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Leo Trotzki 19191120 Französischer Sozialismus am Vorabend der Revolution

Leo Trotzki: Französischer Sozialismus am Vorabend der Revolution

[eigene Übersetzung nach First five years of the Communist International, Band 1, New York 1945, S. 64-75]

Die innere Lage ist voll der tiefsten Widersprüche. Diese Widersprüche scheinen manchmal sogar etwas rätselhaft. Wir erhalten viel zu selten Nachrichten, um in der Lage zu sein, alle Zickzacks von Frankreichs innerer Entwicklung auszumachen. In den letzten Wochen brachte uns das Radio Fluten von Streiks, Demonstrationen, Gärung, Fluten der steigenden revolutionären Brandung. Gleichzeitig informieren uns die jüngsten Radiogramme, dass die imperialistische Reaktion bei den Parlamentswahlen einen vollen Sieg eingefahren hat. Auf den ersten Blick: Was für ein krasser Widerspruch! Und doch wird dieser Widerspruch am besten durch die Theorie des Kommunismus (Marxismus) erklärt und bestätigt am schlagendsten die Richtigkeit dieser Theorie.

Der Parlamentarismus ist ein Werkzeug bürgerlicher Herrschaft. Je weiter wir uns in die Epoche der proletarischen Revolution bewegen, desto hinfälliger wird der Parlamentarismus. In dem selben Ausmaß, in dem die französische Arbeiterbewegung die Form der ersten Etappen des Bürgerkriegs annimmt, werden die Mittel und Werkzeuge des Parlamentarismus immer mehr offen das Erbteil kapitalistischer Cliquen, ihr Apparat zur Klassen-Selbstverteidigung.

Der Sieg der Clemenceau-Reaktion bei den Wahlen ist keine Widerlegung der Nähe der proletarischen Revolution in Frankreich, sondern im Gegenteil ihre klarste Bestätigung. Gleichzeitig sind diese einander ergänzenden Widersprüche – der Anstieg der Reaktion im Parlament und der Anstieg des Aufstands auf den Straßen – ein unbestreitbarer Beweis, dass in Frankreich, dem sogenannten Land der „demokratischen Republik” die Herrschaft des Proletariats im Leben nicht durch den Mechanismus der bürgerlichen Demokratie verwirklicht werden wird, sondern in der Form der offenen Klassendiktatur, je rücksichtsloser, je wahnsinniger der Widerstand der imperialistischen Bourgeoisie wird.

In welchem Ausmaß ist der revolutionäre Frankreich* politisch und organisatorisch auf die proletarische Diktatur vorbereitet?

Es ist notwendig, damit zu beginnen, die ungeheuren Schwierigkeiten anzuerkennen, die in diesem Zusammenhang überwunden werden müssen. Frankreich war traditionell das Land der sozialistischen und anarchistischen Sekten, die ihren Kampf untereinander auf dem Boden der Arbeiterbewegung führte. Die Einheit der sozialistischen Partei wurde nach dem grausamsten brudermörderischen Kampf nur ein paar Jahre vor dem imperialistischen Krieg erreicht. Sowohl der rechte als auch der linke Flügel priesen die Einheit gleichermaßen. Inzwischen enthüllte es sich in der Erfahrung des Krieges, dass die französische Partei ebenso wie die französischen Syndikate (Gewerkschaften) völlig von Versöhnlertum, Chauvinismus und allen anderen reaktionären Vorurteilen zersetzt waren, die es auf dieser Welt gibt.

Das französische Proletariat hat eine ruhmreiche revolutionäre Vergangenheit. Natur und Geschichte haben ihm ein prächtiges revolutionäres Temperament gegeben. Aber gleichzeitig hat es zu viele Niederlagen, Desillusionierungen, Treulosigkeiten und Verrat erlebt. Vor dem Krieg war die Einheit der sozialistischen Partei und der syndikalistischen Gewerkschaftsorganisation seine letzte große Hoffnung.

Das Platzen dieser Hoffnung hatte eine schädliche Wirkung auf das Bewusstsein der fortgeschrittenen Arbeiter und die proletarische Bewegung Frankreichs wurde in eine langgezogene Lähmung gestoßen. Und heute, wo neue und noch politisch unerfahrene Massen gegen die Stützen der bürgerlichen Gesellschaft drücken, zeigt sich mit voller Kraft, dass die alten Organisationen und die objektiven Aufgaben der Bewegung nicht zusammenpassen. Daraus ergibt sich nicht nur die Wahrscheinlichkeit, sondern auch die Unausweichlichkeit, dass sich mächtige Massenbewegungen entwickeln, bevor die neue Organisation bereit ist, sie zu führen.

Ziemlich offensichtlich ist die Dringlichkeit der Schaffung von organisatorischen Schutzwällen in allen Gebieten – organisatorischen Unterstützungspunkten mit der notwendigen Unabhängigkeit, die nicht der Disziplin der alten politischen oder gewerkschaftlichen Organisationen unterworfen sind und die fähig sind, schnell ihren Platz an der Spitze der Bewegung einzunehmen. Unsere französischen Genossen sind genau damit vollauf beschäftigt. Wenn sich zu Beginn die revolutionären Gruppen als zu schwach erweisen, um der Bewegung wirkliche Führung zu geben, dann werden sie in einem folgenden Stadium nach der ersten revolutionären Umwälzung schnell an Kräften zulegen, im Verlauf des Kampfes selbst stärker werden und sich festigen.

So weit man von Weitem beurteilen kann, stellt diese doppelte Aufgabe – den Aufbau einer Organisation praktisch von Neuem und gleichzeitig die Übernahme der Führung der sich schnell entfaltenden Massenbewegung – gegenwärtig die Hauptschwierigkeit bei der Durchführung der revolutionären Arbeit in Frankreich dar.

Streiks” sagt der mutige revolutionäre Syndikalist Monatte, „flammen auf allen Seiten auf”. Aber der innere Bankrott „erlaubt es der Allgemeinen Konföderation der Arbeit (CGT) nicht, sie zu führen.” Ein neuer Apparat ist notwendig. Es ist aber unmöglich, die Bewegung zu vertagen, bis die notwendige Führungsorganisation geschaffen ist. Auf der anderen Seite können diese spontanen Streiks, die tendenziell in entscheidende revolutionäre Ereignisse verwandelt werden, nicht zum Sieg führen ohne eine wirkliche revolutionäre Organisation – eine, die die Arbeiter nicht belügt, sie nicht täuscht, nichts vor ihnen verbirgt und ihnen keinen Sand in die Augen streut, sie nicht im Foyer des Parlamentarismus oder wirtschaftlichen Versöhnlertums betrügt, sondern sie unerschütterlich bis zum Ende führt. So eine Organisation muss noch geschaffen werden.

Wohin gehen wir? Von Unzufriedenheit zu mehr Unzufriedenheit, von Streik zu Streik, von halb wirtschaftlichen halb politischen Streiks zu rein politischen Streiks. Wir gehen direkt in Richtung Sturz der Bourgeoisie, das heißt zur Revolution. Die unzufriedenen Massen machen große Schritte auf diesem Weg.”

So schreibt La Vie Ouvrière, die Zeitung von Monatte und Rosmer.

Die revolutionären Vertreter des französischen Proletariats zusammen mit dem zentralen kommunistischen Kern (sowohl sozialistischer als auch syndikalistischer Herkunft), die zwar zahlenmäßig wenig sind, aber ein klares und bewusstes Wissen über die Ziele der Bewegung haben, haben als ihr Ziel, alle diese neuen Führer fest zu integrieren, die während Streiks, Demonstrationen und allgemein allen anderen Äußerungen der wirklichen Massenbewegung nach vorne kommen. Die Aufgabe besteht darin, ohne Furcht vor Schwierigkeiten jetzt die Führung dieser spontanen Bewegung zu übernehmen und auf diesem Boden die eigene Organisation als Apparat des direkten Aufstands des Proletariats zu festigen.

Das setzt wiederum einen völligen Bruch mit der Disziplin jener Organisationen voraus, die ihrem Wesen nach, das heißt in Bezug auf die Grundaufgaben der Bewegung, konterrevolutionär sind und die durch die Parteien von Renaudel-Longuet und die Gewerkschaften von Jouhaux-Merrheim vertreten werden.

Die Reaktion der arbeitenden Massen am 21. Juli war zwar sehr mager, als ein Streik aus Protest gegen die Entente-Intervention in die russischen Angelegenheiten ausgerufen wurde, die Schuld daran liegt aber nicht an den Arbeitern. In den letzten Jahren wurden die Arbeiter im Allgemeinen und die französischen Arbeiter im Besonderen fleißiger, mit teuflischerem Erfindungsreichtum und mit tragischeren Folgen getäuscht als jemals zuvor in der Geschichte. Die Mehrheit dieser Führer, die auswendig gelernte Phrasen nutzte, um die Arbeiter zum Kampf gegen den Kapitalismus aufzurufen, zogen im Herbst 1914 offen die Uniform des Imperialismus an. Die offiziellen gewerkschaftlichen und Parteiorganisationen, von denen die fortgeschrittenen Arbeiter gewohnt waren, sie mit der Idee der Befreiung zu verbinden, wurden Werkzeuge des Kapitalismus. Das schuf nicht nur unglaubliche organisatorische Schwierigkeiten für die Arbeiterklasse, sondern wurde die Quelle einer tiefgreifenden ideologischen Katastrophe. Die Schwierigkeiten, sich von ihr zu erholen, entsprechen dem Ausmaß der großen Rolle, die die alten Organisationen im Leben der fortgeschrittenen proletarischen Schichten spielten.

Die Arbeiterklasse strebt jetzt heroisch danach, nach dem Fall wieder auf die Füße zu kommen, die Wirkungen des Schlages abzuschütteln. Daher der beispiellose Zustrom zu den Syndikaten. Gleichzeitig hat die ideologisch entwaffnete und politisch verwirrte Arbeiterklasse Schwierigkeiten, eine neue Orientierung für sich festzulegen. Und diese Arbeit wird nicht erleichtert sondern äußerst erschwert dadurch, dass die revolutionären Führer zu lange in einer Übergangsposition bleiben, wenn sie vor den Massen nicht mit der notwendigen Unabhängigkeit und Entschlossenheit erscheinen, sondern in den alten Partei- und Gewerkschaftsorganisationen untergehen.

Was auch immer das Motiv sein mag, die Einheit der alten Organisationen zu bewahren, es muss den revolutionären Massen unverständlich bleiben, warum die, die sie zur Revolution aufrufen, weiterhin am selben Tisch mit Leuten bleiben, die sie getäuscht haben, und besonders den Leuten, die sie während des Krieges so schamlos und schändlich verraten haben. Der revolutionären Masse ist ihre eigene Einheit im Kampf teuer, aber es ist zweifelhaft, ob sie leicht die Einheit der revolutionären Kämpfer mit der Clique von Jouhaux-Merrheim und Renaudel-Longuet verstehen wird.

Unter den Bedingungen der gegenwärtigen Epoche entspringt die Parole der Bewahrung der Einheit aus der Psychologie der offiziellen Organisationen: Führer, Vorsitzende, Sekretäre, Parlamentarier, Herausgeber und allgemein Apparatfunktionäre der alten gewerkschaftlichen und parlamentarischen Arbeiterdemokratie, die den Boden unter ihren Füßen rutschen fühlen. Aber das Proletariat hat heute die Wahl, entweder völlig zu zerfallen, atomisiert zu werden und privilegierte Gefolgsleute des siegreichen Imperialismus an die Spitze zu bringen, oder seine Reihen zu schließen und sich gegen den Kapitalismus zu erheben. Die Arbeiterklasse braucht ihre Einheit des revolutionären Kampfes, die Einheit des Klassenaufstands, während die Einheit der überlebten Organisationen immer mehr eine Hürde auf dem Weg zur Einheit des proletarischen revolutionären Aufstands wird. Die Massen, die durch den Krieg aus dem Gleichgewicht geworfen wurden, brauchen heute mehr als jemals vorher Klarheit in den Ideen, Genauigkeit in den Parolen, einen Weg, der gerade ist und Führer, die nicht schwanken. Aber die Taktik, die auf der Bewahrung der Einheit der alten Organisationen beruht, bietet eine Karikatur des Parlamentarismus innerhalb der Arbeiterorganisationen unter der alten Verwaltung – als ob sie „Kabinette” mit einer Opposition wären, mit festgelegten Geschäftsordnungen, offiziellen Untersuchungen, Vertrauensabstimmungen und so weiter und so fort. Durch das Knüpfen von Verbindungen zu den Versöhnlern durch eine einheitliche Organisation setzt sich die Kommunistische Opposition in grundlegenden Fragen in Abhängigkeit vom Willen der Versöhnlermehrheit und vergeudet ihre Energie bei der Anpassung an den gewerkschaftlichen und Partei„parlamentarismus”. Kleine Fragen und Zwischenfälle des inneren organisatorischen Kampfes erlangen so eine unverhältnismäßige Bedeutung auf Kosten der Grundfragen der revolutionären Massenbewegung.

Karikierter „Parlamentarismus” innerhalb der Arbeiterorganisationen führt zu weiteren Folgen. Sekretäre und Vorsitzende, sozialistische Minister, Journalisten und Abgeordnete erheben Vorwürfe gegen die Opposition, beschuldigen sie, ihre bequemen Stühle und Pöstchen haben zu wollen. Die Opposition entschuldigt sich und unterzeichnet nicht selten Erklärungen der „Hochachtung" für die führenden Figuren der Gegenseite, wobei sie sorgfältig unterstreicht, dass die Opposition einen Kampf gegen „Prinzipien” und nicht gegen „Personen” führt. Das führt wiederum dazu, dass die Versöhnler sich auf den Posten, auf denen sie sitzen, verschanzen.

La Vie Ouvrière” vom 24. September erklärt, dass die Vertrauensabstimmung auf dem Metallarbeiterkongress nicht die Politik des Versöhnler-Apparats stützen sollte, sondern das persönliche Vertrauen und die persönliche Sympathie für die Sekretäre. Mit anderen Worten war es eine Abstimmung aus Mittelschicht-Sentimentalität und nicht aus mutiger Klassenpolitik. Genosse Carron zeigt in seinem Artikel überzeugend, dass die, die so abstimmten und besonders die Masse, die sie unterstützt, im Geiste völlig auf der Seite der Anhänger der Dritten Internationale sind. Wenn sie trotzdem der Führung das Vertrauen aussprachen, war es nur, weil ihre Köpfe durch falsche Argumente eingelullt sind, wonach man gegen Ideen und nicht gegen Personen kämpfen muss. Schließlich bestätigten sie durch ihre Stimmabgabe für Merrheim jemand auf einem verantwortlichen Posten, der ihnen die Ideen von Opportunismus, Versöhnlertum und Unterordnung unter den Kapitalismus andreht.

Auf der Konferenz der Post- und Telegraphenarbeiter wurde die versöhnlerische Politik des Apparats mit 197 gegen 23 Stimmen bei 7 Enthaltungen bestätigt. Ein Mitglied des Apparats, der Internationalist Victor Roux, schreibt, dass eine große Zahl von Kongressdelegierten einfach persönliche Sympathie gegenüber dem Gewerkschaftssekretär empfindet, dem Versöhnler Borderes, dessen moralischer Wert angeblich unzweifelhaft sei. „Ich persönlich stimme zu”, sagt der Autor, „dass er der Organisation in schwierigen Zeiten große Dienste geleistet hat…” Und so weiter und so fort. (La Vie Ouvrière, 15. September 1919)

Jouhaux, Renaudel, Longuet, Merrheim und ihresgleichen betragen sich heute als integraler Teil des bürgerlichen Systems und sind in Wirklichkeit ihre wichtigste Stütze, egal was für „Dienste” sie in der Vergangenheit geleistet haben mögen. Das ganze Wesen ihrer Tätigkeit macht es zu ihrem Interesse, vor dem Proletariat jedes und alle Zugeständnisse der Bourgeoisie zu übertreiben, denn diese sind schließlich die Früchte ihrer Klassendiplomatie. Sie kritisieren zwar den Kapitalismus, schminken ihn aber, und nach all ihren rednerischen Übungen läuft alles auf die Notwendigkeit hinaus, sich an die Herrschaft des Kapitalismus anzupassen, das heißt sich ihr zu unterwerfen.

Das Hauptverbrechen der Spitzen des herrschenden Syndikalismus wird von Alfred Rosmer zu Recht darin gesehen, dass die syndikalistischen Führer „die direkte Aktion der Arbeiterklasse durch das Bitten um Regierungsvergünstigungen ersetzt haben.” Diese konterrevolutionäre Taktik aber kann nicht durch „Bitten” an die Sozialimperialisten der Gewerkschafts- und politischen Bewegung geändert werden. Während Jouhaux, Renaudel, Merrheim und Longuet fleißig die Kapitalisten und bürgerlichen Abgeordneten überzeugen, dass es notwendig ist, Zugeständnisse an die Arbeiterklasse zu machen, können die wirklichen Vertreter des Proletariats ihre Zeit nicht damit vergeuden, dass sie Renaudel und Longuet von der Notwendigkeit von revolutionärem Kampf überzeugen. Um sich die Kapitalisten und bürgerlichen Abgeordneten vom Buckel zu werfen, muss die Arbeiterklasse die Renaudels und die Longuets aus ihrer Organisationen hinauswerfen.

Der Kampf gegen sie muss nicht als Familienkonflikt oder akademische Diskussion geführt werden, sondern auf eine Weise, die dem schwerwiegenden Charakter der Frage entspricht, so dass der Abgrund, der uns von den Sozialimperialisten trennt, vor dem Bewusstsein der Massen in all seiner Grundsätzlichkeit deutlich wird.

Unsere Aufgabe besteht darin, die abstoßende Lehre des imperialistischen Krieges voll und ganz zu nutzen. Wir müssen die Erfahrungen der letzten Periode ins Bewusstsein der Massen einimpfen und sie verstehen lassen, dass es für sie unmöglich ist, weiterhin im Rahmen des Kapitalismus zu bestehen. Wir müssen dem erwachenden Hass der Massen gegenüber dem Kapitalismus, gegenüber den Kapitalisten, gegenüber dem kapitalistischen Staat und seinen Organen den höchsten revolutionären Grad verleihen. Wir müssen in den Augen der Massen nicht nur die Kapitalisten verhasst machen, sondern auch all jene, die den Kapitalismus verteidigen, die seine Pestbeulen verbergen wollen, die seine Verbrechen vertuschen wollen.

Nach der erfolglosen Demonstration vom 21. Juni schrieb Monatte:

Die Massen werden von nun an wissen, dass es nicht länger möglich ist, zu schwanken und sich mit falschen Hoffnungen zu täuschen; und dass es notwendig ist, das Gewerkschaftspersonal schonungslos zu säubern.” (La Vie Ouvrière, 25. Juni 1919)

In der Politik bedeutet der Kampf gegen falsche Prinzipien unvermeidlich einen Kampf gegen die Individuen, die diese Prinzipien verkörpern. Die Gewerkschaftsbewegung zu erneuern bedeutet, alle aus ihren Reihen zu vertreiben, die sich durch Betrug und Verrat entehrt haben, alle die den Glauben der Arbeiterklasse an revolutionäre Parolen, das heißt den Glauben an ihre eigene Stärke, untergraben haben. Nachsicht, Sentimentalität und Weichheit bei Fragen dieser Art müssen mit Blutzinsen vom Proletariat bezahlt werden. Die erwachenden Massen fordern, dass Dinge laut gesagt werden, dass Dinge bei ihrem richtigen Namen genannt werden, dass es keine unbestimmten Halbtöne, sondern klare und genaue Abgrenzungen in der Politik gibt, dass die Verräter boykottiert und gejagt werden, dass ihre Plätze von Revolutionären, die mit Leib und Seele der Sache ergeben sind, eingenommen werden.

Genossin Louisa Saumoneau** zeichnet das folgende Bild des Kampfes während der jüngsten Wahlen, um den Einfluss der Ideen der Dritten Internationale zu verbreiten:

Propaganda, die unter den Massen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Organisationen gemacht werden muss, kann immer am leichtesten von uns auf öffentlichen Versammlungen bei Wahlen gemacht werden … Der Widerstand gegen die revolutionäre Internationale bekommt seine Hauptunterstützung unter dem alten Kader, der unser Parteischiff während dem Krieg so schlecht gesteuert hat. Unsere jungen und glühenden Genossen, die voll von revolutionärem Eifer sind, müssen sich und ihre Willenskraft nutzen, um gewisse praktische Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erlangen, die für eine gut funktionierende Organisation unverzichtbar sind. Dieses Wissen erlangt man sehr leicht und doch dient es unter den gegenwärtigen Bedingungen des Kampfes allen Arten von Nullen als Deckmantel und dient dem schädlichen Einfluss der ausgedörrten lebenden Leichen in unserer Organisation. Die Kräfte der Jugend müssen überall die revolutionäre Klasse anregen, die sich erhoben hat, um für die Sache der Dritten Internationale zu kämpfen; sie müssen überall sich verankern und müssen all jene ersetzen, die durch vier Jahre Zurückweisung der sozialistischen Lebensweise belastet sind, auch wenn es notwendig ist, sie erst einmal kopfüber hinaus zu werfen…

Diese Worte zeigen ziemlich klar ein völliges Verständnis für die Notwendigkeit, beim Kampf gegen die reaktionären Ideen alle jene kopfüber hinaus zu werfen, die Stagnation und Tod in der revolutionären Bewegung verkörpern.

Die bankrotten „Führer” des Sozialismus und Syndikalismus, die Revolutionäre der Phrase von gestern, die gehorsamen Kapitulanten von heute, geben die Schuld für ihre Abtrünnigkeit nicht sich selbst sondern – dem Proletariat.

Auf dem Parteitag von Lyon gab Bidégarrey, der Sekretär der Eisenbahnergewerkschaft den arbeitenden Massen die Schuld an allem, was passiert war. „Sicher, die Gewerkschaften sind zahlenmäßig gewachsen. Aber unter den Organisierten gibt es viel zu wenig Syndikalisten [d.h. bewusste Revolutionäre]. Leute sorgen sich nur um ihre eigenen unmittelbaren Interessen.”

In jedem Menschen”, philosophiert Bidégarrey, „steckt ein Schwein.”

Rouger, Delegierter aus Limoges, gibt ähnlich dem Proletariat die Schuld an allem. Das Proletariat ist schuld. „Die Massen sind nicht genügend aufgeklärt. Sie treten den Gewerkschaften nur bei, um höhere Löhne zu kriegen.”

Merrheim, Sekretär der Metallarbeitergewerkschaft prahlt auf der Rednertribüne mit seinem „ruhigen Gewissen”. Seht, er ging nach Zimmerwald mit einem überzähligen Ticket. Es war sozusagen eine kleine pazifistische Pilgerfahrt, die für die Absolution des eigenen Gewissens unternommen wurde. Er, Merrheim, kämpfte. Aber er konnte die Massen nicht aufwecken. „Nein, nicht ich habe die Arbeiterklasse verraten, sondern die Arbeiterklasse hat mich verraten.” Das hat er wörtlich gesagt!

Der Syndikalist Dumoulin, ein „ehrlicher” Abtrünniger vom Typ Merrheim – zu Beginn des Krieges Zimmerwaldist, aber heute ein würdiger Waffengefährte des Generalsekretär Jouhaux – erklärte auf der Konferenz der Lehrergewerkschaft von Tours, dass Frankreich noch nicht bereit zur Revolution sei, die Massen wären noch nicht „herangereift”. Damit nicht zufrieden, fiel Dumoulin über die internationalistischen Lehrer her und warf ihnen … die Rückständigkeit des Proletariats vor – als ob die Ausbildung der arbeitenden Massen ihre Quelle in der kläglichen bürgerlichen Schule für Arbeiterkinder hätte und nicht in der mächtigen Schule des Lebens unter dem Einfluss der patrons (der Arbeitgeber), der Regierung, der Kirche, der bürgerlichen Presse, des Parlamentarismus und der „schlechten Schäfer” des Syndikalismus.

Die Abtrünnigen, die Feiglinge und Skeptiker, die völlige Degeneration erreicht haben, wiederholen endlos die Phrase: „Die Massen sind nicht herangereift.” Welche Schlussfolgerung folgt daraus? Nur eine: dem Sozialismus abzuschwören und obendrein nicht vorübergehend, sondern völlig abzuschwören. Denn wenn die Massen, die durch die lange Vorbereitungsschule des politischen und gewerkschaftlichen Kampfs gegangen sind und dann durch die vierjährige Schule des Gemetzels gegangen sind, nicht für die Revolution herangereift sind, wann und wie werden sie dann je heranreifen?

Glauben Merrheim und die anderen vielleicht, dass der siegreiche Clemenceau in den Mauern des kapitalistischen Staates ein Netzwerk von Akademien für die sozialistische Schulung der Massen schaffen wird? Wenn der Kapitalismus von einer Generation zur nächsten die Ketten der Lohnsklaverei reproduziert, dann trägt das Proletariat in seinen tiefsten Schichten die Dunkelheit und Unwissenheit von Generation zu Generation weiter. Wenn die proletarischen Massen unter dem Kapitalismus eine hohe intellektuelle und geistige Entwicklung erreichen könnten, dann wäre der Kapitalismus gar nicht so schlecht und man bräuchte keine soziale Revolution. Das Proletariat muss gerade eine Revolution haben, weil der Kapitalismus es in intellektueller und geistiger Knechtschaft hält. Unter der Führung der fortgeschrittenen Schicht werden die unreifen Massen durch die Revolution die Reife erlangen. Ohne die Revolution werden sie in Abgestumpftheit versinken und die Gesellschaft als Ganzes wird verfallen.

Millionen neuer Arbeiter strömen in die Gewerkschaften. In England hat die große Flutwelle die Gewerkschaftsmitgliedschaft verdoppelt, die gegenwärtig die Zahl von 5.200.000 erreicht hat. In Frankreich ist die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder von 400.000 am Vorabend des Krieges auf 2.000.000 gestiegen. Welche Änderungen bedeutet dieses zahlenmäßige Wachstum der Organisation für die Politik des Syndikalismus?

Die Arbeiter treten den Gewerkschaften einzig wegen unmittelbarer materieller Vorteile bei”, antworten die Versöhnler. Diese Theorie ist von vorne bis hinten falsch. Der große Zustrom der Arbeiter in die Gewerkschaften wird nicht durch kleine Tagesfragen verursacht, sondern durch die kolossale Tatsache des Weltkriegs. Die Arbeitermassen, nicht nur die Oberschichten, sondern auch die tiefsten Tiefen sind durch die größte geschichtliche Umwälzung aufgeschreckt und alarmiert. Jeder einzelne Proletarier hat in einem nie erreichten Grad seine Hilflosigkeit angesichts der mächtigen imperialistischen Maschine erlebt. Der Drang, Verbindungen zu schaffen, der Drang zur Einigung und Festigung der Kräfte, drückte sich mit beispielloser Macht aus. Daher entströmt der Zustrom von Millionen Arbeiter in die Gewerkschaften oder in die Sowjets, das heißt in solche Organisationen, die keine politische Vorbereitung verlangen, sondern den allgemeinsten und direktesten Ausdruck des Klassenkampfes darstellen.

Weil die Reformisten vom Schlage Merrheim-Jouhaux des Glauben in die proletarischen Massen verloren haben, müssen sie Unterstützungspunkte unter den „aufgeklärten” und „humanitären” Vertretern der Bourgeoisie suchen. Und tatsächlich findet die politische Bedeutungslosigkeit dieser Leute seinen vernichtendsten Ausdruck in ihrer Haltung des ergebenen Entzückens vor dem „großen Demokraten” Woodrow Wilson. Leute die sich als Vertreter der Arbeiterklasse betrachten, haben sich fähig erwiesen, ernsthaft zu glauben, dass der amerikanischen Kapitalismus einen Mann an die Spitze es Staates stellen könne, mit dem die europäische Arbeiterklasse Hand in Hand marschieren könne. Diese Herren haben anscheinend nicht von den wirklichen Gründen Amerikas gehört, im Krieg zu intervenieren, genauso wenig von der Rolle Wilsons, dem die Superkapitalisten der Vereinigten Staaten, das Aufstellen von Parolen des philisterhaften Pazifismus anvertraut haben, um ihre blutigen Übergriffe zu verdecken. Oder war es vielleicht ihre Annahme, dass Wilson den Kapitalisten die kalte Schulter zeigen und sein Programm gegen den Willen der Milliardäre im Leben verwirklichen könne? Oder dachten sie vielleicht, dass Wilson mit seinen priesterlichen Mahnsprüchen Clemenceau und Lloyd George zwingen könne, sich eifrig um die Befreiung der kleinen und schwachen Völker und die Schaffung von allgemeinem Frieden zu kümmern?

Vor nicht so langer Zeit, das heißt nach der ernüchternden Schule der Versailler „Friedens”verhandlungen, machten Merrheim einen Angriff auf der Konferenz in Lyon gegen den Syndikalisten Lepetit, der es sich erlaubte – oh Schrecken über Schrecken! – unehrerbietig von Mr. Wilson zu reden. „Niemand hat der Recht”, verkündete Merrheim, „Wilson auf einer syndikalistischen Konferenz zu beleidigen.” Was kostet die Ruhe von Merrheims Gewissen? Wenn seine Kriecherei nicht mit amerikanischen Dollars bezahlt wird – und wir gestehen bereitwillig zu, dass das nicht der Fall ist – bleibt es trotzdem die selbe niedrige Kriecherei eines bescheidenen Lakaien vor dem „Demokraten”, der durch die Gnade des Dollars mächtig gemacht wurde. Man muss in der Tat das letzte Stadium des geistigen Niedergangs erreicht haben, um in der Lage zu sein, die Hoffnungen der Arbeiterklasse an dem „rechtschaffenen Mann” der Bourgeoisie festzumachen. „Führer”, die zu so einer Politik fähig sind, können mit dem revolutionären Proletariat nichts gemein haben. Sie müssen gnadenlos rausgeschmissen werden. „Leute, die all dies begangen haben”, sagte Monatte auf der Lyoner Konferenz der Syndikalisten, „sind unwürdig, die Interpreten der Ideen der französischen Arbeiterbewegung zu bleiben.”

Die französischen Parlamentswahlen werden eine scharfe Abgrenzungslinie in der politischen Entwicklung Frankreichs darstellen. Diese Wahlen bedeuten, dass die politischen Zwischengruppen weggefegt wurden. Durch das Parlament hat die Bourgeoisie die Macht der Finanzoligarchie ausgehändigt und letztere hat den Generälen die Eroberung des Landes für sie anvertraut. Nachdem sie ihre blutige Arbeit getan haben, nutzten die Generäle in Zusammenarbeit mit den Börsenhändlern den Parlamentsapparat, um alle Ausbeuter und Blutsauger zu mobilisieren, alle die nach Beute gelüsten und gieren, alle die durch das revolutionäre Erwachen der Massen erschreckt wurden.

Das Parlament wird der politische Generalstab der Konterrevolution. Die Revolution kommt auf die Straßen und sucht ihren eigenen außerparlamentarischen Generalstab zu schaffen.

Die Beseitigung der mittleren Zwischengruppe (der Radikalen und Radikalsozialisten) im Lande führt unausweichlich genau zum selben in der Arbeiterbewegung. Longuet und Merrheim stützten sich auf ihre Hoffnungen auf die „aufgeklärten” reformistischen Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft. Der Bankrott von letzteren verurteilt die Longuet-Merrheim-Tendenz zum Tode, den mit dem Verschwinden eines Gegenstandes verschwindet sein Schatten auch.

Die zahllosen Schattierungen von Renaudel zu Loriot, von Jouhaux zu Monatte, werden im kürzesten Zeitraum verschwinden. Zwei grundlegende Gruppen werden bleiben: Clemenceau und seine Anhänger auf der einen Seite; die revolutionären Kommunisten auf der anderen.

Man kann nicht einmal davon reden, die Einheit, auch nur die formale, in den Partei- und syndikalistischen Organisationen länger zu bewahren.

Die proletarische Revolution muss und wird ihren eigenen zentralen politischen Stab aus den vereinigten Sozialisten und Syndikalisten der revolutionären kommunistischen Tendenz schaffen.

Kautsky, der durch die russischen und deutschen Revolutionen entmutigt war und völlig den Boden unter den Füßen verlor, setzte alle seine Hoffnungen auf Frankreich und England, wo Humanismus, ausgestattet mit den Gewand der Demokratie, siegen müsse.

In Wirklichkeit sehen wir, dass in diesen Ländern in den Gipfeln der bürgerlichen Gesellschaft die Macht von der Reaktion der unglaublichsten Art erobert wird, Reaktion, die im Koller des Chauvinismus taumelt, mit gebleckten Reißzähnen und blutunterlaufenen Augen. Und das Proletariat erhebt sich, ihr zu begegnen, bereit rücksichtslos für alle seine vergangenen Niederlagen, Demütigungen und Folterungen Rache zu nehmen. Der Kampf wird nicht um einen Groschen, sondern um Leben und Tod gehen. Die Arbeiterklasse wird siegen, Die proletarische Diktatur wird den Abfallhaufen der bürgerlichen Demokratie wegfegen und den Weg für das kommunistische Gesellschaftssystem bereiten.

* Für alle folgenden Hinweise benutze ich das gerade erhaltene Paket mit Ausgaben der revolutionär-syndikalistischen Wochenzeitung La Vie Ouvrière, Juni bis September 1919. Diese Zeitung wird von unserer französischen Freunden Monatte und Rosmer herausgegeben, die in dieser Epoche des größten Zerfalls und Verrats unter den selbsternannten „Führern” keinen Augenblick ihr Banner eingerollt haben. – L.T.

** Genossin Saumoneau macht eine unermüdliche Agitation für die Ideen der Dritten Internationale; zusammen mit dem Genossen Loriot steht sie an der Spitze der Kommunisten, die der Sozialistischen Partei und nicht dem Syndikalismus entstammen. Es gibt enge Verbindungen zwischen Kommunisten-Syndikalisten und Kommunisten-Sozialisten. Loriot und Saumoneau arbeiten bei der Wochenzeitung La Vie Ouvrière zusammen. – L.T.

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