive verlieren. Erstens gibt es Europa; zweitens Amerika; und drittens die kolonialen Länder, das heißt vor allem Asien und Afrika. Die Notwendigkeit, die Weltarbeiterbewegung nach diesen drei Bereichen zu analysieren, ergibt sich aus dem Charakter unserer revolutionären Kriterien.

Der Marxismus lehrt uns, dass es schematisch gesprochen drei Voraussetzungen der Bedingungen geben muss, damit die proletarische Revolution möglich wird. Die erste Voraussetzung sind die Produktionsbedingungen. Die Produktionstechnik muss eine solche Höhe erreicht haben, um die Ersetzung des Kapitalismus durch den Sozialismus wirtschaftlich vorteilhaft zu machen. Zweitens muss es ein Klasseninteresse geben, um diese Veränderung herbeizuführen und es muss ausreichend stark sein, um das zu erreichen, das heißt eine Klasse, die zahlenmäßig groß genug ist und eine genügend wichtige Rolle in der Wirtschaft spielt, um diese Veränderung herbeizuführen. Und drittens muss diese Klasse bereit sein, die Revolution durchzuführen. Sie muss den Willen haben, sie durchzuführen, sie muss ausreichend organisiert und bewusst sein, um fähig zu sein, sie durchzuführen. Wir gehen hier in das Gebiet des sogenannten subjektiven Faktors und der subjektiven Voraussetzungen der proletarischen Revolution über. Wenn wir an die angesprochenen drei Bereiche mit diesen drei Kriterien – produktiv-technologisch, gesellschaftlich-klassenmäßig und subjektiv-politisch – herangehen, dann wird der Unterschied zwischen ihnen deutlich sichtbar. Es ist sehr wahr, dass wir früher die Frage der Bereitschaft der Menschheit für den Sozialismus vom produktiv-technologischen Standpunkt viel abstrakter zu betrachten pflegten als wir es heute tun. Wenn man in alten Büchern nachschlägt, selbst in den noch nicht veralteten, wird man in ihnen eine absolut richtige Schätzung finden, dass sich der Kapitalismus schon vor 15 oder 20, 25 oder 30 Jahren überlebt habe.

In welchem Sinne war das gemeint? In dem Sinne, dass vor 25 oder mehr Jahren die Ersetzung der kapitalistischen Produktionsweise durch sozialistische Methoden schon objektive Vorteile bedeutet hätte, das heißt, die Menschheit hätte unter dem Sozialismus mehr produzieren können als unter dem Kapitalismus. Aber vor 25 oder 30 Jahren bedeutete das noch nicht, dass die Produktivkräfte unter dem Kapitalismus nicht länger zur Entwicklung fähig gewesen wären. Wir wissen, dass in allen Teilen der Welt einschließlich und besonders in Europa, das bis vor verhältnismäßig kurzer Zeit eine führende wirtschaftliche und finanzielle Rolle in der Welt gespielt hat, die Produktivkräfte noch gewachsen sind. Und wir können jetzt das Jahr festsetzen, bis zu dem sie in Europa noch gewachsen sind: das Jahr 1913. Dies bedeutet, dass bis zu jenem Jahr der Kapitalismus kein absolutes, sondern ein relatives Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte darstellte. Im technologischen Sinne entwickelte sich Europa mit beispielloser Geschwindigkeit und Macht von 1894 bis 1913, das heißt, Europa hat sich während dieser 20 Jahre, die dem imperialistischen Krieg vorausgingen, wirtschaftlich bereichert. Seit 1913 – und wir können dies positiv sagen – kam die Entwicklung des Kapitalismus, seiner Produktivkräfte zu einem Halt, ein Jahr vor dem Ausbruch des Krieges, weil die Produktivkräfte gegen die Grenzen stießen, die durch das kapitalistische Eigentum und die kapitalistische Aneignungsweise für sie festgelegt waren. Der Markt war aufgeteilt, der Wettbewerb erreichte seinen höchsten Grad und daher konnten die kapitalistischen Länder nur mit mechanischen Mitteln versuchen, einander vom Markt zu beseitigen.

Es ist nicht der Krieg, der der Entwicklung der Produktivkräfte in Europa ein Ende bereitet hätte, sondern vielmehr entstand der Krieg selbst aus der Unmöglichkeit der Produktivkräfte, sich in Europa unter den Bedingungen des kapitalistischen Managements weiter zu entwickeln. Das Jahr 1913 stellt den großen Wendepunkt in der Evolution der europäischen Wirtschaft dar. Der Krieg wirkte einfach dahin, die Krise zu vertiefen und zu verschärfen, die aus dem Umstand stammte, dass die wirtschaftliche Entwicklung innerhalb der Bedingungen des Kapitalismus absolut unmöglich war. Dies gilt für Europa insgesamt. Wenn wir folglich vor 1913 bedingt recht hatten, wenn wir sagten, dass der Sozialismus günstiger als der Kapitalismus sei, folgt daraus, dass der Kapitalismus seit 1913 schon eine Bedingung absoluter Stagnation und Verfall für Europa bedeutet, während der Sozialismus die einzige wirtschaftliche Rettung bietet. Dies macht unsre Ansicht bezüglich der ersten Voraussetzung der proletarischen Revolution präziser.

Die zweite Voraussetzung ist die Arbeiterklasse. Sie muss ausreichend mächtig im wirtschaftlichen Sinne werden, um die Macht zu erlangen und die Gesellschaft wieder aufzubauen. Trifft diese Bedingung heute zu? Nach der Erfahrung unserer russischen Revolution ist es nicht länger möglich, diese Frage aufzuwerfen, da die russische Revolution in unserem rückständigen Land möglich wurde. Aber wir haben in den vergangenen Jahren gelernt, die gesellschaftliche Macht des Proletariats im Weltmaßstab auf etwas neue Weise und viel präziser und konkreter zu bewerten. Jene naive, pseudomarxistische Sicht, die forderte, dass das Proletariat 75 oder 90 Prozent der Bevölkerung umfassen müsse, bevor es die Macht übernimmt, diese Sicht erscheint als ziemlich kindisch. Selbst in Ländern, wo die Bauernschaft die Mehrheit der Bevölkerung ausmacht, kann und muss das Proletariat Zugang zur Bauernschaft finden, um die Machteroberung zu erreichen. Jede Sorte von reformistischem Opportunismus in Bezug auf die Bauernschaft ist uns absolut fremd. Aber gleichzeitig ist uns der Dogmatismus nicht weniger fremd. Die Arbeiterklasse in allen Ländern spielt eine soziale und wirtschaftliche Rolle, die ausreichend groß ist, um in der Lage zu sein, einen Weg zu den Bauernmassen, zu den unterdrückten Nationalitäten und den Kolonialvölkern zu finden und sich auf diese Weise eine Mehrheit zu sichern. Nach der Erfahrung der russischen Revolution ist dies keine Spekulation, keine Hypothese, keine theoretische Ableitung, sondern eine unleugbare Tatsache.

Und schließlich das dritte Erfordernis: die Arbeiterklasse muss bereit für den Umsturz und fähig zu seiner Durchführung sein. Die Arbeiterklasse muss nicht nur ausreichend mächtig dafür sein, sondern muss sich ihrer Macht bewusst und fähig sein, sie anzuwenden. Heute können und müssen wir diesen subjektiven Faktor in seine Elemente auflösen und präziser machen. Während der Nachkriegsjahre haben wir im politischen Leben Europas beobachtet, dass seine Arbeiterklasse für den Umsturz bereit ist, bereit in dem Sinne, dass sie subjektiv danach strebt, bereit bezüglich des Willens, der Stimmungen, der Aufopferung, ihm aber noch die notwendige organisatorische Führung fehlt. Folglich muss die Stimmung der Klasse und ihr Organisationsbewusstsein nicht immer zusammenfallen. Unsere Revolution gab dank einer außerordentlichen Verbindung geschichtlicher Faktoren unserem rückständigen Land die Gelegenheit, die Machtübertragung in die Hände der Arbeiterklasse in einem direkten Bündnis mit den Bauernmassen durchzuführen. Die Rolle der Partei ist uns nur zu klar und ist glücklicherweise den westeuropäischen Kommunistischen Parteien schon klar geworden. Die Rolle der Partei nicht zu berücksichtigen, bedeutete, in pseudomarxistischen Objektivismus zu fallen, der eine Art rein objektiver und automatischer Vorbereitung der Revolution voraussetzt, und dadurch die Revolution in eine unbestimmte Zukunft verschiebt. So ein Automatismus ist uns fremd. Es ist eine menschewistische, sozialdemokratische Weltsicht. Wir wissen, wir haben in der Praxis gelernt und wir lehren anderen die ungeheure Rolle des subjektive, des bewussten Faktors, den die revolutionäre Partei in der Arbeiterklasse darstellt.

Ohne unsere Partei hätte der Umsturz von 1917 natürlich nicht stattgefunden und das ganze Schicksal unseres Landes wäre anders gewesen. Es wäre zurückgeworfen worden, als koloniales Land dahinzuvegetieren; es wäre geplündert und unter den imperialistischen Mächten der Welt aufgeteilt worden. Dass dies nicht geschah, wurde historisch durch die Bewaffnung der Arbeiterklasse mit dem unvergleichlichen Schwert garantiert: unserer Kommunistischen Partei. Das geschah in Nachkriegseuropa nicht.

Zwei der drei notwendigen Voraussetzungen sind vorhanden. Lange vor dem Krieg waren die relativen Vorteile des Sozialismus und seit 1913 und um so mehr nach dem Krieg die absolute Notwendigkeit des Sozialismus vorhanden. Wenn der Sozialismus scheitert, gibt es einen wirtschaftlichen Niedergang und Verfall Europas. Das ist eine Tatsache. Die Arbeiterklasse Europas wächst nicht länger. Ihr Schicksal, ihre Klassenidentität, entspricht und läuft parallel zur Entwicklung der Wirtschaft. In dem Ausmaß, in dem die europäische Wirtschaft mit unausweichlichen Schwankungen unter Stagnation und sogar Zerfall leidet, in diesem Ausmaß wächst die Arbeiterklasse als Klasse nicht mehr gesellschaftlich, hört auf, zahlenmäßig zu wachsen, sondern leidet unter Arbeitslosigkeit, unter dem schrecklichen Anschwellen der Arbeiterreservearmee usw. usf. Der Krieg brachte die Arbeiterklasse im revolutionären Sinne auf ihre Füße. War die Arbeiterklasse wegen ihrem gesellschaftlichen Gewicht vor dem Krieg fähig, die Revolution durchzuführen? Was fehlte? Ihr fehlte das Bewusstsein ihrer eigenen Stärke. Ihre Stärke wuchs in Europa automatisch, fast nicht wahrnehmbar, mit dem Wachstum der Industrie. Der Krieg rüttelte die Arbeiterklasse wach. Wegen der schrecklichen und blutigen Umwälzung wurde die ganze Arbeiterklasse in Europa von revolutionären Stimmungen erfasst, kaum dass der Krieg endete. Folglich war einer der subjektiven Faktoren, die Sehnsucht die Welt zu verändern, vorhanden. Was fehlte? Die Partei fehlte, die Partei, die fähig war, die Arbeiterklasse zum Sieg zu führen.

Folgendermaßen entfalteten sich die Revolutionsereignisse in unserem Land und im Ausland. 1917 haben wir in Russland: die Februarrevolution und binnen neun Monaten – Oktober. Die revolutionäre Partei garantiert der Arbeiterklasse und der armen Bauernschaft den Sieg. 1918 – Revolution in Deutschland, begleitet von Veränderungen an der Spitze; die Arbeiterklasse versucht voranzukommen, aber wird immer wieder zurückgeworfen. 1919 der Ausbruch der ungarischen Revolution: ihre Basis ist zu klein und die Partei zu schwach. Die Revolution wird 1919 in ein paar Monaten zerschlagen. 1920 hat sich die Lage schon geändert und ändert sich immer schärfer.

In Frankreich gibt es ein historisches Datum – den 1. Mai 1920. Er bezeichnet eine scharfe Wendung, die in den Kräftebeziehungen zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie stattfand. Die Stimmung des französischen Proletariats war insgesamt revolutionär, aber es nahm den Sieg zu leicht. Es wurde von der Partei und jenen Organisationen, die in der vergangenen Periode der friedlichen und organischen Entwicklung des Kapitalismus herangereift waren, eingelullt. Am 1. Mai 1920 erklärte das französische Proletariat einen Generalstreik. Dies hätte sein erster größerer Zusammenstoß mit der französischen Bourgeoisie sein sollen.

Die ganze Bourgeoisie zitterte. Das Proletariat, das gerade eben aus den Schützengräben zurückgekehrt war, versetzte ihr Herz in Schrecken. Aber die alten sozialistische Partei, die alten Sozialdemokraten, die es nicht wagten, sich der revolutionären Arbeiterklasse entgegenzustellen und die den Aufruf zum Generalstreik ausgaben, machten gleichzeitig alles in ihrer Macht, um ihn platzen zu lassen; auf der anderen Seite waren die revolutionären Elemente, die Kommunisten zu schwach, zu verstreut und hatten zu wenig Erfahrung. Der Streik am 1. Mai scheiterte. Und wenn man die französischen Zeitungen von 1920 zu Rate zieht, wird man in den Leitartikeln und Berichten schon ein schnelles und entscheidendes Wachstum der Stärke der Bourgeoisie sehen. Die Bourgeoisie fühlte sofort ihre eigene Stabilität, fasste den Staatsapparat in ihren Händen zusammen und begann, immer weniger Aufmerksamkeit auf die Forderungen des Proletariats und die Drohungen der Revolution zu richten.

Im selben Jahr, im August 1920, erlebten wir ein Ereignis, das näher zu Hause war, das gleichfalls eine Änderung in den Kräfteverhältnissen herbeiführte, das nicht zu Gunsten der Revolution war. Das war unsere Niederlage bei Warschau, eine Niederlage, die vom internationalen Standpunkt aufs Engste damit verbunden war, dass in Deutschland und in Polen zu jenem Zeitpunkt die revolutionäre Bewegung unfähig war, einen Sieg zu erringen, weil eine starke revolutionäre Partei fehlte, die das Vertrauen der Mehrheit der Arbeiterklasse genossen hätte.

Einen Monat später, im September 1920, erlebten wir die große Bewegung in Italien. Genau zu diesem Zeitpunkt, im Herbst 1920 erreichte das italienische Proletariat den höchsten Punkt der Gärung nach dem Krieg. Fabriken, Werke, Eisenbahnen, Bergwerke wurden besetzt. Der Staat war desorganisiert, die Bourgeoisie praktisch ohnmächtig, ihr Rückgrat fast gebrochen. Es scheint, dass nur ein oder zwei Schritte vorwärts notwendig sind und die italienische Arbeiterklasse wird die Macht erobern. Aber zu diesem Zeitpunkt schreckt ihre Partei – die selbe Sozialistische Partei, die aus der vergangenen Epoche erwachsen ist und zwar formell der Dritten Internationale angehört, aber mit ihrem Geist und Wurzeln immer noch in der vergangenen Epoche, das heißt der Zweiten Internationale ist – schreckt diese Partei entsetzt vor der Machteroberung, vor dem Bürgerkrieg zurück und lässt das Proletariat schutzlos zurück. Der entschlossenste Flügel der Bourgeoisie in Gestalt des Faschismus, in Gestalt von allem, was in Polizei und Armee noch stark bleibt, macht einen Angriff auf das Proletariat. Das Proletariat wird zerschlagen.

Nach der Niederlage des Proletariats vom September erleben wir in Italien eine noch drastischere Verschiebung des Kräfteverhältnisses. Die Bourgeoisie sagt sich: „Solche Leute seid ihr also. Ihr drängt das Proletariat vorwärts, aber euch fehlt der Geist, die Macht zu übernehmen.” Und es schiebt die faschistischen Abteilungen nach vorne.

Ein paar Monate später, im März 1921, erleben wir die wichtigsten jüngsten Ereignisse im Leben Deutschlands, die gefeierten Märzereignisse. Hier haben wir einen Mangel an Entsprechung zwischen der Klasse und der Partei, die sich in eine diametral entgegengesetzte Richtung entwickelten. In Italien war im September die Arbeiterklasse begierig auf Kampf. Die Partei scheute entsetzt zurück. In Deutschland war die Arbeiterklasse begierig auf Kampf gewesen. Sie kämpfte 1918, das Jahr 1919 hindurch und das Jahr 1920 hindurch. Aber ihre Anstrengungen und Opfer wurden nicht durch Sieg gekrönt, weil es an ihrer Spitze keine genügend starke, erfahrene und geschlossene Partei hatte; statt dessen gab es eine andere Partei an ihrer Spitze, die die Bourgeoisie ein zweites Mal rettete, nachdem sie sie im Krieg gerettet hatte. Und jetzt 1921 sah die Kommunistische Partei Deutschlands, wie die Bourgeoisie ihre Stellungen festigte. Sie wollte einen heroischen Versuch machen, der Bourgeoisie den Weg durch eine Offensive, durch einen Schlag abzuschneiden, und stürmte vorwärts. Aber die Arbeiterklasse unterstützte das nicht. Warum nicht? Weil die Arbeiterklasse noch nicht gelernt hatte, Vertrauen in die Partei zu haben. Sie kannte die Partei noch nicht voll, während ihre eigene Erfahrung im Bürgerkrieg ihr im Verlauf von 1919-20 nur Niederlagen gebracht hatte.

Und so kam es im März 1921 zu einer Lage, die die Kommunistische Internationale zwang zu sagen: Die Beziehungen zwischen den Parteien und den Klassen, zwischen den Kommunistischen Parteien und der Arbeiterklasse in allen Ländern Europas sind immer noch nicht reif genug für eine sofortige Offensive, für eine sofortige Schlacht zur Machteroberung. Es ist notwendig, mit der sorgfältigen Schulung der kommunistischen Reihen im doppelten Sonne fortzufahren: Erstens im Sinne ihrer Fusionierung und Stählung; und zweitens im Sinne der Eroberung der überwältigenden Mehrheit der Arbeiterklasse. Das war die Parole, die die Dritte Internationale zur der Zeit ausgab, wo die Märzereignisse in Deutschland noch frisch waren.

Und dann, Genossen, erlebten wir nach dem Monat März im ganzen Jahr 1921 und 1922 den Prozess der Stärkung der bürgerlichen Regierungen in Europa, zumindest an der Oberfläche; wir beobachteten die Stärkung des rechtsextremen Flügels. In Frankreich ist der Nationale Block unter der Führung von Poincaré immer noch an der Macht. Aber Poincaré wird in Frankreich, das heißt im Nationalen Block als „Linker” betrachtet und am Horizont droht ein neues und reaktionäreres, imperialistischeres Kabinett Tardieu. In England wurde die Regierung von Lloyd George, diesem Imperialisten mit seinem Vorrat an pazifistischen Predigten und Sprichwörtern, durch eine rein konservative, offen imperialistische Regierung von Bonar Law ersetzt. In Deutschland wurde die Koalitionsregierung, das heißt eine mit einer Beimengung von Sozialdemokraten, durch eine offen bürgerliche Regierung von Cuno ersetzt; und schließlich sehen wir in Italien die Machtübernahme durch Mussolini, die offene Herrschaft der konterrevolutionären Faust. Auf dem wirtschaftlichen Feld ist der Kapitalismus in der Offensive gegen das Proletariat. In jedem Land Europas müssen die Arbeiter die Löhne, die sie gestern hatten, und den Achtstundentag in den Ländern verteidigen, wo sie ihn während oder nach der letzten Periode des Krieges gesetzlich erlangt hatten. Nicht immer sind sie erfolgreich. Das ist die allgemeine Lage. Klar ist, dass die revolutionäre Entwicklung, das heißt der Kampf des Proletariats um die Macht, der im Jahre 1917 begann, keine einheitlich und stetig steigende Kurve darstellt.

Es hat einen Knick in der Kurve gegeben. Genossen, um die Lage klarer darzustellen, durch die die Arbeiterklasse jetzt geht, ist es vielleicht nicht verkehrt, zu einer Analogie zu greifen. Analogie – historischer Vergleich und Nebeneinanderstellung – ist ein gefährliches Hilfsmittel, weil Leute immer wieder versuchen, aus einer Analogie mehr herauszuziehen, als sie geben kann. Aber innerhalb gewisser Grenzen kann eine Analogie nützlich sein, wenn sie für den Zweck der Veranschaulichung verwendet wird. Wir begannen unsere Revolution 1905 nach dem Russisch-Japanischen Krieg. Schon zu jener Zeit wurden wir durch die Logik der Dinge zur Macht gezogen. 1905 und 1906 gab es Stagnation und die zwei Dumas. 1907 brachte den 3. Juni und den Staatsstreich – die ersten Siege der Reaktion, die auf fast keinen Widerstand trafen – und dann rollte die Revolution zurück. 1908 und 1909 waren schon die schwarzen Jahre der Reaktion; und dann, 1910-1911 nur schrittweise beginnend, gab es einen Aufschwung, in den dann der Krieg hereinplatzte. Im März 1917 kam der Sieg der bürgerlichen Demokratie; im Oktober – der Sieg der Arbeiter und Bauern. Wir haben daher zwei Schlüsselpunkte: 1905 und 1917, die durch einen Zwischenraum von 12 Jahren getrennt sind. Diese zwölf Jahre stellen im revolutionären Sinn eine unterbrochene Kurve dar, erst einen Rückgang und dann einen Anstieg.

In einem internationalen Sinn, zuerst und vor allem in Bezug auf Europa, haben wir jetzt etwas ähnliches. Der Sieg war 1917 und 1918 möglich, aber wir erlangten ihn nicht – die letzte Bedingung fehlte, die mächtige Kommunistische Partei. Die Bourgeoisie schaffte es, viele ihre politischen und militärisch-polizeilichen Positionen wiederherzustellen, aber nicht ihre wirtschaftlichen, während das Proletariat begann, Stein für Stein seine Kommunistische Partei aufzubauen. In den Anfangsphasen versuchte diese Kommunistische Partei, die verlorenen Chancen durch einen einzigen kühnen Sprung vorwärts wettzumachen, wie im März 1921 in Deutschland. Sie verbrannte sich die Finger. Die Internationale sprach eine Warnung aus: „Ihr müsst das Vertrauen der Mehrheit der Arbeiterklasse erobern, bevor ihr es wagen könnt, die Arbeiter für einen offenen revolutionären Ansturm aufzufordern.” Dies war die Lehre des Dritten Kongresses. Anderthalb Jahre später kam der Vierte Kongress zusammen.

Um eine möglichst allgemeine Einschätzung zu machen, ist es notwendig zu sagen, dass zu der Zeit, wo der Vierte Kongress zusammentrat, noch kein Wendepunkt in dem Sinne erreicht worden war, dass die Internationale sagen könnte: „Jetzt hat die Stunde des offenen Ansturms bereits geschlagen.” Der Vierte Kongress entwickelte, vertiefte, bestätigte und präzisierte die Arbeit des Dritten Kongresses und war überzeugt, dass diese Arbeit grundlegend richtig war.

Ich sagte, dass wir 1908-1909 auf einem damals viel beschränkteren Schauplatz in Russland den Augenblick des tiefsten Niedergangs der revolutionären Welle durchlebten in dem Sinne, welche Stimmungen in der Arbeiterklasse vorherrschten – sowohl im Sinne des triumphierenden Stolypinismus und Rasputinismus als auch im Sinne des Zerfalls der fortgeschrittenen Reihen der Arbeiterklasse. Was als illegale Kerne blieb, war schrecklich klein im Vergleich zur Arbeiterklasse als ganzer. Die besten Elemente waren im Gefängnis, leisteten Zwangsarbeit in Zuchthäusern oder waren in Verbannung. 1908-9 – dies war der Tiefpunkt für die revolutionäre Bewegung. Dann kam ein schrittweiser Aufschwung. Die letzten zwei Jahre und teilweise gerade jetzt durchleben wir eine Periode, die zweifellos Analogien zu 1908 und 1909 hat, das heißt: der Tiefpunkt im direkten und offenen revolutionären Kampf.

Es gibt noch eine andere Ähnlichkeit. Am 3. Juni 1907 erlangte die Konterrevolution einen Sieg (Stolypins Putsch) auf dem parlamentarischen Feld, fast ohne auf Widerstand im Land zu stoßen. Und gegen Ende 1907 ging ein anderer schrecklicher Schlag nieder – die Wirtschaftskrise. Welchen Einfluss hatte dies auf die Arbeiterklasse? Trieb es die Arbeiter zum Kampf? Nein. 1905, 1906 und in der ersten Hälfte 1907 hatte die Arbeiterklasse ihre Energien und ihre besten Elemente schon im offenen Kampf verausgabt. Sie erlitt eine Niederlage und im Gefolge dieser Niederlage kam eine Handels- und Industriekrise, die die produktive und wirtschaftliche Rolle des Proletariats schwächte, und seine Stellung noch instabiler machte. Diese Krise schwächte sie sowohl im revolutionären als auch im politischen Sinne. Erst der Handels- und industrielle Aufschwung, der 1909-10 begann und der die Arbeiter wieder in den Fabriken und Werken zusammenbrachte, impfte die Arbeitern wieder mit Selbstvertrauen und gab eine größere Unterstützungsbasis für unsere Partei und gab der Revolution einen Impuls vorwärts.

Ich sage, dass wir hier auch eine gewisse Analogie ziehen können. Im Frühling 1921 brach eine beängstigende Handelskrise in Amerika und Japan aus, nachdem das Proletariat Niederlagen erlitten hatte: die Niederlage in Frankreich am 1. Mai 1920, in Italien im September 1920, in Deutschland 1919, 1920, und besonders in den Märztagen 1921. Aber gerade zu diesem Zeitpunkt im Frühling 1921 setzte die Krise in Japan und Amerika ein und in der zweiten Hälfte 1921 sprang sie nach Europa über. Die Arbeitslosigkeit stieg auf unerhörte Ausmaße, wie ihr wisst, besonders in England. Die Stabilität der Lage des Proletariats viel noch tiefer, nach den Verlusten und Desillusionierungen, die es schon erlitten hatte. Und dies stärkte die Arbeiterklasse nicht, sondern schwächte sie im Gegenteil unter den gegebenen Bedingungen der Krise. Im gegenwärtigen Jahr und seit dem Ende des letzten Jahres gab es Anzeichen einer gewissen industriellen Wiederbelebung. In Amerika hat es Ausmaße von einem wirklichen Aufschwung erreicht, während es in Europa eine kleine ungleichmäßige Welle bleibt. So kamen auch hier die ersten Impulse für die Wiederbelebung einer offenen Massenbewegung, besonders in Frankreich von einer gewissen Verbesserung der Wirtschaftskonjunktur.

Aber hier, Genossen, endet die Analogie. Der Industrieaufschwung von 1909 und 1910 in unserem Land und der ganzen Vorkriegswelt war ein kräftiger, mächtiger Boom, der bis 1913 dauerte und zu einer Zeit kam, wo die Produktivkräfte noch nicht gegen die Grenzen des Kapitalismus angerannt waren, was zum größten imperialistischen Gemetzel führte.

Die industrielle Erholung, die Ende letzten Jahres begann, stellte nur einen Wechsel der Körpertemperatur in dem von Tuberkulose befallenen Organismus der europäischen Wirtschaft dar. Die europäische Wirtschaft wächst nicht, sondern zerfällt; sie bleibt nur in ein paar Ländern auf dem selben Niveau. Das reichste der europäischen Länder, die Insel England, hat ein Volkseinkommen, das mindestens ein Viertel bis ein Drittel kleiner als vor dem Krieg ist. Sie zogen in den Krieg, um Märkte zu erobern, wie ihr wisst. Sie endeten, indem sie mindestens ein Viertel bis ein Drittel ärmer waren. Die Verbesserungen dieses Jahrs sind minimal gewesen Der Niedergang im Einfluss der Sozialdemokratie und das Wachstum der Kommunistischen Parteien auf Kosten der Sozialdemokraten ist ein Symptom dafür. Wie gut bekannt ist, wuchs der Sozialreformismus dank des Umstandes, dass die Bourgeoisie die Möglichkeit hatte, die Stellung der qualifiziertesten Schichten der Arbeiterklasse zu verbessern. Der Natur der Dinge nach wäre Scheidemann und alles, was mit ihm verbunden ist, ohne das unmöglich gewesen, den schließlich stellt Scheidemann nicht einfach eine ideologische Strömung dar, sondern eine Strömung, die aus gewissen wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen erwächst. Sie stellt eine Arbeiteraristokratie dar, die davon profitiert, dass der Kapitalismus kräftig und mächtig ist und die Möglichkeit hat, die Bedingungen wenigstens der Oberschichten der Arbeiterklasse zu verbessern. Das ist genau der Grund, warum wir in den Vorkriegsjahren von 1909 bis 1913 das mächtigste Wachstum der Bürokratie in den Gewerkschaften und in der Sozialdemokratie erleben und die stärkste Verankerung des Reformismus und Nationalismus unter den führenden Kreisen der Arbeiterklasse, die zur schrecklichen Katastrophe der zweiten Internationale am Ausbruch des Krieges führten.

Und jetzt, Genossen, ist das Wesen der Lage Europas dadurch charakterisiert, dass die Bourgeoisie nicht länger die Möglichkeit hat, die Spitzen der Arbeiterklasse zu mästen, weil sie nicht mal in der Lage ist, die ganze Arbeiterklasse normal zu ernähren, in der kapitalistischen Bedeutung des Wortes “normal”. Die Senkung des Lebensstandards der Arbeiterklasse ist heute die selbe Art Gesetz wie der Rückgang der europäischen Wirtschaft. Der Prozess begann 1913, der Krieg brachte oberflächliche Änderungen: nach dem Krieg wurde es mit besonderer Heftigkeit enthüllt. Die oberflächlichen Schwankungen der Wirtschaftskonjunktur ändern diesen Umstand nicht. Dies ist der erste und grundlegende Unterschied zwischen unserer Epoche und der vor dem Krieg.

Aber es gibt einen zweiten Unterschied und das ist das Bestehen von Sowjetrussland als revolutionärem Faktor. Es gibt auch einen dritten Unterschied: das Bestehen einer zentralisierten Internationalen Kommunistischen Partei.

Und wir beobachten, Genossen, dass genau zu der Zeit, wo die Bourgeoisie einen oberflächlichen Sieg nach dem anderen über das Proletariat einfährt, das Wachstum, die Stärkung und die systematische Entwicklung der Kommunistischen Partei nicht verzögert wird, sondern vorwärtsgeht. Und hierin liegt der wichtigste und grundlegendste Unterschied zwischen unserer Epoche und der von 1905 bis 1917.

Wie ihr seht, gilt das, was ich gesagt habe, vor allem für Europa. Es wäre unrichtig, es ganz auf Amerika anzuwenden. In Amerika ist auch der Sozialismus vorteilhafter als der Kapitalismus; und es wäre noch richtiger zu sagen, dass gerade in Amerika der Sozialismus vorteilhafter als der Kapitalismus wäre. Mit anderen Worten: wären die gegenwärtigen amerikanischen Produktivkräfte nach den Prinzipien des Kollektivismus organisiert, würde eine fabelhafte Blüte der Wirtschaft daraus folgern.

Es wäre unrichtig, von Amerika dasselbe zu sagen, was wir hinsichtlich Europas behaupten, dass nämlich der Kapitalismus für Amerika schon jetzt einen Stillstand der wirtschaftlichen Entwicklung bedeute. Europa verwest, Amerika gedeiht. In den ersten Jahren, oder besser gesagt, in den ersten zwanzig Monaten nach dem Kriege, konnte es scheinen, dass Amerika durch den wirtschaftlichen Verfall Europas mitgerissen würde; denn Amerika nährte nicht den europäischen Markt im allgemeinen und den Kriegsmarkt im besonderen, sondern beutete ihn aus. Dieser Markt war nach Kriegsende erschöpft, und der groteske Babelturm der amerikanischen Industrie schien, seines Fundamentes beraubt, endgültig zusammenzubrechen. Amerika verlor zwar den früheren ausgiebigen europäischen Markt, aber es eroberte nach und nach die Märkte einiger europäischen Länder – Deutschlands und zum Teil Englands; außerdem blieb ihm die Ausbeutung des eigenen Binnenmarktes, die Ausbeutung der hundert Millionen starken, reichen Bevölkerung. Und wir beobachten, dass die amerikanische Wirtschaft in den Jahren 1921/22 einen wirklichen Handels- und Industrieaufschwung durchmacht, während in Europa sich nur entfernte Andeutungen dieses Aufschwunges bemerkbar machen.

Daraus ist zu schließen, dass in Amerika die Produktivkräfte auch unter dem Kapitalismus sich entfalten können – wenn auch natürlich langsamer, als es unter sozialistischem Regime der Fall wäre. Wie lange dieser Prozess anhalten wird – das ist eine andere Frage. Die amerikanische Arbeiterklasse ist in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht reif genug, um die Staatsgewalt zu übernehmen, aber ihren politischen und organisatorischen Traditionen nach ist sie unvergleichlich weiter von diesem Ziel entfernt, als die europäische Arbeiterklasse; unsere Kraft – die Kraft der kommunistischen Internationale – ist in Amerika noch sehr schwach. Und wenn man die Frage aufwirft (es ist natürlich nur eine hypothetische Fragestellung), was sich früher ereignen wird: der Sieg der proletarischen Revolution in Europa, oder die Schaffung einer starken kommunistischen Partei in Amerika – so würde ich auf Grund der Tatsachen, über die wir jetzt verfügen (es können natürlich verschiedene neue Faktoren in Erscheinung treten, z. B. ein Krieg zwischen Amerika und Japan, und ein Krieg ist ja immer eine gewaltige Triebkraft der Geschichte), die Behauptung wagen, dass es weit wahrscheinlicher ist, dass das Proletariat früher in Europa siegen, als dass in Amerika eine wirklich starke kommunistische Partei entstehen wird. Mit anderen Worten: ebenso wie der Sieg der revolutionären Arbeiterklasse im Oktober 1917 die Voraussetzung für die Schaffung der Kommunistischen Internationale und für das Wachsen der Kommunistischen Parteien in Europa war, ebenso wird, wahrscheinlich, auch der Sieg des Proletariats der wichtigsten Länder Europas eine Voraussetzung für eine schnelle Revolutionierung Amerikas sein. Darin liegt der Unterschied dieser zwei Gebiete – Europa mit seiner zerfallenden, absterbenden Wirtschaft und mit seinem nicht mehr wachsenden (weil alle Grenzen erreicht sind), sondern wartenden Proletariat, wartend auf die Entwicklung der Kommunistischen Partei – und Amerika, das wirtschaftlich noch vorwärts strebt, das den Verfall Europas ausbeutet.

Den dritten Bereich stellen die Kolonien dar. Es ist selbstverständlich, dass die Kolonien – Asien und Afrika (ich spreche von ihnen als Einheit, obwohl es zwischen ihnen wie in Europa die größten Unterschiede gibt) – die Kolonien, wenn man sie unabhängig und isoliert nimmt, absolut nicht bereit für die proletarische Revolution sind. Wenn man sie isoliert nimmt, dann hat der Kapitalismus noch eine lange Möglichkeit wirtschaftlicher Entwicklung in ihnen. Aber die Kolonien gehören den Metropolenzentren und ihr Schicksal ist eng mit dem Schicksal dieser europäischen Metropolenzentren verbunden.

In den Kolonien beobachten wir die wachsende nationalrevolutionäre Bewegung. Die Kommunisten stellen dort nur kleine Kerne dar, die inmitten der Bauernschaft eingepflanzt sind. Dadurch haben wir in den Kolonien vor allem kleinbürgerliche und bürgerliche nationale Bewegungen. Wenn Sie nach den Aussichten für die sozialistische und kommunistische Entwicklung der Kolonien fragen würden, würde ich sagen, dass diese Frage nicht auf isolierte Weise gestellt werden kann. Natürlich werden nach dem Sieg des Proletariats in Europa diese Kolonien das Feld für den kulturellen, wirtschaftlichen und jeden anderen Einfluss werden, den Europa ausübt, aber dafür müssen sie erst einmal ihre revolutionäre Rolle parallel zur Rolle des europäischen Proletariats spielen. In diesem Zusammenhang tut das europäische Proletariat und besonders das französische und in erster Linie das britische viel zu wenig. Das Wachstum des Einflusses sozialistischer und kommunistischer Ideen, die Emanzipation der schaffenden Massen der Kolonien, die Schwächung des Einflusses der nationalistischen Parteien kann nicht so sehr durch die Rolle der einheimischen kommunistischen Kerne erreicht werden als vielmehr durch den revolutionären Kampf des Proletariats der Metropolenzentren für die Befreiung der Kolonien. Nur auf diesem Wege wird das Proletariat der Metropolenzentren den Kolonien zeigen, dass es zwei europäische Nationen gibt, eine ist der Unterdrücker, die andere ist der Freund; nur auf diese Weise wird das Proletariat den Kolonien einen weiteren Ansporn geben, der die Struktur des Imperialismus stürzen und durch der proletarischen Sache einen revolutionären Dienst erweisen wird.

Genossen, wir haben bisher zwischen Europa und Amerika zu wenig unterschieden, daher konnte die Langsamkeit in der Entwicklung des Kommunismus in Amerika manchem pessimistische Ideen einflößen, etwa in dem Sinne, dass die Revolution in Europa auf Amerika warten müsse. Das ist nicht der Fall!

Europa kann nicht warten. Mit anderen Worten – wenn die Revolution in Europa ein Dutzend Jahre aufgeschoben werden könnte, dann bedeutet das, dass Europa als Kulturkraft überhaupt ausschaltet. Sie wissen, dass in Europa jetzt die modische Philosophie Spenglers vom “Untergang des Abendlandes” umgeht. Diese Philosophie ist in ihrer Art ein durchaus gerechtfertigtes Klassenvorgefühl der Bourgeoisie. Sie übersieht, dass das Proletariat die Bourgeoisie ersetzen und die Gewalt in ihre Hände nehmen kann, und redet vom Untergange Europas. Wenn sie recht hätte, dann könnte von einem Untergang, oder besser gesagt, von einem wirtschaftlich-kulturellen Fäulnisprozess Europas gesprochen werden, dann würde allerdings eines Tages die amerikanische Revolution kommen und Europa ins Schlepptau nehmen. Aber für eine solche, im Hinblick auf die Zeitdauer pessimistische Prognose, haben wir keine Ursachen. Gewiss, die Prophezeiung von Zeiträumen ist immer sehr unzuverlässig und oft nicht ernst zu nehmen, aber ich sage: wir haben keinen Grund zu glauben, dass zwischen dem Jahre 1917, dem Anfang der neuen revolutionären europäischen Epoche, und ihrem endgültigen Siege in Westeuropa mehr Jahre liegen müssen, als zwischen unseren Zeitabschnitten 1905 und 1917. Bei uns sind 12 Jahre seit dem Anfang der Revolution, von der ersten Erfahrung bis zum endgültigen Siege verflossen. Wie viel Jahre der Zeitraum zwischen 1917 und dem ersten großen und dauerhaften Siege in Europa sein wird, können wir natürlich nicht wissen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass weniger als 12 Jahre vergehen werden.

Es ist jedenfalls ein ungeheurer Vorsprung, dass jetzt ein Sowjetrussland, eine Kommunistische Internationale existieren, diese zentralisierte Organisation der revolutionären Avantgarde, die die Kommunistischen Parteien aller Länder systematisch organisiert und festigt. Das bedeutet nicht immer ihr zahlenmäßiges Wachstum. Natürlich 1919-20, als die ersten Hoffnungen des Proletariats noch frisch waren, wurden die Reihen der Kommunistischen Parteien voll geschwemmt – wie es immer in Zeiten der Hochflut der Fall ist – und die kommunistischen Organisationen füllten sich mit instabilen Elementen. Manche dieser Elemente haben sich jetzt zurückgezogen, aber das Wachstum der Parteien hörte nicht auf, was ihre Stählung, was ihre höhere ideologische Klarheit, was ihre internationale Zentralisierung und ihre Verbindungen betrifft.

Dieses Wachstum ist unleugbar und findet seinen Ausdruck sowohl darin, dass der Vierte Weltkongress einen Start mit dem Entwurf eines internationalen Programms machte – zum ersten Mal in der Geschichte des Proletariats – als auch darin, dass der Vierte Kongress bei der Wahl des Exekutivkomitees zum ersten Mal ein zentralisiertes Organ nicht auf der Grundlage föderalistischer Prinzipien, nicht auf der Grundlage delegierter Vertretung verschiedener Parteien schuf, sondern als Gremium, das vom Vierten Kongress selbst gewählt wurde. Und diesem Exekutivkomitee wurde das Schicksal der Kommunistischen Internationale bis zum nächsten Kongress anvertraut.

Die Kommunistische Internationale steht nach dem vierten Kongress vor zwei eng verbundenen Aufgaben. Die erste Aufgabe ist die Fortsetzung des Kampfes gegen die zentristischen Strömungen, die die wiederholten und hartnäckigen Versuche der Bourgeoisie mit Hilfe ihres linken Flügels ausdrücken, den langgezogenen Charakter der revolutionären Entwicklung zu nutzen, um in der Kommunistischen Internationale Wurzeln zu schlagen. Der Kampf gegen den Zentrismus innerhalb der Kommunistischen Internationale und die weitere Reinigung dieser Weltpartei – dies ist die erste Aufgabe. Die zweite ist der Kampf um den Einfluss auf die überwältigende Mehrheit der Arbeiterklasse.

Diese zwei Probleme wurden auf dem Dritten Kongress sehr scharf aufgeworfen, besonders in Verbindung mit unserer französischen Partei, die vertreten durch zwei Fraktionen – das Zentrum und die Linke – zum Kongress kam. Nach den Ereignissen von 1920 spaltete sich unsere italienische Partei. Im Sommer 1921 war das italienische Zentrum, die sogenannten Maximalisten unter der Führung von Serrati, nicht länger auf unserem Kongress (dem Dritten) und sie wurden für ausgeschlossen aus der Internationale erklärt. In der französischen Partei zeichneten sich die selben zwei Tendenzen am Vorabend des Vierten Kongresses ab. Auf die Parallelität zwischen den italienischen und französischen Bewegungen in vielen Hinsichten wurde vorher schon hingewiesen. Und hier ist eine Tatsache von größter symptomatischer Bedeutung: Trotz des Triumphs der Konterrevolution in Italien wie in Europa allgemein, auf den ich schon hingewiesen habe, beobachten wir gerade in Italien, wo der Kommunismus die schwerste Niederlage erlitten hat, keine Zerfall, kein Zurückweichen von der Dritten Internationale, sondern im Gegenteil einen neuen Zustrom zur Dritten Internationale. Die Maximalisten unter der Führung von Serrati, den wir ausgeschlossen hatten (und zu Recht, für Verhalten, das wirklich verräterisch war), diese Maximalisten, nachdem sie sich während der Septemberbewegung 1920 von den Reformisten gespalten hatten, fingen am Vorabend des Vierten Kongresses an, an die Tore der Internationale zu klopfen. Was verdeutlicht das? Es verdeutlicht einen neuen revolutionären Impuls bei einem Teil der proletarischen Vorhut.

Es gab viele Anzeichen dafür, dass die französischen Zentristen den Kurs der italienischen Maximalisten wiederholen würden, sich von uns abspalten würden. Wir wären natürlich sogar mit so einem Ergebnis einverstanden gewesen, da wir wissen, dass am Ende der linke Flügel die Oberhand gewonnen hätte. Aber die französischen Zentristen mit Cachin und Frossard an ihre Spitze haben etwas aus der Erfahrung der italienischen Maximalisten gelernt, die mit gebeugtem Kopf als reuige Sünder ankamen, nachdem sie sich von Moskau abgespalten hatten. Ihr solltet euch alle mit der Resolution über die französische Partei vertraut machen, die auf dem Vierten Kongress angenommen wurde. Diese Resolutionen sind auf ihre Weise ziemlich drakonisch, besonders wenn man die Moral und die Bräuche Frankreichs und seiner alten sozialistischen Partei berücksichtigt. Eine Forderung nach einem völligen Bruch mit den Institutionen der Bourgeoisie ist etwas, was uns selbstverständlich scheint. Aber in Frankreich, wo Hunderte und Aberhunderte Mitglieder der Kommunistischen Partei zu Freimaurerlogen, bürgerlich-demokratischen Ligen zur Verteidigung der Menschenrechte usw. usf. gehörten – dort stellt die Forderung nach einem völligen Bruch mit der Bourgeoisie, nach dem Ausschluss aller Freimaurer und ihresgleichen eine völlige Umwälzung im Parteileben dar.

Auf dem Kongress nahmen wir eine Forderung an die französische Partei an, dass neun Zehntel der Kandidaten für alle Wahlämter, das Parlament, die Gemeinderäte, die Kantonalräte etc., unter den Arbeitern und Bauern direkt von der Werkbank oder vom Pflug weg geholt werden. In einem Land, wo ganze Legionen von Intellektuellen, Anwälten, Karrieristen zu den verschiedenen Parteien strömen, wo immer sie die Chance auf ein Mandat oder gar die Aussicht auf Macht schnuppern … alle, die mit den bestehenden Bedingungen in der französischen Partei vertraut sind, werden verstehen, dass eine Forderung, Arbeiter und Bauern direkt von der Werkbank und vom Pflug auf neun Zehntel der Wahlämter zu bringen, die größtmögliche Umwälzung im Leben der französischen Partei darstellt. Der linke Flügel, der zahlenmäßig ungefähr so stark wie das Zentrum ist, war dafür. Das Zentrum schwankte ziemlich.

Wir verstanden, dass diese Frage ziemlich heikel war, und dass unser Moskauer Stiefel auf einen sehr sensiblen Nerv getreten war und wir warteten, wie Paris auf den Moskauer Stock reagieren würde. Die jüngsten Telegramme bezeugen, dass ein Bruch mit Moskau versucht wurde. Morizet wird als der Anstifter des Versuchs bezeichnet. Er machte einen Besuch in Moskau, um in Paris ein positives Buch über die russische Revolution zu schrieben. (Es ist eine Sache, in Paris ein positives Buch über die russische Revolution zu schreiben; es ist etwas anderes, die französische Revolution vorzubereiten.) Dieser Morizet schlug zusammen mit Soutif – beide Mitglieder des Zentralkomitees – eine Spaltung und die Ausrufung einer unabhängigen Partei vor, ohne auf die Rückkehr der französischen Delegation aus Moskau zu waren. Aber es gab einen so großen Druck von der Basis, die Bereitschaft der Mitgliedschaft, die Entscheidungen des Vierten Kongresses zu akzeptieren, war so klar und offenkundig, dass sie gezwungen waren, zum Rückzug zu blasen. Und während sie sich enthielten – nur enthielten – stimmte das amtierende Zentralkomitee, das ganz aus Zentristen und keinem einzigen Linken besteht, vielleicht ohne allgemeine Begeisterung unter allen Mitgliedern des Zentralkomitees doch für die Unterwerfung unter die Moskauer Entscheidungen.

Ich wiederhole, Genossinnen, dieser Umstand kann aus dem Blickwinkel der Weltperspektiven zweitrangig erscheinen. Aber wenn wir das Leben der französischen Arbeiterklasse und ihrer kommunistischen Vorhut täglich verfolgen – und wir müssen lernen, das durch unsere Presse zu machen – dann hätten alle von uns gesagt, dass erst jetzt, nach dem Vierten Kongress der französische Kommunismus das Steuer so gedreht hat, dass es einen schnellen Fortschritt bei der Eroberung des Vertrauens der breiten Arbeitermassen in Frankreich garantieren wird. Das gilt um so mehr, weil es keine andere Arbeiterklasse auf der Welt gibt, die so oft getäuscht, so schamlos und so schändlich wie die französische Arbeiterklasse getäuscht wurde. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurde sie von den Revolutionäre der Bourgeoisie aller Schattierungen getäuscht. Unter allen Parteien der Zweiten Internationale erarbeiteten die französischen Sozialisten der Vorkriegs- und Kriegsepochen die ausgefeilteste Technik und Virtuosität im Verrat. Und deshalb reagierte die französische Arbeiterklasse mit ihrem prächtigen revolutionären Temperament unausweichlich mit dem größten Misstrauen selbst auf die neue Kommunistische Partei. Sie hat „Sozialisten” aller Sorten und Etikette gesehen; sie hat gesehen, wie Organisationen, egal wie sie ihre Häute wechselten, Durchgänge für Karrieristen, Abgeordnete, Journalisten aller Sorten, Minister etc. wurden. Briand, Millerand und der ganze Rest stammt schließlich aus der alten sozialistischen Partei. Kein anderes Proletariat auf der Welt ist durch so eine Schule der Täuschung und politischen Ausbeutung gegangen. Daher Misstrauen; daher politische Gleichgültigkeit; daher syndikalistische Einflüsse und Vorurteile.

Was wir brauchen ist, das unsere Partei vor die Arbeiterklasse tritt und in der Aktion zeigt, dass sie keine Partei wie andere Parteien ist, sondern die revolutionäre Organisation der Arbeiterklasse; dass es in ihren Reihen keinen Raum für Karrieristen, Freimaurer, Demokraten und Schieber gibt. Zum ersten Mal wurde diese Forderung aufgestellt und angenommen. Obendrein wurde ein Datum festgelegt: 1. Januar 1923 ist der Stichtag. Sie haben nur noch ein paar Tage. Genossen, dies sind Tatsachen von größter Bedeutung. (Beifall.)

Eine andere Frage wurde in Verbindung mit Frankreich ebenfalls sehr scharf gestellt – die Frage der Einheitsfront. Wie ihr wisst, ergibt sich die Parole der Einheitsfront aus zwei Ursachen. Erstens sind wir Kommunistinnen immer noch eine Minderheit in Frankreich, in Deutschland, in jedem Land Europas mit der Ausnahme von Bulgarien und vielleicht der Tschechoslowakei beeinflussen und kontrollieren wir weniger als die Hälfte des Proletariats. Zusätzlich hat die revolutionäre Entwicklung angefangen sich zu verlangsamen; das Proletariat will leben und kämpfen, findet sich aber gespalten. Unter diesen Bedingungen müssen die Kommunisten das Vertrauen der Arbeiterklasse erobern. Auf welcher Grundlage? Auf der Grundlage des Kampfes in seinem ganzen Umfang. Auf der Grundlage der gegenwärtigen täglichen Kämpfe, auf der Grundlage jeder Forderungen, bei jedem Streik, auf jeder Demonstration. Die Kommunisten müssen in vorderster Front stehen. Die Kommunisten müsse das Vertrauen derjenigen erobern, die ihnen heute immer noch nicht trauen. Daher die Parole der Einheitsfront; daher der innere Zusammenhang, der Ausschluss von allem, was uns geistig fremd ist, aus unseren Reihen und der gleichzeitige Kampf, die proletarischen Elemente zu gewinnen, die immer noch den Karrieristen, Opportunisten, Freimaurern und dergleichen vertrauen. Dies ist eine doppelte, aber eng verbundene Aufgabe. Die französischen Kommunisten, besonders die Zentristen, die unter dem Druck der Dissidenten, das heißt der französischen Sozialisten, Freimaurer in ihren Reihen geduldet hatten und die Taktik der Einheitsfront zurückgewiesen hatten, haben vorgeschlagen, die Taktik der Einheitsfront in Verbindung mit der Forderung nach politischer Amnestie anzuwenden. Ich führe Frankreich an, weil die Frage in diesem Land ihren schärfsten Ausdruck fand.

Als Frossard, der Sekretär der französischen Partei, im Namen der Kommunisten den Dissidenten, das heißt den Sozialisten, Patrioten, Reformisten vorschlug, dass sie eine gemeinsame Aktion machen, um Amnestie für revolutionäre Arbeiter zu erlangen, die während des Krieges oder der Nachkriegsperiode in Gefängnis geworfen worden waren – sobald dieser Vorschlag gemacht wurde, antworteten die gerissensten Führer der Dissidenten sofort auf eine Weise, die typisch und höchst lehrreich ist. Wir haben die Antwort schon anderswo gehört und werden sie immer hören. Die Dissidenten sagten: „Ihr Kommunisten habt euch an uns gewandt und folglich dadurch akzeptiert, dass wir keine Verräter an der Arbeiterklasse sind. Aber wir brauchen Zeit, um über euer Angebot nachzudenken; und um zu schauen, ob ihr etwa einen Dolch im Gewande habt; oder vielleicht vorhabt, uns zu diskreditieren.” Ich entnehme den Zeitungen, dass in Den Haag Genosse Radek laut Berichten sehr unhöfliche Artikel über Vandervelde und Scheidemann geschrieben hat und gleichzeitig den örtlichen Sozialdemokraten und Anhängern Amsterdams eine Einheitsfront gegen Militarismus und die Kriegsgefahr anbot.

Da ich den schlechten Charakter des Genossen Radek kenne, räume ich gerne ein, dass sein Artikel nicht sehr höflich war. Aber die Reaktion der Herren Amsterdamianer war sehr typisch: „Sehr her”, sagten, sie, „das kann nur zweierlei bedeuten. Entweder müsst ihr zugeben, dass wir keine Verräter sind, wenn ihr uns eine Einheitsfront vorschlagt, oder wir werden fest überzeugt sein, dass ihr nicht nur respektlose Artikel, sondern Dolche und Schlimmeres im Gewande versteckt.”

Genossen, diese Haltung stellt natürlich das schlagendste Eingeständnis des Bankrotts dar. Als ich das las, erinnerte mich das an Kommentare gewisser geistreicher Pariser in der Periode unserer Emigration, als die Sozialdemokraten eine Debatte mit Burzew1 vorschlugen. Nach ihnen lehnte Burzew die Debatte mit Worten ab, die darauf hinausliefen: „Ich bin ein alter weiser Vogel und ihr könnt mich nicht fangen. Was ihr mit einer Diskussion wollt, ist meine schwachen geistigen Fähigkeiten zu entlarven, aber ich gehe euch nicht auf den Leim.”

Die Herren der Zweiten Internationale sind gerissener als Burzew, aber sie gehen in die selbe Falle. Denn woraus besteht der Dolch in unserem Gewande? Er besteht darin, dass wir sagen, dass diese Leute unfähig zum Kampf sind, unfähig zur Verteidigung der Interessen des Proletariats. Und wir wenden uns an ihre Armee, des heißt an die Arbeiter, die ihnen noch folgen und ihnen vertrauen und sagen ihnen: „Wir schlagen euren Führern eine gewisse Weise vor, gemeinsam für den Achtstundentag, für politische Amnestie und gegen Lohnsenkungen zu kämpfen. Was ist unser Dolch? Dass, wenn ihr Amsterdamer und Sozialdemokraten euch in diesem Kampf als Feiglinge und Verräter erweist, ein Teil eurer Arbeiter zu uns übergehen wird. Aber wenn ihr euch entgegen unserer Erwartungen als revolutionäre Tiger und Löwen erweist, dann ist es um so besser für euch. Versucht es.”

Das ist unser Köder. Unsere Falle ist einfach, sie ist so einfach, dass sie zugleich unwiderstehlich ist. Es ist unmöglich, ihr ein Schnippchen zu schlagen. Es macht nichts, ob Burzew zustimmt oder ablehnt, mit uns zu diskutieren, weil er Angst hat, dass herauskommt, dass er nichts taugt. Ich jedem Fall taugt er nichts und hat keinen Ausweg. Mit anderen Worten: Die Parole der Einheitsfront, die schon in allen europäischen Ländern eine ungeheure Rolle bei der Aufklärung der Arbeitermassen über die Kommunisten. Sie macht den Arbeitern, die den Kommunisten noch nicht trauen, folgenden Vorschlag:

Ihr glaubt nicht an revolutionäre Methoden und die Diktatur. Gut. Aber wir Kommunisten schlagen euch und eurer Organisation vor, dass wir Seite an Seite kämpfen, um die Forderungen durchzusetzen, die ihr heute aufstellt.”

Das ist ein unschlagbares Argument. Es klärt die Massen über die Kommunisten auf und zeigt ihnen, dass die kommunistische Organisation auch für Teilkämpfe die beste ist. Ich wiederhole, dass wir in diesem Kampf größere Erfolge erzielt haben. Und neben dem wachsenden inneren Zusammenhalt der kommunistischen Parteien beobachten wir das Wachstum ihres politischen Einflusses und ihre wachsende Fähigkeit zu manövrieren, wirklich zu manövrieren. Das ist etwas, was ihnen besonders gefehlt hat.

Aus der Einheitsfront ergibt sich die Parole der Arbeiterregierung. Der vierte Kongress unterzog sie einer gründlichen Diskussion und bestätigte sie erneut als die zentrale politische Parole für die nächste Periode. Was bedeutet dieser Kampf für eine Arbeiterregierung? Wir Kommunisten wissen natürlich, dass eine wirkliche Arbeiterregierung in Europa errichtet werden wird, nachdem das Proletariat die Bourgeoisie zusammen mit ihrer demokratischen Maschinerie stürzt und die proletarische Diktatur unter der Führung der Kommunistischen Partei errichtet. Aber um dies herbeizuführen, ist es notwendig, dass das europäische Proletariat mehrheitlich die kommunistische Partei unterstützt.

Das ist noch nicht so und so sagen unsere kommunistischen Parteien bei jeder passenden Gelegenheit: “Sozialdemokratische Arbeiter, syndikalistische, anarchistische und parteilose Arbeiter! Löhne werden gekürzt; immer weniger bleibt vom Achtstundentag; die Lebenshaltungskosten schnellen empor. Solche Sachen würde es nicht geben, wenn sich alle Arbeiter trotz ihrer Differenzen vereinigen und ihre eigene Arbeiterregierung einsetzen würden.”

Und so wird die Parole der Arbeiterregierung ein Keil, der von den Kommunisten zwischen die Arbeiterklasse und alle anderen Klassen getrieben wird; und insoweit die führenden Kreise der Sozialdemokratie, die Reformisten, mit der Bourgeoisie verbunden sind, wird dieser Keil immer mehr bewirken, dass die linken sozialdemokratischen Arbeiter von ihren Führern weggezogen werden, und er bewirkt das bereits. Unter gewissen Bedingungen kann die Parole der Arbeiterregierung Wirklichkeit in Europa werden. Das heißt, ein Augenblick kann kommen, wenn die Kommunisten zusammen mit den linken Elementen in der Sozialdemokratie eine Arbeiterregierung errichten werden, ähnlich wie bei uns in Russland, als wir zusammen mit den Linken Sozialrevolutionären eine Arbeiter- und Bauernregierung schufen. Solch eine Phase würde einen Übergang zur proletarischen Diktatur darstellen, zur vollen und vollständigen. Aber jetzt liegt die Bedeutung der Parole einer Arbeiterregierung nicht so sehr in der Weise und der Bedingungen ihrer Verwirklichung im Leben als darin, dass diese Parole gegenwärtig die Arbeiterklasse insgesamt politisch allen anderen Klassen entgegenstellt, das heißt allen Gruppierungen der bürgerlichen politischen Welt.

Auf dem Vierten Kongress standen wir konkret der Frage einer Arbeiterregierung im Hinblick auf Sachsen gegenüber. Dort stellen die Sozialdemokraten zusammen mit den Kommunisten eine Mehrheit gegen die Bourgeoisie im sächsischen Landtag dar. Ich glaube, es gibt dort 40 sozialdemokratische Abgeordnete und 10 kommunistische Abgeordnete, während der ganze bürgerliche Block weniger als 50 umfasst. Und so schlugen die Sozialdemokraten den Kommunisten eine gemeinsame Bildung einer Arbeiterregierung in Sachsen vor. Es gab in dieser Frage manche Zweifel und Schwankungen in unserer deutschen Partei. Die Frage wurde hier in Moskau überprüft und eine Entscheidung getroffen, den Vorschlag abzulehnen. Was wollen die deutschen Sozialdemokraten wirklich? Was bezweckten sie mit diesem Vorschlag? Ihr alle wisst, dass an der Spitze der Republik der Sozialdemokrat Ebert steht. Unter Ebert gibt es eine bürgerliche Regierung, die von Ebert an die Macht berufen wurde. Aber in Sachsen, einem der am meisten proletarisierten Teile Deutschlands wird vorgeschlagen, eine Arbeiterkoalitionsregierung aus Sozialdemokraten und Kommunisten zu bilden. Das Ergebnis wäre: eine wirklich bürgerliche Regierung in Deutschland, im Land insgesamt, während es im Landtag eines der Teile von Deutschland als Blitzableiter eine sozialdemokratisch-kommunistische Koalitionsregierung gäbe.

Wir, die Komintern, antworteten Folgendes: Wenn ihr, Genossen, deutsche Kommunisten der Meinung seid, dass in den nächsten paar Monaten eine Revolution in Deutschland möglich ist, dann würden wir euch raten, in Sachsen an einer Koalitionsregierung teilzunehmen und eure Ministerposten in Sachsen für die Förderung der politischen und organisatorischen Aufgaben und für die Umgestaltung Sachsen in eine Art kommunistisches Aufmarschgebiet zu nutzen, um auf diese Weise schon in der Vorbereitungsperiode für den herannahenden Ausbruch der Revolution eine revolutionäre Hochburg zu festigen. Aber das wäre nur möglich, wenn der Druck der Revolution schon spürbar wäre, nur wenn sie schon da wäre. In diesem Fall würde es nur die Einnahme einer ersten Stellung in Deutschland bedeuten, das ihr als Ganzes bekommen müsst. Aber gegenwärtig werdet ihr in Sachsen natürlich die Rolle eines Anhängsels, eines ohnmächtigen Anhängsels spielen, weil die sächsische Regierung selbst ohnmächtig gegenüber Berlin ist und Berlin ist – eine bürgerliche Regierung. Die Kommunistische Partei Deutschlands stimmte dieser Entscheidung völlig zu und die Verhandlungen wurden abgebrochen. Der Vorschlag der Sozialdemokraten an die Kommunisten – die viel schwächer als die Sozialdemokraten sind und von diesen Sozialdemokraten verfolgt werden – mit ihnen die Macht in Sachsen2 zu teilen, ist natürlich eine Falle. Aber in dieser Falle drückte sich der Drang der Arbeitermassen nach Einheit aus. Dieser Druck wurde von uns erzeugt; und insoweit dieser Druck die Arbeiterklasse von der Bourgeoisie wegzieht, wird er letztlich für uns arbeiten.

Genossen, ich sagte, dass eine Welle konzentrierter Reaktion jetzt über Europa und seine Regierungsobergeschosse hinweggeht: Der Sieg der Tories in England; Poincarés Nationaler Block mit der Aussicht auf Tardieu in Frankreich; in Deutschland, das heute immer noch sozialistische Republik heißt (es wurde im November 1918 schnell so genannt) gibt es eine rein bürgerliche Regierung; und schließlich in Italien ist Mussolini an die Regierung gekommen.

Mussolini ist eine Lehre, die Europa in Sachen Demokratie, ihrer Prinzipien und Methoden gegeben wird. In gewisser Hinsicht entspricht diese Lehre – natürlich von anderen Ende aus – der, die wir Europa Anfang 1918 mit der Auflösung der Verfassunggebenden Versammlung gegeben haben. Mussolini ist eine Lehre für Europa, die im höchsten Grade lehrreich ist.

Italien ist ein altes Kulturland, mit demokratischen Traditionen, mit allgemeinem Wahlrecht usw. usf. Als das Proletariat die Bourgeoisie zu Tode erschreckte, sich aber wegen dem Verrat seiner eigenen Partei als unfähig erwies, ihr den Todesstoß zu versetze, setzte die Bourgeoisie alle ihre aktivsten Elemente angeführt von Mussolini in Bewegung, einem Abtrünnigen des Sozialismus und des Proletariats. Ein private Parteiarmee wurde mobilisiert und von einem Ende des Landes zum anderen ausgerüstet mit Mitteln, die angeblich aus mysteriösen Quellen kamen, die aber hauptsächlich aus Regierungsmitteln kommen, teilweise aus geheimen italienischen Mitteln und in einem beträchtlichen Maß aus französischen Subventionen an Mussolini. Unter dem Deckmantel der Demokratie wurde die Sturmtrupp-Organisation der Konterrevolution organisiert und im Verlauf von zwei Jahren machte sie Angriffe auf Arbeiterviertel und bildete einen Ring ihrer Truppen um Rom. Die Bourgeoisie zögerte, weil es nicht sicher war, dass Mussolini mit der Lage fertig werden würde. Aber als Mussolini seine Fähigkeit dazu zeigte, verbeugten sie sich alle vor ihm.

Die Rede, die Mussolini im italienischen Parlament hielt, sollte als Plakat in allen Arbeitereinrichtungen und -häusern in Westeuropa hängen. Was er sagte. Lief auf folgendes hinaus:

Ich könnte euch alle hier heraus jagen und dies hier [das Parlament] in ein Lager für meine Faschisten verwandeln. Aber ich brauche das nicht, weil ihr sowieso meine Stiefel lecken werdet.” Und sie alle antworteten: „Hört! Hört!” Und die italienischen Demokraten wollten daraufhin wissen: „Mit welchem Stiefel sollen wir bitten anfangen – dem rechten oder dem linken?”

Genossen, dies ist eine Lehre von außerordentlicher Bedeutung für die europäische Arbeiterklasse, die in ihren Oberschichten durch ihre Traditionen, die bürgerliche Demokratie, die bewusste Hypnose der Legalität angerostet ist.

Ich habe gesagt, dass die zentralisierte kommunistische Organisation der Komintern und das Bestehen der Sowjetrepublik die größten Errungenschaften der europäischen und Weltarbeiterklasse in dieser Epoche darstellen, wo die Bourgeoisie auf dem Sterbebett noch Triumphe feiert, in dieser Epoche, wo die aufsteigende Kurve der Revolution unterbrochen ist. Der Kern der Sache ist nicht, dass wir in Russland, internationalistische Propaganda machen. Es passiert natürlich, dass russische Genossen wie Radek und Losowski es zu unserer Überraschung schaffen, nach Den Haag zu kommen und dort respektlose Artikel zu schreiben und den Zorn der Pazifisten beiderlei Geschlechts hervorrufen usw. usf. Dies, Genossen, ist natürlich sehr wertvoll und sehr nützlich, aber immer noch von zweitrangiger Bedeutung.

Es ist auch nicht der Kern der Sache, dass wir in Moskau den Kongressen der Komintern Gastfreundschaft gewähren. Es ist natürlich eine gute Sache, aber unsere Propaganda besteht nicht darin, unsere Genossen aus Italien, Deutschland und anderswo in Empfang zu nehmen und ihnen Räume im Hotel Lux anzuweisen (die natürlich schlecht geheizt sind, da wir noch nicht gelernt haben, Heizungssysteme wirksam zu betreiben). Der Kern liegt im Bestehen der Sowjetrepublik selbst. Wir haben uns daran gewöhnt. Es scheint, das sich die ganze Weltarbeiterklasse in gewissem Sinne daran gewöhnt hat. Auf der anderen Seite tut die Bourgeoisie in gewissem Umfang so, als habe sie sich daran gewöhnt. Aber um die Bedeutung des Bestehens der Sowjetrepublik für die Revolution zu verstehen, stellen wir uns für einen Augenblick vor, dass diese Republik nicht länger bestünde. Mit Mussolini in Italien, Poincaré in Frankreich, Bonar Law in England, einer bürgerlichen Regierung in Deutschland würde der Fall der Sowjetrepublik die Verzögerung der europäischen und Weltrevolution um Jahrzehnte bedeuten; es würde den wirklichen Niedergang der europäischen Kultur bedeuten. Sozialismus würde dann vielleicht aus Amerika, aus Japan, aus Asien hervorgehen. Aber statt über Jahrzehnte zu spekulieren, streben wir danach, diese Frage in den nächsten paar Jahren zu vollenden. (Beifall.) Dafür gibt es die größte und reichlichste Gelegenheit.

Was ist das Proletariat – sogar eines so rückständigen Landes wie unserem – sobald es eine richtige Beziehung zur Bauernschaft schafft? Wir haben schon mit unseren eigenen Augen gesehen, was es ist, und unser All-Unions-Sowjetkongress, der jetzt in Moskau zusammenkommt, zeigt genau, was die Macht des Proletariats bedeutet, das zwar von der ganzen Welt blockiert und eingekreist ist, aber doch die Bauernschaft hinter sich herführt. Die europäische und die Weltarbeiterklasse ziehen ihre Stärke und Energie aus dieser Quelle, aus Sowjetrussland. Wir haben die Macht. In unsrem Land sind die Produktionsmittel verstaatlicht, Dies ist eine große Trumpfkarte in den Händen der schaffenden Masse Russlands und gleichzeitig verspricht das eine beschleunigte Entwicklung der Revolution in Europa.

Und selbst, wenn das (Arbeiter-)Amerika zurückbleibt, werden wir unser Ziel dennoch erreichen. Die amerikanische Bourgeoisie hat sich am Feuer des imperialistischen Krieges in Europa die Hände gewärmt. Aber wenn das revolutionäre Feuer in Europa einmal aufgeflammt sein wird, dann wird sich die amerikanische Bourgeoisie nicht lange halten können. Es ist nicht gesagt, dass das europäische Proletariat warten müsse, bis das amerikanische gelernt hat, auf die Vorspiegelungen seiner Bourgeoisie nicht mehr hereinzufallen. Das ist keineswegs der Fall. Die amerikanische Bourgeoisie arbeitet jetzt bewusst daran, Europa im Zustand der Fäulnis zu konservieren. Die amerikanische Bourgeoisie, mit europäischem Blut und mit europäischem Gold fett geworden, spielt in der ganzen Welt den Herrn, schickt ihre Bevollmächtigten zu den Konferenzen, wo sie schweigend, ohne irgendwelche Verpflichtungen übernommen zu haben, entscheiden und von Zeit zu Zeit die Füße auf den Tisch legen, wobei die europäischen Diplomaten sich davon überzeugen können, dass diese Füße in ausgezeichneten amerikanischen Schuhen stecken, und dass Amerika mit diesen Schuhen Europa seinen Willen diktiert. Die europäische Bourgeoisie – nicht nur die Deutschlands, Frankreichs, sondern auch Englands – tanzt nach der Pfeife der amerikanischen Bourgeoisie, die Europa während der Kriegszeit mit ihrer Unterstützung, ihren Anleihen, ihrem Gold vergewaltigt hat und jetzt dieses Europa künstlich im Zustand der Agonie erhält. Die amerikanische Bourgeoisie wird die Rechnung bezahlen müssen, die ihr das europäische Proletariat einmal vorlegen wird. Und diese Rache wird um so schneller eintreten, je größer unsere Sowjeterfolge sein werden. Unsere Propaganda – ob sie gut oder schlecht ist, das ist eine zweit- und drittrangige Frage; von entscheidender Bedeutung wird unsere Wirtschaft sein. Genossen Bauern – soviel ich weiß, sind hier auch parteilose Bauern anwesend –‚ ich sage es aus tiefster Überzeugung, dass jede Garbe Korn ein kleines Gewicht auf der Schale der europäischen Revolution ist. Was fürchtet die Arbeiterklasse Englands, was fürchtet die deutsche Arbeiterklasse? Drei Kriegsjahre lang hat das hungrige Europa existieren können, und später hat es von amerikanischem Brot gelebt. Die amerikanische Bourgeoisie droht natürlich damit, Europa bei Ausbruch einer Revolution auszuhungern, ebenso wie England und Frankreich Sowjetrussland industriell blockiert haben. Diese Frage ist für die europäische, vor allem die deutsche Arbeiterklasse außerordentlich wichtig. Und wir, Sowjetrussland, müssen ihnen sagen, dass Sowjetrussland die europäische proletarische Revolution mit Brot versorgen wird. Und wir müssen diesen Entschluss nicht nur zum Ausdruck bringen, sondern auch praktisch vorbereiten.

Das sind keine leeren Worte, keine Phrasen: das ganze Schicksal Europas hängt von der Lösung dieser Frage ab. Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder ein europäisches Proletariat unter dem Stiefelabsatz des amerikanischen Spießers, oder ein europäisches Proletariat, das in den schwersten Tagen und Monaten der Revolution die Unterstützung der russischen Arbeitern und Bauern, die Unterstützung mit Brot genießt.

Deshalb ist jeder wirtschaftliche Erfolg in der Landwirtschaft eine revolutionäre Tat. Und deshalb ist jeder Bauer in Sowjetrussland – selbst die, die nicht sicher wissen, wo Deutschland, Frankreich oder Britannien auf der Landkarte liegen – der versucht, sein Getreide anzubauen, der versucht, die Dinge wieder ins Rollen zu bringen, um der Stadt und der Industrie zu helfen – dieser Bauer ist heute ein besserer Helfer der Welt- und zunächst einmal der europäischen Revolution als alle unsere alten und erfahrenen Propangadisten zusammengenommen.

Dies, Genossen, gilt mit gleicher Kraft für unsere Industrie. Die revolutionäre Partei Europas wäre in der Tat jämmerlich, die sagen würde – was kein Kommunist je sagen würde – „Ich werde abwarten, bis die Sowjetrepublik mir zeigt, wie die Bedingung der Arbeiterklasse unter dem Sozialismus verbessert werden kann.” Niemand hat das Recht, abzuwarten; jeder hat die Pflicht, Seite an Seite mit uns zu kämpfen. Aber auf der anderen Seite ist es unbestreitbar, dass jeder unserer wirtschaftlichen Erfolge in dem Ausmaß, in dem er uns befähigt, die Bedingungen für die Arbeiterklasse in Russland zu verbessern, während die Bedingungen für die Arbeiterklasse in Europa von Stufe zu Stufe fällt – ja es ist unbestreitbar, dass jeder wirtschaftliche Erfolg von uns das gewichtigste Argument, die gewichtigste Propaganda zugunsten der Beschleunigung der proletarischen Revolution in Europa ist. Die Macht liegt in unseren Händen; das bedeutet, dass die Produktion in unseren Händen ist. Wir halten die Grenzen. Die ist auch keine unbedeutende Sache.

Jener amerikanische Milliardär mit seinen erstklassigen Stiefeln könnte unser ganzes Russland mit seinen Milliarden kaufen, wenn unsere Grenzen für ihn offen wären. Deshalb ist das Außenhandelsmonopol genauso unsere unverzichtbare revolutionäre Errungenschaft wie die Verstaatlichung der Produktionsmittel. Deshalb werden die Arbeiterklasse und die Bauernschaft Russlands keine Verletzung des Außenhandelsmonopols zulassen, egal wie viel Druck von allen fünf Kontinenten dieses Erdballs, die immer noch unter dem kapitalistischen Joch sind, auf uns ausgeübt wird. Dies sind unsere Trumpfkarten. Nur mit einer richtigen Wirtschaftsorganisation können wir sie bewahren, vervielfachen und nicht vergeuden. Von diesem Standpunkt, Genossen, darf es keine Selbsttäuschung bezüglich der Schwierigkeiten unserer Aufgaben geben. So sagten wir auf dem Vierten Kongress, der unsere Neue Wirtschaftspolitik als einen besonderen Punkt in Verbindung mit den Weltperspektiven auf seine Tagesordnung nahm. Wir haben unsere große Trumpfkarten aufgeführt: Staatsmacht, Transport, die grundlegenden Produktionsmitteln in der Industrie, die natürlichen Rohstoffe, die Verstaatlichung des Bodens und das Außenhandelsmonopol. Das sind erstklassige Trümpfe. Aber wenn man nicht weiß, wie man sie nutzt, ist es möglich, mit noch besseren Trümpfen zu verlieren. Genossen, wir müssen lernen. Auf dem Kongress betonte Genosse Lenin in seiner kurzen Rede besonders dies, dass nicht nur sie sondern auch wir lernen müssen. Wir müssen lernen, die Industrie richtig zu organisieren, denn diese richtige Organisierung der Industrie liegt immer noch vor und nicht hinter uns. Es ist unser morgen und nicht unser gestern, nicht einmal unser heute.

Wir machen Anstrengungen zur Stabilisierung unserer Währung. Dies wurde auch auf dem Vierten Kongress aufgegriffen. Solche Anstrengungen sind unverzichtbar und je größer natürlich unsere relativen Erfolge auf diesem Feld, desto leichter wird unsere Verwaltungsarbeit in der Industrie. Aber wir verstehen alle nur zu klar, dass alle Anstrengungen auf diesem Feld der Finanzen, die nicht von wirklichen materiellen Erfolgen auf dem Feld der Industrie begleitet sind, reine Spielerei bleiben müssen. Die Grundlage ist unsere Industrie; der Sowjetstaat beruht auf dieser Grundlage, gedeiht mit ihr und sichert aus ihr die Gewissheit für die künftigen siege der Arbeiterklasse.

Endlich gibt es einen weiteren Trumpf, eine weitere Maschine, eine weitere Organisation, die ebenfalls in unserer Hand ist. Wir redeten mehr als einmal über sie auf dem Vierten Kongress. Es ist unsere Partei. Ich spreche hier in erster Linie vor der Kommunistischen Fraktion des Sowjetkongresses und es ist notwendig, am Schluss ein paar Worte über unsere Partei zu sagen. Aus der allgemeinen Analyse folgt, dass wir im europäischen Maßstab eine Periode des Rückgangs im direkten revolutionären Kampf durchmachen und gleichzeitig eine Periode der Schulungsarbeit und Stärkung der Kommunistischen Partei. Die Entwicklung hat eine verlangsamten und langgezogenen Charakter angenommen. Dies bedeutet, dass wir länger auf die Unterstützung des europäischen und später des Weltproletariats warten müssen; dies bedeutet, dass unsere Partei für eine längere Zeitspanne, vielleicht für mehrere Jahre, ausersehen ist, die Vorhut der Weltrevolution zu bleiben.

Dies ist eine sehr große Ehre. Es ist auch eine große Verantwortung, eine sehr große Last. Wir würden vorziehen, neben uns Sowjetrepubliken in Deutschland, Polen und anderen Ländern zu haben. Unsere Verantwortung wäre dann geringer und die Schwierigkeiten unserer Lage wären nicht so groß. Unsere Partei hat alte Kader mit vorrevolutionärer, Untergrundstählung, aber sie sind in der Minderheit. Wir haben in unserer Partei hunderttausende, die, was das menschliche Klassenmaterial betrifft in einer Weise den alten unterlegen sind. Diese Hunderttausende, die nach der Revolution in unsre Reihen strömten, besitzen den Vorzug der Jugend, sind aber durch geringere Erfahrung behindert. Genosse Lein sagte mir (ich habe es nicht selber gelesen), dass ein Arzt, entweder ein Tscheche oder ein Deutscher, geschrien hat, dass die Kommunistische Partei Russlands aus ein paar Tausend Alten und dem Rest Jugend besteht. Er denkt, die Bedingungen der NEP werden tendenziell unsere Partei umformen und wenn die alte Generation – ein paar Tausend stark – von der Aktivität abtritt, wird die Partei unwahrnehmlich durch die Elemente der NEP, die Elemente des Kapitalismus umgewandelt. Hier ist, wie ihr seht, eine subtile politische und psychologische Berechnung. Diese Berechnung ist natürlich durch und durch falsch. Aber gleichzeitig fordert sie von unserer Partei, dass sie sich über den langgezogenen Charakter der revolutionären Entwicklung und der Schwierigkeiten in unserer Lage Rechenschaft ablegt; und dass unsere Partei ihre Anstrengungen bei der Schulung ihrer neuen Generationen, der Anziehung der Jugend und der Erhöhung der Qualifikationen der Parteimassen verdoppelt und verdreifacht. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist das eine Frage auf Leben und Tod für uns.

Genossen, ich möchte auf eine weitere Episode verweisen – eine sehr schwerwiegende Episode für uns – nämlich die Krankheit von Wladimir Iljitsch [Lenin]. Die meisten von uns hier hatten nicht die Gelegenheit, die europäische Presse zu verfolgen. Es hat viele wilde Kampagnen betreffend uns und gegen uns gegeben, aber ich erinnere mich nicht an so eine konzentrierte Kampagne der Böswilligkeit, der Boshaftigkeit und teuflischen Spekulation wie die gegenwärtige Kampagne rund um die Krankheit des Genossen Lenin – nicht einmal in den Tagen von Kerenski, als wir als deutsche Spione gejagt wurden. Unsere Feinde hofften natürlich auf das schlimmste Ergebnis und das schlimmste persönliche Ergebnis. Gleichzeitig sagten sie, dass unsere Partei enthauptet sei, gespalten in einander bekriegende Gruppen, zerfallend, und dass sich die Gelegenheit eröffne, die Hand nach Russland auszustrecken. Der weißgardistische Abschaum hat davon natürlich offen geredet. Die Diplomaten, die Kapitalisten Europas, haben darauf angespielt, weil sie einander mit Andeutungen verstehen.

Genossen, auf diese Weise zeigen sie gegen ihren eigenen Willen und ihre Wünsche, dass sie auf ihre eigenen Weise fähig waren, die Bedeutung des Genossen Lenin für unsere Partei und die Revolution einzuschätzen; und auf der anderen Seite, dass sie weder den Charakter noch – was für sie schlimmer ist – die Natur unserer Partei verstehen. Es ist überflüssig, dass ich vor der Kommunistischen Fraktion des Sowjetkongresses über die Bedeutung des Genossen Lenin für die Bewegung in unserem Land und der Welt rede. Aber es gibt, Genossen, eine Art Band, das nicht materiell, sondern geistig ist, ein inneres unauflösliches Band zwischen der Partei und der Person, die sie am besten, am vollsten und auf geniale Weise ausdrückt. Und dies hat Ausdruck darin gefunden, dass als Genosse Lenin durch Krankheit von seiner Arbeit weggerissen wurde, die Partei (die etwas über das Heulen der bürgerlichen Schakale auf der ganzen Welt wusste) mit gespannter Erwartung auf Nachrichten und Bulletins über den Zustand des Genossen Lenin wartete, aber gleichzeitig kein Muskel unserer Partei zitterte, es kein einziges schwanken, keine Spur von Möglichkeit von innerem Kampf, geschweige denn einer Spaltung gab. Als Genosse Lenin auf Anweisung seiner Ärzte von der Arbeit abgezogen wurde, verstand die Partei, dass jetzt eine doppelte und dreifache Verantwortung auf jedes Mitglied gefallen sei; und die Partei wartete einmütig und mit geschossenen Reihen auf die Rückkehr des Führers.

Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich ein Gespräch mit einem ausländischen bürgerlichen Politiker, der mit sagte: „Ich komme ziemlich viel in euren Parteikreisen und in Sowjetkreisen herum. Natürlich gibt es persönliche und Gruppenkonflikte unter euch, aber eins man muss euch lassen. Immer wenn es um die Außenwelt, oder eine Gefahr von außen oder eine allgemeine Aufgabe geht, begradigt ihr immer eure Front.” Der letzte Teil seiner Erklärung über die Begradigung der Front, freute mich, aber der erste Teil ärgerte mich etwas, das muss ich zugeben. In dem Maße, dass in so eine großen Partei wie unserer, mit so großen Aufgaben wie unserer und unter so großen sichtbaren Schwierigkeiten und mit dem fraglosen Verschleiß der Alten (was in der Natur der Sache liegt) – in dem Ausmaß, dass manche inneren Gefahren in unserer Partei entstehen konnten, gibt es kein Mittel gegen sie und kann es kein anderes Mittel geben als die Hebung der Qualifikation der ganzen Partei und die Stärkung ihrer öffentlichen Meinung, so dass jedes einzelne Mitglied auf jedem Posten den vergrößerten Druck der öffentlichen Meinung der Partei fühlt.

Dies sind die Folgerungen, die wir als der allgemeinen internationalen Lage ziehen. Die Stunde der europäischen Revolution wird vielleicht nicht morgen schlagen. Wochen und Monate werden vergehen, vielleicht mehrere Jahre, und wir werden weiterhin der einzige Arbeiter- und Bauernstaat auf der Welt bleiben. In Italien hat Mussolini triumphiert. Haben war eine Garantie gegen den Sieg eines deutschen Mussolini in Deutschland? Überhaupt nicht. Und es ist völlig möglich, dass eine viel reaktionärere Regierung als Poincarés in Frankreich an die Macht kommen wird. Bevor die Bourgeoisie sich auf die Hinterbeine setzt und ihren Kerenski nach vorne schiebt, ist sie durchaus in der Lage, ihre Stolypins, Sipjagins und Plehwes nach vorne zu bringen. Dies wird das Vorspiel der europäischen Revolution sein, vorausgesetzt, wir können uns halten, vorausgesetzt, dass der Sowjetstaat bestehen bleibt und folglich vor allem vorausgesetzt, dass unsere Partei sich bis zum Ende erhalten kann. Wir werden vielleicht durch mehr als ein Jahr dieser wirtschaftlichen, politischen und andersartigen Vorbereitungsarbeit gehen muss.

Deshalb müssen wir näher heran an unsere Massenreserven. Mehr Jugend um die Partei und in ihr! Hebt ihre Qualifikation auf das Maximum! Angesichts dieser Tradition des völligen Zusammenhalts und mit dem Heben der Qualifikationen unserer Partei, mit der Verlagerung der Erfahrung von der alten Generation an die junge: egal welche Stürme – diese Vorboten des endgültigen proletarischen Sieges – über unsere Köpfe hereinbrechen werden, wir werden fest stehen im Wissen, dass die Sowjetgrenze der Schützengraben ist, den die Konterrevolution nicht überschreiten kann. Dieser Graben ist von uns bemannt, von der Vorhut Sowjetrusslands, der Kommunistischen Partei, und wir werden diesen Schützengraben unverletzt und undurchdringlich halten, bis zu dem Tag, wenn die europäische Revolution ankommt und über ganz Europa das Banner der Sowjetrepublik der Vereinigten Staaten Europas wehen wird, der Tür zur Sozialistischen Weltrepublik.

(Langer und stürmischer Beifall.)

(Rufe: Lang lebe der Führer der Roten Armee, Genosse Trotzki! Lang lebe Genosse Lenin!)


1 Burzew war Mitglied der Sozialrevolutionäre, Spezialist für das Entlarven von zaristischen Provokateuren in der revolutionären Bewegung. Im Ersten Weltkrieg wurde er Sozialpatriot, nach der Oktoberrevolution Konterrevolutionär.

2 In der revolutionären Lage 1923 wurde dann doch eine Arbeiterregierung in Sachsen gebildet. „Bedauerlicherweise war letztere übermäßig vom ,Arbeiteraufbau' eingenommen, statt ihre Lage für die Leitung der Vorbereitung des Bürgerkriegs auszunutzen” (aus der Fußnote zur russischen Ausgabe von pjat let kominterna. Moskau 1924)

Kommentare