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Leo Trotzki 19220606 Brief an den Genossen Ker

Leo Trotzki: Brief an den Genossen Ker

[eigene Übersetzung nach The first five years of the Communist International, Band 2, London 1974, S. 138-142]

Lieber Genosse Ker,

Ihr Brief vom 27. Mai kam heute am 3. Juni an, was wirklich eine Rekordzeit unter den Bedingungen ist, die seit dem „Befreiungs”krieg geherrscht haben. Leider bin ich weit davon entfernt, mich mit Ihrer Einschätzung dessen zu solidarisieren, was in unserer französischen Partei stattfindet, und ich halte es für meine Pflicht, auf Ihren freundlichen Brief mit einer ebenso freundlichen Offenheit zu antworten.

1. Der Mangel an Bestimmtheit und die gleichfalls unzureichende ideologische und organisatorische Klarheit des französischen Kommunismus kommen nicht von unten, sondern von oben. Die französische Arbeiterklasse in ihrer doppelten Eigenschaft als sowohl Arbeiterklasse als auch französische Arbeiterklasse sucht Klarheit, Bestimmtheit, Abgeschlossenheit und Entschlossenheit. In dem Ausmaß, indem sie das in der alten Partei nicht fand, schuf sie den revolutionären Syndikalismus. In dem Ausmaß, in dem die Führung der Kommunistischen Partei heute sich zu langsam des Erbes der Vergangenheit entledigt, in dem Ausmaß droht der französischen Arbeiterklasse ein Rückfall in den revolutionären Syndikalismus. Wie es immer bei historischen Rückfällen der Fall ist, schwinden die positiven Merkmale des revolutionären Vorkriegssyndikalismus zu Null, während die negativen Merkmale extrem anwachsen. Lassen Sie mich wiederholen, der Mangel an Klarheit kommt nicht von unten, sondern von oben. Ihre Quelle stellen die Herausgeber, Journalisten, Abgeordneten dar, deren wechselseitige Beziehungen und deren Verbindungen in der Vergangenheit verwurzelt sind. Daher kommt die extreme Unentschlossenheit des Zentralkomitees in allen Fragen, bei denen es um Zeitungen, Zeitungsleute und so weiter geht (der Fabre-Zwischenfall).

2. Ich bin sehr überrascht über Ihre Vorwürfe in Verbindung mit dem Ausschluss von Fabre. Das EKKI beabsichtigte, Fabre schon auf seiner Plenarsitzung auszuschließen. Es nahm nur Abstand davon, weil die französische Delegation die Verantwortung für die Durchführung des Ausschlusses summarisch übernahm (in der Kommission, in der ich den Vorsitz hatte, wurden vier Wochen definitiv als Frist gesetzt). Daraufhin wurde eine Änderung in den Text der Resolution eingefügt, die für uns völlig unerwartet war: Die Formulierung: „Journal du Peuple wird außerhalb der Partei gestellt” wurde geändert in „Journal du Peuple wird außerhalb der Kontrolle der Partei gestellt”. Diese Änderung sollte offensichtlich den Ausschluss bemänteln zu einer Zeit als die Komintern klar die Absicht hatte, den Ausschluss mit einem offenen, demonstrativen und scharfen politischen Charakter durchzuführen. Daraufhin kam es zu Verzögerung und Obstruktion, die eine direkte und krasse Verletzung der Verpflichtung waren, die die französische Delegation im Namen des Zentralkomitees eingegangen war. In ihrem politischen Bericht erklärte die Genossin Leiciague, dass sie nichts bezüglich des Ergebnis der Kommissionsuntersuchung zu sagen habe. Die Parteipresse brachte keinen einzigen Artikel in diesem Zusammenhang. Besonders kann ich vor Ihnen nicht verbergen, wie sehr ich und andere Genossen überrascht waren, dass keine Artikel von Ihnen, Genosse Ker, erschienen, die den französischen Arbeitern die politische Bedeutung hinter dem Ausschluss von Fabre und seiner Zeitung als Hort der Ansteckung aus der Partei erklärten. Ist es nicht ein erstaunlicher und gleichzeitig alarmierender Umstand, dass die führenden Parteiorgane keine Artikel bringen, die die Entscheidungen der Komintern erklären und verteidigen? Verwandelt das nicht alle Reden über Disziplin, Blutsbande etc. in reine Formalität? Modigliani pflegte zu sagen, dass Anschluss an die Komintern bedeute, von Zeit zu Zeit italienische Ansichtspostkarten zu schicken. Aber genau aus diesem Grund hat sich Modigliani außerhalb der Kommunistischen Internationale gestellt. Wie ist es möglich, ein derartiges Verhalten zu unterstützen, bei dem nach Entscheidungen, die mit der Zustimmung der französischen Delegation unternommen werden, diese Entscheidungen dann in der Aktion sabotiert und nicht einmal formell in der Parteipresse verteidigt werden?

Die Komintern hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, den französischen Arbeitern zu zeigen, dass sie eine funktionierende zentralisierte Organisation mit einem eigenen politischen Willen ist. Heute stellt sich die Frage scharf und klar. Der Ausschluss von Fabre ist eine politische Tatsache. Trotz der persönlichen Bedeutungslosigkeit von Fabre hat sein Ausschluss die größte Bedeutung. Die Komintern hat durch diese Handlung der französischen Partei signalisiert, dass sie vor inneren Gefahren steht und dass Verzögerungen bei der Lösung innerer Probleme bedeutet, auf noch schärfere Krisen zuzusteuern.

3. Ich bin auch nicht in der Lage im Bereich der Gewerkschaftsfrage Fortschritt festzustellen. Im Gegenteil sehen wir hier einen ununterbrochen Rückzug der Partei. Verdier, Quinton und andere haben die Autorität der Partei ausgebeutet, um sich in der Gewerkschaftsbewegung einzugraben und dann die Partei zur Seite getreten. Artikel in der Humanité verteidigen Jaurèsistische Tendenzen in der Gewerkschaftsfrage, das heißt eine Tendenz, die der Tendenz direkt entgegen läuft, die von der Komintern beschlossen wurde und die, wenn auch nicht fest genug, in Resolutionen auf dem Marseiller Parteitag niedergelegt wurde. Ihr räumt Stellungen in der Gewerkschaftsbewegung zu einer Zeit, wo die Massen nach Führung schauen. Aus diesem Grund besetzen Syndikalisten und Libertäre automatisch Positionen, auf die sie keinerlei ideologisches Recht haben und hier sehen wir die Gefahr einer heraufdämmernden Krise in den Spitzenkreisen der Gewerkschaftsbewegung. Ein paar prinzipienfeste, klare und feste Leitartikel in der Humanité sind ein paar hundert Mal wichtiger als Vereinbarungen mit der CGTU hinter den Kulissen. In solchen Fragen wie der Gewerkschaftsfrage ist es unzulässig, dass führende Aktivisten die Rolle von Primadonnen spielen, von denen jede ihre eigene Ansicht hat. Wir haben klare und genaue Entscheidungen der Komintern und der französischen Partei selbst. Diese Entscheidungen müssen durchgeführt werden und wer diese Grundentscheidungen verletzt, muss aus der Partei ausgeschlossen werden, sonst werden wir unvermeidlich Abenteurer vom Verdier-Quinton-Typ hervorbringen.

4. Ich kann die Einschätzung, die der Genosse Rosmer machte, überhaupt nicht als zu „pessimistisch” ansehen. Aus Paris bekam ich von ihm einen einzigen Brief, der Moskau erreichte – lassen sie mich das nebenbei bemerken, um falschen Schlussfolgerungen vorzubeugen – zehn Tage nachdem das EKKI seine Entscheidung in der französischen Frage fällte. Der Genosse Rosmer hatte so nicht den kleinsten Einfluss auf die Annahme dieser Entscheidungen. Aber in Rosmers Brief fand ich nachträglich eine ergänzende Bestätigung, dass die einmütig angenommenen Entscheidungen des EKKI unbedingt richtig waren.

Lassen Sie mich nebenbei sagen, dass ich weder in Rosmers noch in meinen Ansichten „Pessimismus” sehe. Im Gegenteil entdecke ich viel mehr Pessimismus, lieber Genosse Ker, in Ihrer Haltung gegenüber der französischen Partei. Sie meinen anscheinend, dass es notwendig sei, die selbe Taktik in Bezug auf die französische Partei anzuwenden, die man gegenüber einer schwer kranken Person anwenden würde, nämlich zu flüstern, auf Zehenspitzen zu laufen usw. usf. Wir denken andererseits, dass die französische Partei in ihrem grundlegenden proletarischen Kern zutiefst gesund, revolutionär ist und eifrig nach größerer Bestimmtheit und größerer Entschlossenheit in der Führung strebt.

5. Auch in der Frage der Einheitsfront kann ich leider meine Einschätzung der Lage nicht ändern. Das von unserer französischen Parteipresse in dieser Frage entfachte Gezeter lenkt nur die Aufmerksamkeit von den wahrlich akuten und unaufschiebbaren Fragen des inneren Lebens der Partei ab. Ich führe ein lebendes Beispiel an: Genosse Daniel Renoult veröffentlicht die superopportunistischen pazifistischen Artikel von Verfeuil, Pioch und Méric, erlaubt Méric, systematisch aus dem Journal du Peuple zu zitieren, kritisiert nie die absolut verräterische Linie der Fabre-Clique und drückt ständige Sorge aus, ob Frossard Spitzenverhandlungen mit Scheidemann und Vandervelde führt. Wir haben alle den Eindruck, dass der Genosse Renoult für seine Unnachgiebigkeit ein großes Feld hat, das viel näher zu Hause ist, vor allem seine eigene Zeitung. Aber er zieht es vor, seine Unnachgiebigkeit nach Berlin zu verlegen. Die Internationale legte der französischen Kommunistischen Partei keinerlei konkrete Vereinbarung mit den Dissidenten auf: in diesem Zusammenhang droht keine konkrete Gefahr, aber inzwischen drohen die Dissidenten im Kern (die Fabre-Clique, die Cliquen à la Verdier, Quinton usw.) tatsächlich die Partei zu untergraben, ihr das Gesicht zu rauben, ihren Willen zu lähmen und werden nicht zurechtgewiesen.

Gewisse Genossen sagen, dass wir die Bedeutung dieser Phänomene „überschätzen”. Wir antworten, dass führende Genossen die Bedrohung nicht richtig einschätzen, die in diesen Phänomenen liegt, ist eine sehr gefährliche Tatsache.

6. Meiner Meinung nach ist die Lage innerhalb der französischen Partei kritisch. Zwei Wege der künftigen Entwicklung sind möglich:

  1. Ein fester und klarer innerer Kurs: Verjagung der Clique der rechten Streikbrecher um zu zeigen, dass die Partei bei der Disziplin keinen Spaß versteht; wirkliche Führung durch das Zentralkomitee der Partei und wirkliche Erfüllung der Entscheidungen der Kommunistischen Internationale. Dies ist der gesündeste und erstrebenswerteste Weg.

  2. Eine Fortsetzung der unentschlossenen Politik durch die führende Zentrumsgruppe, die den linken Flügel tendenziell isoliert: grenzenlose Toleranz gegenüber allen Erscheinungsformen des Pazifismus, Reformismus und Nationalismus innerhalb der Partei neben einer scheinbaren und fiktiven Unnachgiebigkeit in Fragen internationaler Tragweite, plus das Fehlen einer festen und entschlossenen Linie in der Gewerkschaftsfrage. Diese Weg führt automatisch zur Wiederholung der italienischen Erfahrung, das heißt zu einer Spaltung, bei der das Zentrum mit dem rechten Flügel zusammenbleibt, während der linke sich zu einer Kommunistischen Partei herauskristallisiert. In Italien wurde dieser Weg durch die mächtige Umwälzung der Septemberrevolution und ihre Niederlage (1920) erzeugt. In Frankreich auf der anderen Seite, das durch die italienische Erfahrung bereichert ist, kann so ein Weg nur durch die fortgesetzte fatalistische Passivität der führenden Zentralgruppe erzeugt werden. Natürlich wird selbst bei dieser am wenigsten erstrebenswerten Variante die Partei langfristig auf den Weg kommen. Die unvermeidlichen folgenden „Umgruppierungen” im Proletariat (auf die sich unsere französische Presse von Zeit zu Zeit bezieht, aber leider sehr unbestimmt) wird sich nach links und nicht nach rechts orientieren. Politiker, die unter dem unmittelbaren Einfluss der isolierten Verzögerungen und Ebben sind, sind Impressionisten und keine Revolutionäre, und sie werden durch den Gang der Ereignisse weggefegt werden. Die Partei kann und muss sich auf die weitere Ansammlung revolutionärer Widersprüche orientieren. Eine Auswahl von Individuen und ihre Stählung ist dringend notwendig. Ereignisse fordern von uns minimales Vertrauen1, maximale Kräftekonzentration, maximale Entschlossenheit. Die Entscheidungen der Komintern sind diktiert durch eine Sehnsucht, der französischen Partei bei der Erlangung dieser Eigenschaften in der kürzestmöglichen Zeit zu helfen.

Lassen Sie mich erneut wiederholen: Ich schreiben mit völliger Offenheit, weil ich denke, dass zu viel schon verloren ist und zu viel auf dem Spiel steht.

Ich schüttle Ihnen warm die Hand,

L. Trotzki

Moskau, 6. Juni 1922

1Im englischen Text steht „maximum assurance“, im französischen „minimum de confiance“

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