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Leo Trotzki 19211200 Rede zum Bericht des Genossen Sinowjew über die Taktik der Komintern

Leo Trotzki: Rede zum Bericht des Genossen Sinowjew über die Taktik der Komintern auf der Allrussischen Konferenz 1921

[Eigene Übersetzung nach The first five years of the Communist International, Band 2, London 1974, S. 59-67]

Genossen, laut den heutigen Zeitungen wurde uns praktisch nach vier Jahren Existenz unseres Staates die offizielle Anerkennung gegeben. Eine Konferenz wird im Frühling stattfinden, an der wir, die Sowjetrepublik, teilnehmen werden. Dies ist fraglos eine Tatsache von äußerster Bedeutung. Trotzdem glaube ich, dass die ganze europäische Lage und der Zustand der Weltarbeiterbewegung (und das hängt direkt mit dem Bericht des Genossen Sinowjew zusammen) so sind, dass sie uns zu der Schlussfolgerung führen, dass der Weg zu unserer Anerkennung keineswegs glatt und leicht sein wird.

Die bestehende politische Lage, die ihren Einfluss sowohl auf die Arbeiterklasse als auch auf die verschiedenen Regierungen ausübt, und die wirtschaftliche Lage in Europa und auf der ganzen Welt, ist äußerst komplex. Auf der einen Seite haben wir eine tiefgreifende Wirtschaftskrise, die gerade abzuebben beginnt; auf der anderen Seite haben wir die Zunahme von politischem Selbstvertrauen unter der Bourgeoisie und ihre jeweiligen Regierungen.

Auf der einen Seite bestehen immer noch größte Wirtschaftsschwierigkeiten, das Handels- und Industrieleben bleibt im Griff einer beispiellosen Krise; aber auf der anderen Seite gibt es die schon vom reorganisierten Staatsapparat eroberten Stellungen und das daraus sich ergebende Vertrauen unter der Bourgeoisie, dass sie ihre kritischsten Augenblicke schon überwunden haben. Wenn die Bourgeoisie Englands und die Bourgeoisie Frankreichs, verkörpert durch ihre herrschenden Kreise, jetzt die Lage unserer Anerkennung vom Standpunkt der Handelsbilanz, vom Standpunkt der Handels- und Industrievorteile betrachten, dann findet sich die Erklärung dafür in den oben erwähnten zwei Ursachen. Die Bourgeoisie ist in einer schwierigen Wirtschaftslage. Sie sucht nach einem Ausweg, der Russland aus dem Kreis der Weltwirtschaft ausschließen würde, aber sie fühlt sich politisch selbstsicher und hält es für machbar, mit so einem mächtigen Gebilde wie Sowjetrussland zu manövrieren. Dies ist die Grundbedingung, die die ganze Nachkriegslage in Europa und auf der ganzen Welt bestimmt. Die Wirtschaftskrise verausgabt sich jetzt. Sowohl in Europa als auch auf der ganzen Welt gibt es unmissverständliche, klare und gewichtige Symptome einer wirtschaftlichen Erholung. Und dies ist von äußerster Wichtigkeit für das Verständnis der Lage insgesamt und die unmittelbar bevorstehenden Perspektiven.

Jene Genossen, die am letzten Weltkongress teilnahmen und den ideologischen Kampf verfolgten, sind sich bewusst, dass diese Fragen auf dem Weltkongress diskutiert wurden, besonders in den Kommissionssitzungen. Diese Fragen wurden vom Standpunkt des Schicksals der Arbeiterbewegung in der bevorstehenden Periode diskutiert. Es gab eher unbestimmte Gruppen, deren Meinung war, dass die Handels- und Industriekrise – und sie war äußerst akut – durch die wir am Vorabend des letzten Kongresses gingen, die Endkrise der kapitalistischen Gesellschaft darstellten, und dass sich diese Endkrise der kapitalistischen Gesellschaft sich unvermeidlich bis zur Errichtung der Diktatur des Proletariats verringern würde. Diese Vorstellung der Revolution ist völlig unmarxistisch, unwissenschaftlich, mechanistisch. Manche argumentieren folgendermaßen: Weil wir in einer revolutionären Epoche leben, und weil sich die Krise unvermeidlich bis zum endgültigen Sieg des Proletariats verschärfen muss, folgt daraus, dass unsere Partei auf der internationalen Bühne angreifen muss, und die schweren proletarischen Reserven, auf die die sich verschärfende Krise ein prügelt, werden früher oder später unsere Partei beim letzten proletarischen Ansturm unterstützen. Auf dem Weltkongress kämpfte unsere Delegation gegen diese Argumentationslinie und wies darauf hin, dass solche Vorstellungen weder richtig noch wissenschaftlich waren.

Es gibt kein Gleichgewicht zwischen Europa und Amerika. Europa bleibt zerstückelt, die Verwüstung von Mittel- und Osteuropa ist immer noch nicht repariert und die Blockade Russlands bleibt immer noch bestehen. Die Spannungen in internationalen Angelegenheiten, der Mangel an Vertrauen, die abgewerteten Währungen, die riesigen Schulden und das Finanzchaos – dies sind die Tatsachen und Faktoren, die der Krieg hinterlassen hat. Und die elementaren Kräfte des Kapitalismus versuchen, all dies zu überwinden. Kann dies geschehen? Oder ist es unmöglich?

Abstrakt gesprochen könnte man sagen, dass wenn diese elementaren Kräfte weiter tätig sein dürften, während das Proletariat passiv bleibt und die Kommunistische Partei eine Organisation bleibt, die einen Fehler nach dem anderen macht, dann würde dies zu einer Lage führen, in der das blinde Wechselspiel der Wirtschaftskräfte langfristig eine Art neues kapitalistisches Gleichgewicht auf den Knochen Millionen europäischer Proletarier und durch die Verheerung einer ganzen Reihe europäischer Länder wiederherstellen würde, indem es sich die Passivität der Arbeiterklasse und die Fehler der Kommunistischen Partei zunutze machte. In zwei oder drei Jahrzehnten könnte ein neues kapitalistisches Gleichgewicht geschaffen werden, aber dies würde gleichzeitig die Auslöschung einer ganzen Generation, den Niedergang der europäischen Kultur und so weiter bedeuten. Dies ist eine ganz abstrakte Herangehensweise, die die wichtigsten und grundlegendsten Faktoren außen vor lässt, nämlich die Arbeiterklasse unter der Führung und Leitung der Kommunistischen Partei.

Wir gehen von dem Postulat aus, dass Seite an Seite mit der Wirtschaft, die die Grundlage für die bewussten Manöver des bürgerlichen Staates bildet, ein anderer Faktor besteht, der gleichfalls auf dem Wirtschaftsleben beruht, der letzteres berücksichtigt, all seine Bruchpunkte und Zickzacks berücksichtigt; und der auch die Manöver des bürgerlichen Staats berücksichtigt und sie in die Sprache der revolutionären Taktik übersetzt. Das Postulat einer automatischen Offensivbewegung, das manche Genossen in der Überzeugung zu fördern versuchten, dass die gegenwärtige Handels- und Industriekrise bis zum völligen Sieg des Proletariats weitergehen müsse, widerspricht völlig der Wirtschaftstheorie von Marx. In der Ära des kapitalistischen Aufstiegs und auch in der Epoche der kapitalistischen Stagnation und auch in der Epoche des kapitalistischen Niedergangs und Zerfalls findet die Krise in Zyklen statt: erst kommt der Boom, dann eine Depression, der ein weiterer Boom und eine weitere Depression folgt, zwischen denen es Übergangsstadien gibt. Weiter bezeugt die historische Beobachtung der letzten 150 Jahre, dass diese Zyklen im Durchschnitt einen Zeitraum von neun Jahren umspannen. Diese Schwankungen haben eine eigene tiefgreifende innere Gesetzmäßigkeit und man kann zuversichtlich sagen, dass wenn nicht eine erfolgreiche Revolution 1920-21 in Europa stattfindet, dann muss im Verlauf von 1920 oder 1921 oder 1922 die gegenwärtige akute Krise unvermeidlich den ersten Symptomen und Anzeichen und dann offensichtlichen Erscheinungen eines Handels- und Industriebooms Platz machen. Auf die Frage bezüglich des Charakters dieses Booms, seines Ausmaßes und seiner Tiefe können wir als Antwort eine Analogie mit dem Atmen eines menschlichen Organismus verwenden: Ein Mensch atmet bis zu seinem Tod, aber ein junger, ein erwachsener und ein sterbender Mensch atmen jeweils auf verschiedene Weise und man kann die Gesundheit des Körpers nach dem Atmen beurteilen. Aber trotzdem atmet ein Mensch, bis er tot ist. Ähnlich ist es mit dem Kapitalismus. Die Schwankungen dieser Wellen, ihre Aufs und Abs sind unausweichlich, so lange der Kapitalismus vom siegreichen Proletariat noch nicht ausgepustet ist. Aber es ist möglich, aus den pendelnden Wellen von Boom und Krise zu urteilen, ob der Kapitalismus aufsteigend, stagnierend oder niedergehend ist. Heute können wir positiv sagen, dass die Krise, die im Frühjahr 1920 ausbrach, den Gipfel ihrer Akutheit im Mai 1921 erreichte, nachdem sie mit verschiedenen Schwankungen im Durchschnitt 15 bis 16 oder 17 bis 18 Monate gedauert hatte, jetzt die Arbeit der Krise vollbracht hat, das heißt, dass sie die überschüssigen Waren und überschüssigen Produktivkräfte beseitigt hat und dadurch dem Kapitalismus gewissen zusätzlichen Platz für Wachstum geschaffen hat. Es gibt die Anfänge einer Wiederbelebung, die dadurch ausgedrückt wird, dass die Preise zu steigen beginnen, während die Arbeitslosigkeit zu fallen begonnen hat. Die, die Interesse haben, diese Frage weiter zu verfolgen, sollten Pawlowskis Artikel in der letzten Ausgabe der Kommunistischen Internationale lesen. Es gibt auch eine Artikelserie von Smith in Ekonomitscheskaja Schisn, ganz zu schweigen von den Artikeln in den speziellen Wirtschaftszeitschriften. Heute ist es überflüssig, zu debattieren, ob sich die Krise weiter vertieft oder nicht.

Wenn wir die steigende Welle, die jetzt in der Arbeiterbewegung beobachtbar ist, einschätzen müssen, dann müssen wir berücksichtigen, dass sie sehr eng mit der beginnenden Handels- und Industriebelebung verbunden ist. Diese Handels- und Industriebelebung und ihr Ausmaß wird natürlich von den Bedingungen des Kapitalismus insgesamt abhängen. Nachdem die Handels- und Industriekrise die erste Linie der „Schützengräben” überwunden und eingeebnet hat – die ungeheuerlichen Preise – sollten die gelähmten und ruinierten Produktivkräfte in diesem oder jenem Ausmaß die Möglichkeit bekommen haben, sich vorwärts zu entwickeln (wir sind jetzt Zeugen davon). Morgen oder übermorgen, nächstes oder übernächstes Jahr (es ist schwer, Daten zu erraten), werden die Produktivkräfte an die Verheerung Osteuropas stoßen, an den beängstigenden Zustand Westeuropas, an das Währungssystem, das weit von der Erholung entfernt ist.

Der Boom wird nicht so kolossal sein wie das Wachstum, das wir vor 1914 gewohnt waren. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird das Wachstum ziemlich blutarm sein, im Zickzack: nicht nur aufwärts, sondern auch abwärts. Das ist unbestreitbar. Aber trotzdem stellt dieser Boom eine neue Phase, eine neue Periode in der Entwicklung des Wirtschaftslebens und der Politik der Arbeiterbewegung auf der Grundlage des Booms dar. Woher kommt dieser Boom. Lassen Sie mich kurz seine Chronologie geben.

1914 war eine Krise am Ausbrechen. Der imperialistische Krieg kam statt dessen. Er unterbrach die Kurve der Wirtschaftsentwicklung und es gab ein wahnwitziges Kriegswachstum auf der Grundlage, dass Schulden aufhäuft, die Wirtschaft desorganisiert, der Wohnungsmangel und der Mangel an Bauinvestitionen verschärft, alle Grundlagen desorganisiert, viel Geld ausgegeben wurde und so weiter. Der Krieg kam zu einem Ende. Es war das Jahr 1918. Demobilisierung. Dies war der kritischste Augenblick. Die Arbeiter und Bauern verließen die Armee, um zu ihren zerbrochen Töpfen heimzukehren. Kriegsaufträge wurden storniert. Die Krise vertiefte sich. Wäre die Kommunistische Partei in jener Periode halb so stark gewesen, wie sie heute in Deutschland oder Frankreich ist, hätte das Proletariat die Macht in seine Hände nehmen können. 1919 (wir können das ganz gewiss sagen) gab es keine solche kommunistische Partei. Die Regierungen profitierten von ihrem Fehlen und setzten aus Angst vor der Demobilisierung die Kriegswirtschaftspolitik im Jahr 1919 fort. Die Ausgabe von Papiergeld ging weiter, alte Kriegsaufträge wurden ausgedehnt oder durch neue ersetzt, nur um die Krise abzuwenden. Und das ganze Jahr 1919 ging unter dem Zeichen der Milliarden und Abermilliarden, die an riesigen Subventionen vom bürgerlichen Staat gewährt wurden, natürlich auf Kosten gerade der Volksmassen. Dies war eine Art Moratorium – Bewahrung durch künstliche und fiktive Mittel. Der Kapitalismus machte politische Zugeständnisse und führte den Achtstundentag ein. Eine spontane Welle von Offensiven der Arbeiter rollte ohne die Führung der Kommunistischen Partei ab, die es damals praktisch nicht gab.

1919 kam die Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen: die Krise brach aus. Die Bourgeoisie und ihr Staat rechneten mit der Krise, aber es ging über ihre Kräfte, die Gesetze der kapitalistischen Mechanik zu ändern. Die ersten revolutionären Bewegungen erlitten Niederlagen wegen dem Mangel an Erfahrung und dem Fehlen Kommunistischer Parteien. Dem folgte der Ausbruch innerer Kämpfe, Spaltungen und Desillusionierungen unter breiten Arbeiterkreisen, die eine aus den Büchern gelernte und viel einfachere Vorstellung von der Lage 1918 hatten. Die Bourgeoisie griff an, Lohnsätze wurden verringert – dies waren die Zeichen der Zeit. Der Mangel an Vertrauen war allgemein, Streiks wurden zerschlagen, die Arbeitslosenarmee wurde ungeheuer groß.

Unter diesen Bedingungen musste die Krise reformistische Illusionen an dem einen Pol und anarchistische Illusionen an dem anderen Pol erzeugen. Dadurch begann die Kommunistische Partei, sich eine Weile von den Massen isoliert zu fühlen. Und in dem Ausmaß, in dem die Kommunistische Partei den kritischen Augenblick der Beendigung des Krieges verpasste; in dem Ausmaß, in dem die Bourgeoisie die kritische Periode überleben konnte; in dem Ausmaß, in dem die Krise später die Massen peitschte, die schon ihre ersten politischen Desillusionierungen erlitten hatten, in diesem Ausmaß konnte nur die Lockerung der Krakenarme der Krise einen neuen und ernsthaften Anstoß für die revolutionäre Energie der Arbeitermassen liefern. Und das passiert jetzt.

Die Krise hatte natürlich nicht ein Zehntel der notwendigen Größe, um der Bourgeoisie zu ermöglichen, ein Hundertstel ihrer Widersprüche und Schwierigkeiten zu überwinden; aber es reicht, um der Arbeiterklasse erneut das Gefühl zu geben, dass sie die Trägerin der Produktion ist, dass alles von ihr abhängt, dass die Bourgeoisie und der Kapitalismus immer abhängiger von ihr werden.

Und am wichtigsten ist, dass diesmal die Arbeiterklasse schon eine Leitung in der Kommunistischen Partei besitzt, die erfahren ist im Kampf und in Fehlern – und die Erfahrung in Fehlern ist die wertvollste Erfahrung – und erfahren in Erfolgen, die daraus entstehen, dass man aus Fehlern Lehren zieht. So ist die Lage, vor der wir heute stehen.

Wir können mit völliger Sicherheit sagen, dass die Phase der inneren Differenzierung in den Arbeitermassen, die Anfang 1920 akut wurde und sich gegen Ende 1920 scharf ausprägte – Differenzierung innerhalb von Verstreuung, eine Phase der Isolierung für die Kommunisten, ihrer Verwandlung in eine ausgesprochene Minderheit, die gelegentlich so handelte, als wäre sie die Mehrheit (wir sahen in Deutschland Beispiele davon) – diese Phase, als Ganze und in Teilen, liegt hinter uns. Und dies ist die völlig richtige Basis für die Taktik, die wir der Kommunistischen Internationale vorschlugen und die Genosse Sinowjew hier verteidigte.

Es ist schwer zu sagen, Genossen, wie lange diese wirtschaftliche Belebung dauern wird, oder welche Form sie annehmen wird. Am wahrscheinlichsten wird die Form blutarm sein. Diese Aufs und Abs werden an Krämpfe erinnern und aus diesem Grund revolutionäre Impulse garantieren. Angesichts der Führung der Kommunistischen Partei kann man positiv sagen, dass die ansteigende Welle der revolutionären Bewegung, diese Flut, alle Gruppen innerhalb der Arbeiterklasse heben wird, das heißt, sie wird die Opportunisten, die Zentristen und die Kommunisten gleichermaßen hochbringen. Die Erfordernisse dieser Flut zwingen und verpflichten uns, praktische Vereinbarungen zu suchen. Aber gleichzeitig, gerade weil sie jeden hebt, beginnt die Flut, die Arbeitermassen zur Aktion zu treiben und wird alle Gruppen dem Test der Aktion unterziehen.

Alles, was bisher Gegenstand theoretischer Polemik, von Diskussionen unter politischen Minderheitsparteien war, wird jetzt ein Test der Methoden durch die Mehrheit. Wir werden auf dem Wellenkamm dieses Aufschwungs bis zum Ende reiten, während andere in dieser Flut untergehen werden. Und genau all diese Umstände bestimmen völlig die internationale Lage.

Die Bourgeoisie ist sehr selbstsicher, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind sehr groß; der industrielle Boom eröffnet gleichermaßen Aussichten für die Bourgeoisie, ihre Spitzenkreise werden natürlich den goldenen Rahm des Booms abschöpfen (sie haben den Apparat in der Hand). Gestützt durch die Erfahrung der Internationale, ihrer führenden Parteien und Elemente untersuchen und formulieren wir die Symptome dieses Booms, aber die Bourgeoisie ist überhaupt nicht in der Lage, seine volle geschichtliche Bedeutung zu erfassen. Das Selbstvertrauen der Bourgeoisie ist sehr groß. Und so kommt die Bourgeoisie an diesem Wendepunkt in Washington zusammen und fängt an, darüber zu reden, uns zu einer neuen Konferenz nächstes Frühjahr einzuladen. Das Selbstvertrauen der Bourgeoisie, die Hungersnot in unserem Land, unsere verteufelt schwierige Wirtschaftslage – all dies zeigt an, dass die Bourgeoisie sich vorstellt, dass die Verhandlungen mit uns viel leichter und einfacher sein werden, als sie sich tatsächlich erweisen werden.

Amerika ist am weitsichtigsten. Es hat ein Abkommen mit Japan getroffen. Die Erlaubnis an Japan, uns auszuplündern, ist wunderschön abgestimmt mit philanthropischen Aktivitäten in unseren Hungersnotgebieten. Ersteres ist eine perfekte Ergänzung zu letzterem. Dort – im Fernen Osten – wird ein größeres Manöver durchgeführt.

Es gibt andere Manöver im Westen, die viel näher zu Hause sind. Die Vorbereitung eines karelischen Exerzierfeldes für künftige karelische Ereignisse haben größere Ausmaße, als gewöhnlich bei uns geglaubt wird. Entlang unserer Westgrenzen gibt es bewaffnete Banden (auf dem Sowjetkongress werde ich eine Karte haben, die die Stellung dieser Banden zeigt) und es gab eine wachsende Konzentration polnischer Truppen. All dies bedeutet, dass es auf der einen Seite einen Flügel der europäischen Bourgeoisie gibt – die Polen, die, unter anderem, am nächsten an uns dran sind und uns um jeden Preis bekämpfen wollen. Auf der anderen Seite gibt es innerhalb der Bourgeoisie manche, vielleicht sogar in ihren höheren Kreisen, die eine etwas einfachere Vorstellung davon haben, worum es bei unserer Anerkennung und einer Vereinbarung mit uns geht. Sie denken etwa so: „Nun, rufen wir Krassin oder Tschitscherin her. Wir werden etwas zu den 20.000.000 Dollar dazutun (dem vorgeschlagenen Kredit); und dann der Komintern vorschlagen, dass sie eine innere Säuberung durchführen soll. Sie soll uns ein paar politische Garantien geben. Wir werden diesem Teufel Kommunismus ordentlich die Krallen beschneiden und wir werden eine bequeme Fahrt haben.”

Es gibt wenig Zweifel, dass Lloyd George und eine Reihe anderer solche Bilder im Kopf haben. Wenn Verhandlungen über unsere Anerkennung jemals anfangen, wird es eine ziemlich große Zahl von Zickzacks gebe, die an Zuckungen und Krämpfe erinnern. Sowohl Lloyd George als auch Briand als auch viele andere werden im Verlauf solcher Verhandlungen Mittel bekommen, um Druck auf uns auszuüben. Sie haben Polen, sie haben Rumänien, sie haben Finnland. Die Lage ist sehr schwer. Und die historische Perspektive – international und für Russland gleichermaßen – ist eine ansteigende Kurve, aber es wird keine gleichmäßig ansteigende Kurve sein, sondern vielmehr eine mit vielen Aufs und Abs und der nächste Wendepunkt kann genau im nächsten Frühling sein.

Nehmen wir aber an, dass die Verhandlungen begonnen werden; in jenem Fall sind wir natürlich verpflichtet, alles mögliche zu tun, um eine Vereinbarung zu erreichen. Ich unterstreiche dies auf der einen Seite als Mitglied der Kommunistischen Partei und auch als Mensch, der am direktesten mit gewissen Aspekten dieser Gefahr verbunden ist. Aber die unbestreitbare Tatsache bleibt, dass je näher wir auf der internationalen Bühne dem Erlangen der Anerkennung, der Zulassung zur bürgerlichen Welt kommen, desto näher wird der Moment kommen, wo die bürgerliche Welt versuchen wird, unsere Unterwerfung in Verhandlungen durch ergänzende Schläge und Tritte und durch direkte Militäraktionen zu erlangen. Von diesem Standpunkt aus sind die Schritte im Fernen Osten und an unseren nahegelegenen westlichen Grenzen zutiefst symptomatisch. Aus diesem Grund denke ich, dass wir die ganze internationale Lage berücksichtigen und aus ganzen Herzen die Resolution der Kommunistischen Internationale unterstützen sollen, die völlig richtig ist und mit der ganzen Lage übereinstimmt, aber gleichzeitig sagen sollten:

Das europäische und das Weltproletariat wird die Einheitsfront der revolutionären Arbeitermassen ausrichten, indem es sich auf den beginnenden Wirtschaftsaufschwung stützt, und dadurch ein schrittweises Umschwenken der Massen auf unsere Seite herbeiführen wird. Dabei müssen wir gleichzeitig im Kopf haben und die Aufmerksamkeit der Weltarbeiterklasse darauf richten, dass es notwendig ist, auch unsere Fronten auszurichten, im vollen Sinn des Wortes. Wenn das passieren würde und wenn im Frühjahr die revolutionären Ereignisse stürmischen Charakter annehmen würden (dies ist natürlich schwer zu raten, aber keineswegs ausgeschlossen), dann könnte gerade dieser revolutionäre Aufschwung zu einer Zeit, wo die Bourgeoisie in entscheidenden Verhandlungen mit uns steht, die Lage drastisch ändern. Wenn diese ersten revolutionären Entwicklungen zu so einem Zeitpunkt, mitten in einem politischen Manöver kommen, können sie die Pläne zur Anerkennung der Sowjets zunichte machen und könnten unsere Feinde zwingen, einen offenen Kampf gegen uns durch das Mittel der Länder zu beginnen, die als militärische Agenten Frankreich dienen, und aller anderen kapitalistischen Länder, das heißt durch das Mittel unserer nächsten Nachbarn. Deshalb muss die Rote Armee für diesen Moment in bestem Zustand sein.

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