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Leo Trotzki 19210713 Brief an den Genossen Monatte

Leo Trotzki: Brief an den Genossen Monatte

[Eigene Übersetzung nach The first five years of the Communist International, Band 2, S. 158-161]

Mein lieber Freund, ich ergreife diese Gelegenheit, um meine wärmste Hochachtung zu senden, und meine persönlichen Ansichten über den Zustand des französischen Syndikalismus auszudrücken – Ansichten, die, worauf ich vertraue, in völliger Harmonie mit der Leitlinie der Dritten Internationale insgesamt sind.

Ich werde nicht vor Ihnen verstecken, dass unsere Freude bei der Verfolgung der ständigen Erfolge des revolutionären Syndikalismus mit tiefster Sorge über die künftige Entwicklung der Ideen und Beziehungen innerhalb der französischen Arbeiterbewegung gefärbt ist. Heute bleiben die revolutionären Syndikalisten aller Tendenzen immer noch eine Opposition und werden genau durch diesen Oppositionsstatus zusammengehalten. Morgen, wenn Sie die CGT erobern – und wir zweifeln nicht, dass dieser Tag nahe ist – werden Sie vor grundlegenden Fragen des revolutionären Kampfes stehen. Und gerade hier treten wir in die Zone unserer großen Sorgen ein.

Das offizielle Programm des revolutionären Syndikalismus ist die Charta von Amiens. Um sofort meine Gedanken so scharf wie möglich auszudrücken, lassen Sie mich offen sagen – jeder Bezug auf die Charta von Amiens ist keine Antwort, sondern eine Ausflucht. Jedem denkenden Kommunisten ist völlig klar, dass der französische Vorkriegssyndikalismus eine zutiefst bedeutsame und wichtige revolutionäre Strömung darstellt. Die Charta von Amiens war ein äußerst kostbares Dokument der proletarischen Bewegung. Aber dieses Dokument ist historisch beschränkt. Seit ihrer Annahme hat ein Weltkrieg stattgefunden, Sowjetrussland wurde gegründet, eine mächtige revolutionäre Welle ist über ganz Europa hinweggegangen, die Dritte Internationale ist gewachsen und hat sich entwickelt. Die alten Syndikalisten und die alten Sozialdemokraten haben sich in zwei und sogar drei feindliche Lager aufgespalten. Neue Fragen von gigantischen Ausmaßen sind vor uns aufgetaucht als praktische Fragen auf der Tagesordnung. Keine Antwort auf diese Fragen ist in der Charta von Amiens enthalten. Aus den Spalten der Vie Ouvrière kann ich keine Antwort auf die grundlegenden Probleme des revolutionären Kampfes bekommen. Kann es möglich sein, dass im Jahr 1921 unsere Aufgabe in die Rückkehr zu den Positionen von 1906 liegt und in der Herbeiführung der „Wiederherstellung” (réconstruction) des Vorkriegssyndikalismus? Solch eine Haltung ähnelt im Prinzip sehr der Haltung jener politischen „Wiederhersteller” (réconstructeurs), die von einer Rückkehr zum reinen Sozialismus träumen, wie er vor dem Sündenfall während des Krieges bestand. Solch eine Haltung ist formlos; sie ist konservativ und sie droht, reaktionär zu werden.

Wie stellen Sie sich die Führung der syndikalistischen Bewegung von dem Augenblick an vor, wo Sie die Mehrheit der CGT erlangen? Die Reihen der Syndikate umfassen Parteikommunisten, revolutionäre Syndikalisten, Anarchisten, Sozialisten und breite parteilose Massen. Natürlich muss jede Frage, bei der es um revolutionäre Aktion geht, letztlich vor den ganzen syndikalistischen Apparat gebracht werden, der Hunderttausende und Millionen Arbeiter umfasst. Aber wer wird die revolutionäre Erfahrung zusammenfassen, sie analysieren, alle notwendigen Schlussfolgerungen aus ihr ziehen, die bestimmten Vorschläge, Parolen und Kampfmethoden formulieren und sie den breiten Massen übermitteln? Wer wird führen? Meinen Sie vielleicht, dass diese Arbeit im Kreis der Vie Ouvrière durchgeführt werden kann? Wenn das der Fall ist, kann man mit Gewissheit erklären, dass neben Ihnen andere Kreise aufkommen werden, die Ihr Recht auf Führung unter dem Banner des revolutionären Syndikalismus in Frage stellen. Und nebenbei – was ist mit dem großen Kontingent an Kommunisten in den Syndikaten? Was wird die Beziehung zwischen ihnen und Ihrer Gruppe sein? Die führenden Organe des einen Syndikats können von Parteikommunisten beherrscht sein, während in den Organen eines anderen Syndikats revolutionäre parteilose Syndikalisten vorherrschen mögen. Die Vorschläge und Parolen der Vie-Ouvrière-Gruppe können von den Vorschlägen und Parolen der kommunistischen Organisation abweichen. Diese Gefahr ist zutiefst real, sie kann fatal werden und wegen ihr kann auf unseren Sieg in der syndikalistischen Bewegung innerhalb von ein paar Monaten eine Rückkehr der Jouhaux, Dumoulin und Merrheim an die Macht folgen.

Ich bin mit dem Vorurteil gegen „Parteien” und gegen „Politik” wohlvertraut, das es unter französischen Arbeitern gibt, die durch die anarchistische Schule gegangen sind. Ich stimme völlig damit überein, dass nicht ein einziger scharfer Schlag diese Stimmungen brechen kann, die in der Vergangenheit völlig gerechtfertigt waren, aber die für die Zukunft sehr gefährlich sind. Bezüglich dieser Frage kann ich einen schrittweisen Übergang von der alten Verbindungslosigkeit zur völligen Vereinigung der revolutionären Syndikalisten und Kommunisten innerhalb einer einzigen Partei voll verstehen. Aber man muss sich dieses Ziel klar und fest setzen. Wenn es in der Partei immer noch zentristische Strömungen gibt, dann gibt es sie in der syndikalistischen Opposition genauso. Mehr Schulung und weitere ideologische Reinigung sind in beiden notwendig. Es geht überhaupt nicht um die Unterordnung der Syndikate unter die Partei, sondern um die Einigung der revolutionären Kommunisten und revolutionären Syndikalisten im Rahmen einer einheitlichen Partei; und darum, dass alle Mitglieder dieser einigen Partei eine harmonische und zentralisierte Tätigkeit in den Syndikaten durchführen, die durch und durch autonom und von der Partei organisatorisch unabhängig bleiben. Es geht darum, dass die wirkliche Vorhut des französischen Proletariats zum Wohle ihrer grundlegenden historischen Aufgabe – der Machteroberung – zusammengeschweißt werden kann, und dass sie unter diesem Banner ihre Linie in den Syndikaten durchführt, die die grundlegenden und entscheidenden Organisationen der französischen Arbeiterklasse insgesamt sind.

Es gibt ein gewisses psychologisches Hindernis, dass ein Mensch die Schwelle der Partei überschreitet, nachdem er viele Jahre im revolutionären Kampf außerhalb der Partei verbracht hat. Aber dem nachzugeben, bedeutet, vor einer äußeren Form zurückzuscheuen und damit dem inneren Wesen den größten Schaden zuzufügen. Denn es ist meine Position, dass Ihre ganze vergangene Tätigkeit nichts anderes als die Vorbereitung für die Schaffung der Kommunistischen Partei der proletarischen Revolution war. Der revolutionäre Vorkriegssyndikalismus war eine embryonale Kommunistische Partei. Zu diesem Embryo zurückzukehren, wäre ein ungeheuerlicher Rückschritt. Umgekehrt bedeutet aktive Teilnahme am Aufbau einer wirklichen Kommunistischen Partei die Fortsetzung und Entwicklung der besten Traditionen des französischen Syndikalismus.

In diesen Jahren hatte jeder von uns Gelegenheit, einen Teil seiner schon hinfällig gewordenen Vergangenheit aufzugeben, um den anderen Teil seiner Vergangenheit zu bewahren, zu entwickeln und ihm den Sieg zu sichern, der den Test der Ereignisse bestanden hat. Eine innere Revolution dieser Art kommt nicht leicht. Aber nur zu diesem Preis und allein zu diesem Preis kann man das Recht erlangen, wirklich an der Revolution der Arbeiterklasse teilzunehmen.

Lieber Freund! Ich denke, dass der gegenwärtige Augenblick für lange Zeit das Schicksal des französischen Syndikalismus und folglich der französischen Revolution entscheiden wird. Bei dieser Entscheidung haben Sie einen wichtigen Platz inne. Sie werden der Sache, die Sie zu ihren besten Arbeitern zählt, einen grausamen Schlag versetzen, wenn Sie heute, wo endgültig entschieden werden muss, der Kommunistischen Partei den Rücken zuwenden. Ich habe keinen Zweifel, dass dies nicht passieren wird.

Ich schüttle Ihnen warm die Hand und bleibe Ihr

Leo Trotzki

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