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Leo Trotzki 19210714 Brief an die Genossen Cachin und Frossard

Leo Trotzki: Brief an die Genossen Cachin und Frossard

[Eigene Übersetzung nach The first five years of the Communist International, Band 2, New York 1945, S. 162-165]

Liebe Freunde, dies ist zwar ein persönlicher Brief, ich werde aber versuchen, alle möglichen falschen Vorstellungen und Missverständnisse zu zerstreuen, die sich aus den extrem schlechten Verbindungen zwischen Paris und Moskau ergeben haben können. Seit den revolutionären Ereignissen in Deutschland im März diesen Jahres hat die deutsche bürgerliche Presse ständig wiederholt, dass die Märzbewegung durch Befehle aus Moskau wegen unserer inneren Schwierigkeiten hervorgerufen worden sei. Dies hat mich und, wie ich glaube, auch andere Genossen veranlasst, zu fürchten, dass diese Gerüchte Alarm unter den Kommunistischen Parteien Europas hervorrufen können. Hoffen wir, dass der Dritte Weltkongress dazu gedient hat, alle Zweifel und Ängste in diesem Zusammenhang auszuräumen. Diese Ängste selbst, soweit sie hier und da erzeugt wurden (vielleicht sogar in Frankreich), konnten nur wegen Mangel an Information aufrecht erhalten werden. Es ist völlig offensichtlich, dass selbst wenn wir den Standpunkt einnehmen würden, nur den Interessen der russischen Sowjetrepublik und nicht denen der europäischen Revolution zu dienen, wir selbst in diesem Fall würden sagen müssen, dass wirkliche Unterstützung für uns nicht durch Teilaufstände kommen kann, noch weniger durch künstlich hervorgerufene, sondern nur durch den revolutionären Sieg des europäischen Proletariats. Den Interessen Russlands dienen daher nur solche Bewegungen, solche Aufstände, die sich aus der inneren Entwicklung des europäischen Proletariats ergeben. Dies schließt schon die Möglichkeit aus, dass Moskau irgendwelche abenteuerlichen „Befehle” erteilt. Aber Moskau hat überhaupt keinen „Moskowiter” Blickwinkel. Für uns stellt die russische Sowjetrepublik nur den Ausgangspunkt der europäischen und Weltrevolution dar. Die Interessen von letzterer sind für uns bei jeder größeren Frage entscheidend. Ich vertraue, dass dieser Dritte Kongress in dieser Frage keinen Raum für Zweifel gelassen hat.

Soweit man von Weitem beurteilen kann, ist die politische Vorbereitung für die Revolution in Frankreich bewundernswert und systematisch. In Ihrem Land nähert sich klar eine Epoche von Kerenskiismus; das Regime des Radikal-Sozialistischen Blocks ist die erste verwirrte Reaktion auf die Kriegsepoche. Der französische Kerenskiismus – der die Irritation und Verzweiflung des Kleinbürgertums mit dem Egoismus der Bauernschaft verbindet, die nicht für das vom Krieg zerbrochene Geschirr zahlen will, und mit dem Konservatismus der privilegierteren Arbeiter, die hoffen, die durch den Krieg geschaffene Stellung zu behalten usw. usf. – der französische Kerenskiismus wird eine sehr große Zerbrechlichkeit des Staatsapparats bedeuten. Zwischen die imperialistische Clique und ihren Kandidaten für die Rolle des Gallifet auf der einen Seite und die wachsenden proletarischen Revolution auf der anderen Seite wird vorübergehend als Puffer der ohnmächtige Block der Radikalen und Sozialisten geschoben – Caillaux, Longuet & Co. Dies wird ein ausgezeichnetes Vorspiel für die proletarische Revolution sein. Sollte der abtretende Nationale Block es schaffen, sein Gesetz gegen die Kommunisten durchzubringen, müsste man dem Schicksal für so ein Geschenk danken. Polizei- und Verwaltungsverfolgungen, Verhaftungen und Razzien werden sich als äußerst nützliche Schule für den französischen Kommunismus am Vorabend des Eintritt entscheidender Ereignisse erweisen. Durch die Spalten der Humanité verfolgen wir mit großem Interesse und Aufmerksamkeit, wie energisch Sie die Kampagne gegen das Briand-Barthou-Gesetz führen. Wenn Sie dies Unternehmen verhindern sollten, würde die Autorität der Partei sehr vergrößert. Sollte dieses Gesetz eingeführt werden, werden Sie gleichfalls dadurch gewinnen.

In dem Ausmaß, in dem die Humanité die Linie der führenden Parteikreise widerspiegelt, zeigt es klar, dass die Linie zunehmend radikal und entschlossen wird. Leider ist es schwierig, aus der Humanité zu urteilen, was die Stimmung unter den breitesten Arbeiterkreisen ist. So bringt die Humanité praktische keine Briefe von Arbeitern, keine Korrespondenzen aus den Fabriken und Werken, kein anderes Material, das direkt das tägliche Leben der Massen widerspiegelt. Es ist von äußerster Wichtigkeit für den französischen und Weltkommunismus gleichermaßen, ein klareres Bild davon zu bekommen, welche Kreise des Proletariats die Humanité lesen und was sie in der Zeitung lesen. Ein gut errichtetes Netzwerk von Arbeitermitarbeitern und Arbeiterkorrespondenten kann in einem gewissen Augenblick der Apparat des revolutionären Aufstands werden und wird den Massen die Parolen und Anweisungen ihrer Zeitung übermitteln und der spontanen Bewegung die Einheit geben, die ihr in der Vergangenheit während Revolutionen oft fehlte. Die revolutionäre Zeitung kann nicht freischwebend über den Massen hängen; sie muss viele Wurzeln in den Massen schlagen.

Die Frage der Beziehung der Partei zur Arbeiterklasse ist in erster Linie die Frage der Beziehung der Partei zu den Gewerkschaften. Soweit man von weitem beurteilen kann, ist dies heute die akuteste und beunruhigendste Frage in der französischen Arbeiterbewegung. Die Vie-Ouvrière-Gruppe stellt einen kostbaren Teil der französischen Arbeiterbewegung dar, und sei es nur, weil sie eine ziemlich beträchtliche Zahl von vertrauenswürdigen, ergebenen und erprobten Arbeitern zusammengebracht hat. Aber wenn diese Gruppe weiterhin – was sie meiner Meinung nach nicht tun wird – ihre Isolation und ihren abgeschlossenen Charakter beibehält, wird sie Gefahr laufen, sich in eine Sekte und in eine Bremse für die künftige Entwicklung der Gewerkschaften und der Partei zu verwandeln. Durch ihre gegenwärtige formlose Politik gegenüber den Gewerkschaften im Geist von Verdiers Artikel – hilft die Partei bei der Bewahrung der schwachen Seiten von La Vie Ouvrière, während sie die Entwicklung ihrer starken Seiten verlangsamt. Die Partei muss sich die Aufgabe stellen, die Gewerkschaften von innen zu erobern. Es geht nicht darum, entweder den Gewerkschaften ihre Autonomie zu rauben oder sie der Partei unterzuordnen (das ist Unsinn!); es geht darum, dass die Kommunisten innerhalb der Gewerkschaften die besten Gewerkschafter werden, das Vertrauen der Massen erobern und die entscheidende Rolle in den Gewerkschaften erlangen. Es ist selbstverständlich, dass die Kommunisten innerhalb der Gewerkschaften als disziplinierte Parteimitglieder handeln, die die grundlegende Parteianweisungen umsetzen. Um jeden Preis muss das Zentralkomitee der Partei in seinen Reihen mehrere Arbeiterkommunisten haben, die in der Gewerkschaftsbewegung eine prominente Rolle spielen. Es ist unverzichtbar, dass die Kommunisten, die in der Gewerkschaftsbewegung arbeiten, sich regelmäßig treffen und die Arbeitsmethoden unter der Führung von Mitgliedern des Zentralkomitees der Partei diskutieren.

Natürlich müssen wir die freundlichsten Beziehungen zu den parteilosen revolutionären Syndikalisten behalten, aber wir müssen gleichzeitig jetzt innerhalb der Gewerkschaften unsere eigenen Parteikerne schaffen, die später den gemischten Kernen mit den Anarchosyndikalisten beitreten können. Nur wenn die kommunistischen Zellen in den Gewerkschaften fest zusammengeschweißt und diszipliniert sind, werden wir in der Lage sein, in wachsender Zahl abgesprungene anarchosyndikalistische Elemente zu gewinnen, indem wir sie durch die Erfahrung überzeugen, wie unverzichtbar die Disziplin und die zentralisierte Einheit der Leitlinie, also die Partei, sind.

Wenn wir einfach unsere Meinungsverschiedenheiten mit den Syndikalisten und Anarchisten übertünchen, können diese Unterschiede später im entscheidenden Augenblick katastrophal hereinbrechen.

Ich bitte Sie, den Umstand, dass ich meine Ansichten über die Lage in Frankreich, mit der Sie so viel vertrauter sind als ich, so freimütig äußere, gnädig aufzunehmen. Ich werde dazu auf der einen Seite durch die frische Erfahrung der russischen Revolution und auf der anderen Seite durch mein tiefes Interesse an den Fragen der französischen Arbeiterbewegung gedrängt. Zusammen mit anderen Genossen teile ich die Enttäuschung, dass Sie nicht auf dem Kongress anwesend waren. Ist es nicht möglich, dass Sie beide zusammen oder jeder von Ihnen allein vor dem nächsten Kongress der französischen Partei nach Moskau kommen? Zweifellos würde sich ein Treffen von Ihnen mit den neuen Exekutivkomitee der Komintern als sehr wertvoll für beide Seiten erweisen und bei der Beseitigung der Möglichkeit aller Arten von Missverständnissen dienen und die organisatorischen und ideologischen Bande zwischen uns weiter stärken.

Ich drücke Ihre Hände und grüße Sie herzlich.

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