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Leo Trotzki 19200723 Rede zu Genosse Sinowjews Bericht über die Rolle der Partei

Leo Trotzki: Rede zu Genosse Sinowjews Bericht über die Rolle der Partei

[2. Sitzung, 23. Juli 1920, Protokoll des II. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale. Hamburg 1921, S. 91-95]

TROTZKI. Genossen! Es kann ja ziemlich merkwürdig erscheinen, dass Dreiviertel-Jahrhundert nach dem Erscheinen des Kommunistischen Manifestes auf einem internationalen kommunistischen Kongress die Frage aufgeworfen wird, ob Partei oder ob keine Partei. Genosse Levi hat gerade diese Seite der Debatten betont mit der Bemerkung, für die große Masse der westeuropäischen und amerikanischen Arbeiter sei diese Frage schon längst entschieden, und er glaubt, es diene nicht zur Klärung des Standpunkts der Kommunistischen Internationale, dass diese Frage überhaupt diskutiert wird. Nun glaube ich, dass der marxistische Großmut, mit dem Genosse Levi sagt, die große Masse der Arbeiter wisse ganz gut, dass die Bildung einer politischen Partei notwendig sei, von den geschichtlichen Ereignissen ziemlich scharf widerlegt worden ist. Selbstverständlich, wenn wir hier den Herrn Scheidemann vor uns gehabt hätten oder Kautsky oder ihre englischen Gesinnungsgenossen, so brauchten wir diese Herren nicht darüber zu belehren, dass die Arbeiterklasse eine Partei haben muss. Sie haben für die Arbeiterklasse eine Partei gebildet, und diese Partei haben sie in die Dienste der bürgerlichen Klasse, der kapitalistischen Gesellschaft gestellt. Wenn wir aber an die proletarische Partei denken, so sehen wir, wie sie jetzt in verschiedenen Ländern in ihrer Entwicklung verschiedene Phasen durchmacht. In Deutschland, in diesem klassischen Lande der alten Sozialdemokratie sehen wir, wie die kolossale, auf hohem Kulturniveau stehende Arbeiterklasse ununterbrochen vorwärts dringt und dabei große Bruchstücke der alten Hülle mit sich schleppt. Wir sehen andererseits, dass gerade die Parteien, die im Namen der großen Mehrheit der Arbeiterklasse gesprochen haben, die Parteien der II. Internationale, die die Stimmungen eines Teils der Arbeiterklasse ausgelöst haben, uns hier zwingen, die Frage aufzuwerfen, ob Partei oder keine Partei. Weil ich weiß, dass eine Partei notwendig ist, und weil ich den Wert der Partei ganz gut kenne, und weil ich einerseits Scheidemann und anderseits einen amerikanischen, einen spanischen, einen französischen Syndikalisten habe, der nicht nur das Bürgertum zu bekämpfen gewillt ist, wie es auch Scheidemann gewillt war, sondern auch wirklich ihm den Kopf abreißen will, so sage ich: Ich ziehe vor, mit diesem spanischen, amerikanischen, französischen Kameraden mich auseinanderzusetzen, um ihm für seine geschichtliche Mission — die Vernichtung des Bürgertums — die Notwendigkeit der Partei zu beweisen. Ich werde ihn kameradschaftlich belehren, mich dabei auf meine Erfahrung stützen, ihm aber nicht die große Erfahrung von Scheidemann gegenüberstellen und sagen: für die Mehrheit ist diese Frage schon gelöst. Genossen, in den alten Ländern des Parlamentarismus und der Demokratie sehen wir einen ziemlich großen Einfluss der antiparlamentarischen Tendenzen, wie in Frankreich, England usw. In Frankreich habe ich bei Ausbruch des Krieges beobachtet, dass die erste tapfere Stimme gegen den Krieg — und zwar zur Zeit, da die Deutschen vor Paris standen — von einer kleinen Gruppe französischer Syndikalisten erhoben wurde, von meinen Freunden Monatte, Rosmer u. a. Zu jener Zeit haben wir die Frage der Bildung einer kommunistischen Partei nicht aufwerfen können. Die Elemente waren zu geringzählig. Aber ich fühlte mich mit den Genossen Monatte, Rosmer und den anderen, die eine anarchistische Vergangenheit hatten, als Kamerad unter Kameraden. Was habe ich aber mit einem Renaudel zu tun, der die Notwendigkeit der Partei sehr gut begreift, oder mit Albert Thomas und anderen Herren, deren Namen ich nicht nennen will, um nicht gegen die Regeln des guten Tones zu verstoßen?

Genossen, die französischen Syndikalisten arbeiten revolutionär in den Syndikaten, und wenn ich jetzt z. B. mit dem Genossen Rosmer spreche, so finden wir gemeinsamen Boden. Die französischen Syndikalisten haben im Gegensatz zu den Traditionen der Demokratie, ihren Lügen und Illusionen, gesagt: Wir wollen keine Partei, wir wollen proletarische Syndikate und innerhalb derselben die revolutionäre Minderheit avec l‘action directe, mit der Massenaktion. Was diese Minderheit für die französischen Syndikalisten bedeutet, darüber waren sie sich selbst nicht ganz klar. Es war die Vorahnung der weiteren Entwicklung, die trotz der Vorurteile und Illusionen dieselben Syndikalisten nicht hinderte, eine revolutionäre Rolle in Frankreich zu spielen, die jene kleine Minderheit herausgebildet hat, die zu uns auf den internationalen Kongress gekommen ist.

Was ist für unsere Freunde die Minderheit? Das ist der beste Teil der französischen Arbeiterklasse, die ein klares Programm und eine Organisation hat, in der sie diese Fragen diskutiert und nicht nur diskutiert, sondern zur Entscheidung bringt, eine Organisation, die eine gewisse Disziplin hat. Der französische Syndikalismus hat durch die Erfahrung des Zusammenstoßes der Arbeiterklasse mit der Bourgeoisie, durch die Erfahrung im eigenen wie in fremden Ländern dazu gedrängt, eine kommunistische Partei zu bilden. Genosse Pestaña sagt: Ich will diese Frage nicht berühren, ich bin Syndikalist, ich will von Politik nicht reden, ich will noch weniger von der Partei reden. Das ist höchst interessant. Er wollte nicht von der kommunistischen Partei sprechen, um nicht die Revolution zu verletzen, das heißt, dass die Kritik der kommunistischen Partei, ihre Notwendigkeit, ihm im Rahmen der russischen Revolution als eine Beleidigung der Revolution erscheint. Und dem ist auch so; denn die Partei hat sich hier im Lauf der Entwicklung mit der Revolution identifiziert. In Ungarn war dasselbe der Fall.

Genosse Pestaña, ein einflussreicher spanischer Syndikalist, ist zu uns gekommen, weil es hier Genossen gibt, die mehr oder weniger auf syndikalistischem Boden stehen. Es gibt hier Genossen, die sozusagen Parlamentarier sind, es gibt hier Genossen, die weder Parlamentarier noch Syndikalisten, aber für die Massenaktion sind usw. Also was bieten wir ihm? Wir bieten ihm die Internationale Kommunistische Partei, d. h. die Vereinigung der vorgeschrittensten Elemente der Arbeiterklasse, die ihre Erfahrung hierher bringen, sie miteinander austauschen, einander kritisieren, Entscheidungen treffen usw. Wenn Genosse Pestaña mit diesen Entscheidungen nach Spanien zurückkehrt, so werden seine Genossen ihn fragen: Was hast du von Moskau mitgebracht? Dann wird er ihnen die Leitsätze vorlegen und vorschlagen, entweder für oder gegen diese Resolution zu stimmen, und die spanischen Syndikalisten, die sich auf Grund dieser Leitsätze vereinigen werden, werden die Kommunistische Partei Spaniens sein.

Heute haben wir von der polnischen Regierung den Vorschlag bekommen, Frieden zu schließen. Wer entscheidet diese Frage? Wir haben den Rat der Volkskommissare, aber es muss ja auch einer gewissen Kontrolle unterstehen. Wessen Kontrolle? Der Arbeiterklasse als einer formlosen chaotischen Masse? Nein. Da haben wir die Zentrale der Partei zusammenberufen, um den Vorschlag zu erörtern und zu entscheiden, ob man ihn beantworten soll. Und wenn wir Krieg führen, neue Divisionen bilden, die besten Elemente dafür suchen müssen, wohin wenden wir uns? An die Partei, an das Zentralkomitee, und das gibt Anweisung an jedes Lokalkomitee, Kommunisten an die Front zu senden. Dasselbe gilt auch für die Agrarfrage, die Ernährungsfrage und alle anderen Fragen. Wer wird in Spanien diese Fragen lösen? Das wird die Kommunistische Partei Spaniens tun, und ich bin sicher, dass Genosse Pestaña einer der Gründer dieser Partei sein wird.

Nun fragt uns Genosse Serrati, dem man natürlich die Notwendigkeit einer Partei nicht zu beweisen braucht — er ist ja selbst Führer einer großen Partei — in ironischer Form, was wir eigentlich unter den mittleren Bauern, unter den Halbproletariern verstehen, und wenn wir ihnen Zugeständnisse machen, ob das Opportunismus sei. Nun, Genossen, was heißt Opportunismus? Die Arbeiterklasse, vertreten und geführt von der kommunistischen Partei, ist bei uns an der Macht. Wir haben aber nicht nur die fortgeschrittene Arbeiterklasse, wir haben auch zurückgebliebene und parteilose Elemente, die einen Teil des Jahres im Dorfe arbeiten und einen Teil des Jahres in der Fabrik; es gibt Bauern verschiedenartiger Schichten. Das alles ist nicht von unserer Partei geschaffen, das haben wir ererbt von der feudalen und kapitalistischen Vergangenheit. Die Arbeiterklasse ist an der Macht und sagt: das kann ich nicht von heute auf morgen ändern. Hier muss ich an die Barbarei der Verhältnisse Zugeständnisse machen. Opportunismus heißt, wenn man die werktätige Klasse vertritt und an die herrschende Klasse Zugeständnisse macht. Kautsky wirft uns vor, unsere Partei mache die größten Zugeständnisse an die Bauern. Die Arbeiterklasse muss, selbst am Ruder, die Entwicklung eines großen Teils der Bauernschaft von der feudalen Denkweise zum Kommunismus beschleunigen und muss gewisse Zugeständnisse an die rückständigen Elemente machen. Auf diese Weise, glaube ich, dass die Frage, die Genosse Serrati als Frage für sich gestellt hat, nicht zu den Fragen gehört, die die Rolle der kommunistischen Partei in Russland beeinträchtigen kann. Aber wenn das auch so wäre, wenn hier einen oder zwei oder drei Fehler gemacht hätten, so bedeutete das nur, dass wir in einem sehr komplizierten Milieu manövrieren müssen. Wir hatten die Macht in der Hand; da traten wir vor dem deutschen Imperialismus in Brest-Litowsk, dann vor dem englischen Imperialismus zurück. Hier manövrieren wir zwischen den verschiedenen Schichten der Bauernschaft; die einen ziehen wir an uns, die anderen stoßen wir ab, die dritten unterdrücken wir mit gepanzerter Faust. Das ist das Manövrieren einer revolutionären Klasse, die an der Macht ist, die Fehler machen kann; aber diese Fehler gehören zum Inventar einer Partei, welche die akkumulierte Erfahrung der Arbeiterklasse darstellt. So fassen wir unsere Partei, unsere Internationale auf.

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