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Leo Trotzki 19190417 Eine kriechende Revolution

Leo Trotzki: Eine kriechende Revolution

[Eigene Übersetzung nach First five years of the Communist International, Band 1, New York 1945, S. 44-47]

Die deutsche Revolution hat klar Züge, die der russischen ähneln. Aber nicht weniger lehrreich sind ihre unähnlichen Züge. Anfang Oktober fand eine „Februar”revolution in Deutschland statt. Zwei Monate später ging das deutsche Proletariat schon durch seine „Julitage”, das heißt, es fand sein erster offener Zusammenstoß mit den bürgerlich-versöhnlerischen imperialistischen Kräften auf neuer „republikanischer” Grundlage statt. Die Julitage waren in Deutschland wie in unserem Land weder ein organisierter Aufstand noch eine spontan entstandene entscheidende Schlacht. Dies war die erste stürmische Demonstration, eine reine Demonstration des Klassenkampfes, die auf dem durch die Revolution eroberten Boden stattfand, und diese Demonstration wurde von Zusammenstößen zwischen den Vorhutabteilungen begleitet. In unserem Land diente die Erfahrung der Julitage dem Proletariat bei der weiteren Konzentration der Kräfte und der Vorbereitung auf den entscheidenden Kampf. In Deutschland folgte nach der Zerschlagung der ersten offenen Demonstration der Spartakisten und der Ermordung ihrer Führer keine Atempause, praktisch kein einziger Tag. Eine Folge von Streiks, Aufständen, offenen Kämpfen fand an verschiedenen Orten im ganzen Land statt. Kaum hatte es die Scheidemann-Regierung geschafft, die Ordnung in den Vororten von Berlin wieder herzustellen, als die von den Hohenzollern geerbte tapfere Garde nach Stuttgart oder Nürnberg, Essen, Dresden, München eilen musste, die nacheinander Schauplätze von blutigem Bürgerkrieg wurden. Jeder neue Sieg für Scheidemann ist nur der Ausgangspunkt für einen neuen Aufstand der Berliner Arbeiter. Die Revolution des deutschen Proletariats hat einen langgezogen und kriechenden Charakter bekommen und kann auf den ersten Blick Ängste erzeugen, dass die herrschenden Schurken es schaffen können, sie durch eine Reihe zahlloser Scharmützel Stück für Stück auszubluten. Gleichzeitig scheint automatisch die folgende Frage aufzukommen: Haben die Führer der Bewegung vielleicht schwere taktische Fehler begangen, die die ganze Bewegung mit Zerstörung bedrohen?

Um die deutsche proletarische Revolution zu verstehen, darf man sie nicht einfach in der Analogie zur russischen Oktoberrevolution sehen, sondern muss die inneren Bedingungen von Deutschlands eigener Entwicklung als Ausgangspunkt nehmen.

Die Geschichte ist so verlaufen, dass sich in der Epoche des imperialistischen Krieges die deutsche Sozialdemokratie – und das kann jetzt mit völliger Objektivität gesagt werden – als der konterrevolutionärste Faktor in der Weltgeschichte erwiesen hat. Die deutsche Sozialdemokratie ist jedoch kein Zufall; sie ist nicht vom Himmel gefallen, sondern durch die Anstrengungen der deutschen Arbeiterklasse im Verlauf von Jahrzehnten von ununterbrochenem Aufbau und Anpassung an die unter dem Kapitalisten- und Junkerstaat herrschenden Bedingungen geschaffen worden. Die Parteiorganisation und die mit ihr verbundenen Gewerkschaften zogen aus dem proletarischen Milieu die herausragendsten, energischsten Elemente, die dann psychologisch und politisch umgekrempelt wurden. In dem Augenblick, in dem der Krieg ausbrach, folglich der Moment des größten geschichtlichen Tests kam, zeigte es sich, dass die offizielle Arbeiterorganisation nicht als die proletarische Kampforganisation gegen den bürgerlichen Staat, sondern als ein Hilfsorgan des bürgerlichen Staats handelte und reagierte, das zur Disziplinierung des Proletariats diente. Die Arbeiterklasse war gelähmt, weil auf sie nicht nur das volle Gewicht des kapitalistischen Militarismus drückte, sondern auch der Apparat ihrer eigenen Partei. Die Härten des Krieges, seine Siege, seine Niederlagen brachen die Lähmung der deutschen Arbeiterklasse, befreiten sie von der Disziplin der offiziellen Partei. Letztere zersplitterte. Aber das deutsche Proletariat blieb ohne revolutionäre Kampforganisation. Die Geschichte zeigte der Welt erneut einen der dialektischen Widersprüche: gerade, weil die deutsche Arbeiterklasse in der vorangegangenen Epoche den Großteil ihrer Energie auf Organisationsaufbau als Selbstzweck verwendet hatte und mit dem Partei- und auch dem Gewerkschaftsapparat den ersten Platz in der Zweiten Internationale einnahm – gerade deswegen erwies sich in einer neuen Epoche, im Augenblick des Übergangs zum offenen revolutionären Kampf um die Macht die deutsche Arbeiterklasse organisatorisch äußerst wehrlos.

Die russische Arbeiterklasse, die die Oktoberrevolution vollbrachte, bekam von der vorherigen Epoche ein unbezahlbares Erbe in Gestalt einer zentralisierten revolutionären Partei. Die Wanderungen der Volkstümlerintellektuellen unter der Bauernschaft; der terroristische Kampf der Narodnaja Wolja; die Untergrundagitation der marxistischen Pioniere; die revolutionären Demonstrationen während der frühen Jahre dieses Jahrhunderts; der Oktobergeneralstreik und die Barrikaden von 1905; der revolutionäre „Parlamentarismus” der Stolypin-Epoche, der ganz eng mit der Untergrundbewegung verbunden war – all dies schuf einen großen Personenstab an revolutionären Führern, die im Kampf gehärtet und die durch Einheit des sozialrevolutionären Programms verbunden waren.

Die Geschichte gab der deutschen Arbeiterklasse nichts derart. Sie ist gezwungen, nicht nur um die Macht zu kämpfen, sondern mitten im Verlauf des Kampfes ihre Organisation zu schaffen und künftige Führer zu schulen. Es stimmt, dass unter den Bedingungen der revolutionären Epoche diese Schulungsarbeit in fieberhaftem Tempo abläuft, aber trotzdem braucht ihre Vollendung Zeit. Beim Fehlen einer zentralisierten revolutionären Partei mit einer Kampfführung, deren Autorität von den Arbeitermassen allgemein anerkannt wird; beim Fehlen eines führenden Kampfkerns und von Führern, die in den verschiedenen Zentren und Regionen der proletarischen Bewegung in der Aktion erprobt und durch die Erfahrung getestet sind, bekam diese Bewegung, nachdem sie auf den Straßen ausbrach, notwendig einen schubweisen, chaotischen, kriechenden Charakter. Diese ausbrechenden Streiks, Aufstände und Kämpfe stellen gegenwärtig die einzige verfügbare Form dar, um die Kräfte des deutschen Proletariats frei vom Joch der alten Partei offen zu mobilisieren; und gleichzeitig stellen sie unter den gegebenen Bedingungen das einzige Mittel dar, um die neuen Führer zu schulen und die neue Partei aufzubauen. Es ist ziemlich offensichtlich, dass so ein Weg ungeheure Anstrengungen erfordert und zahllose Opfer fordert. Aber es gibt keine Wahl. Es ist der einzige Weg, auf dem sich der Klassenaufstand des deutschen Proletariats bis zum endgültigen Sieg entfalten kann.

Nach dem Blutsonntag am 9. Januar 1905, als die Arbeiter von Petrograd und nach ihnen die Arbeiter im ganzen Land nach und nach die Notwendigkeit des Kampfes verstanden und gleichzeitig fühlten, wie verstreut ihre Kräfte waren, begannen sie im Land eine mächtige, aber äußerst chaotische Streikbewegung. Es gab damals Klugschwätzer, die Tränen vergossen, dass die russische Arbeiterklasse so viel Energie verausgabte, und ihre Erschöpfung und die Niederlage der Revolution deswegen vorhersagten. In Wirklichkeit waren aber die spontanen, kriechenden Streiks in den Frühlings- und Sommermonaten 1905 die einzige mögliche Form der revolutionären Mobilisierung und der organisatorischen Schulung. Diese Streiks bereiteten den Boden für den großen Oktoberstreik und den Aufbau der ersten Sowjets.

Es gibt eine gewisse Analogie zwischen dem, was jetzt in Deutschland stattfindet, und der Periode der ersten russischen Revolution, die ich gerade angesprochen habe. Aber die deutsche revolutionäre Bewegung entwickelt sich natürlich auf unvergleichlich höheren und mächtigeren Grundlagen. Die alte offizielle Partei hat zwar einen völligen Bankrott erlitten und sich in ein Werkzeug der Reaktion verwandelt, aber das bedeutet nicht, dass die von ihr in der vorangegangenen Periode geleistete Arbeit spurlos verschwunden wäre. Das politische und kulturelle Niveau der deutschen Arbeiter, ihre organisatorischen Fertigkeiten und Fähigkeiten sind sehr groß. Zehn- und Hunderttausende Arbeiterführer, die in der vergangenen Epoche von den politischen und Gewerkschaftsorganisationen aufgesogen worden sind und scheinbar von ihnen verdaut wurden, haben in Wirklichkeit nur bis zu einem gewissen Punkt die Gewalt ertragen, die ihrem revolutionären Gewissen angetan wurde. Heute wachen im Verlauf der offenen Teilkämpfe durch die Härten dieser revolutionären Mobilisierung, in der harten Erfahrung dieser kriechenden Revolution Zehntausende vorübergehend blind gemachte, getäuschte und eingeschüchterte Arbeiterführer auf und wachsen zu ihrer vollen Größe heran. Die Arbeiterklasse sucht sie aus, so wie sie selbst ihre Plätze im neuen Kampf des Proletariats finden. Wenn die geschichtliche Bestimmung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei von Kautsky und Haase ist, Schwankung in die Reihen der Regierungspartei zu tragen und den erschreckten, verzweifelten und angewiderten Elementen Zuflucht zu gewähren, dann wird auf der anderen Seite die stürmische Bewegung, in der unsere spaktakistischen Waffenbrüder so eine heroische Rolle spielen als eine ihrer Wirkungen dazu führen, dass die unabhängige Partei ständig von links zerstört wird und ihre besten und opferbereitesten Elemente in die kommunistische Bewegung gezogen werden.

Die Schwierigkeiten, die teilweisen Niederlagen und die großen Opfer des deutschen Proletariats sollten uns keinen Augenblick entmutigen. Die Geschichte lässt das Proletariat nicht zwischen verschiedenen Wegen wählen. Die hartnäckige, unermüdlich ausbrechende und wieder ausbrechende kriechende Revolution nähert sich klar dem kritischen Augenblick, in dem die Revolution, nachdem sie im Voraus alle ihre Kräfte für den Kampf mobilisiert und geschult hat, dem Klassenfeind den endgültigen Todesstoß versetzen wird.

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