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Leo Trotzki 19211200 Schlusswort

Leo Trotzki: Schlusswort

(auf der XI. Parteikonferenz, Dezember 1921)

[Eigene Übersetzung nach The first five years of the Communist International, Band 2, London 1974, S. 68-73]

Trotzki: Genossen, die Diskussion über die Frage hat einen etwas akademischen Charakter angenommen, im schlimmsten Sinn des Wortes. Es kam mir nicht einmal in den Sinn, als ich mich nach dem Bericht des Genossen Sinowjew zu Wort meldete, dass es irgend einen Konflikt dazu geben werde. Ich fand in der letzten Nummer der Kommunistischen Internationale wertvolles Material zu dieser Frage in Pawlowskis Artikel, der ohne jede Kommentare veröffentlicht wurde. Und ich denke, dass die Tatsachen, die ich zitiert habe, positiv unbestritten sind. Diese Kurve, die ich zum Zwecke der Illustration grob skizziert habe, diese Kurve …

Rjasanow: Mit allen und jeden Kurven kommt man nicht sehr weit.

Trotzki: Ich glaube, Genosse Rjasanow, dass Sie und ich mit dieser weit genug kommen werden … Ich sage, dass obwohl von 1920 bis Mai oder Juni 1921 die Kurve der industriellen Entwicklung weiter fiel, dass dann eine Bewegung folgte, die ich krampfhaft genannt habe und die einen gewissen Aufschwung darstellt. Die Kurve fällt dann wieder, fängt wieder an anzusteigen und kann wieder fallen. Aber diese Linie [er zeigt auf das Schaubild] weicht scharf von dieser Linie ab. Hier sehen wir einen Niedergang im Verlauf von zwölf, dreizehn oder vierzehn Monaten. Wie drückt sich dieser Niedergang aus? Heute gibt es zum Beispiel Tausend Arbeiter, am nächsten Tag 999 oder 998 oder 997 und dieser Niedergang geht systematisch 15 Monate weiter. Der 996 Arbeiter sagt sich: „Morgen bin ich an der Reihe.” Seit es einen Niedergag gab, wurde in der Fabrik eine gewisse Zahl von Arbeitern entlassen. Unter den Arbeitern herrscht eine Stimmung völliger Ungewissheit vor. Der Kapitalist ist von ihnen nicht abhängig, während sie ihm völlig ausgeliefert sind. Diese niedergedrückte Stimmung herrschte unter breiten Kreisen von Arbeitern vor. Jetzt nehmen wir statt dessen an, dass ein zusätzlicher Arbeiter in die Fabrik hineingenommen wird: Es gibt jetzt 1001 Arbeiter, dann 1002 und so weiter. Aus dem statistischen Blickwinkel ist dies eine unbedeutende Zunahme. Vom Standpunkt, wie sich die Arbeiter fühlen, ist dies von enormer Bedeutung. Sie sind ursprünglich 1000. Dann gibt es 1001 von ihnen und dann 1002 und so weiter. Dies bedeutet, dass die Fabrik boomt und die Arbeiter etwas festen Boden unter den Füßen zu fühlen beginnen. So ist der Umstand, dass im Herbst dieses Jahres eine konjunkturelle Welle stattgefunden hat (wegen der Ernte, weil Streiks aufgehört haben oder aus irgendwelchen anderen Gründen), von Bedeutung. Wenn ich keine Statistiken zu meiner Verfügung hätte, wenn ich in einer Einzelzelle säße, ich aber trotzdem politische und wirtschaftliche Berichte kriegen würde, wonach die Stimmung der Arbeiter so und so ist, die Nachrichten so und so sind und dass es eine gewisse Zunahme in der Zahl der Arbeiter gegeben hat, würde ich daraus ableiten, dass sich ein paar Dinge geändert haben; dass eine gewisse wirtschaftliche Verschiebung stattgefunden hat. Es ist heute möglich zu streiten, was in der Zukunft mit dieser Kurve geschehen wird. Gewisse Schwankungen sind hier zu beobachten. Diese Schwankungen zeigen, dass die kapitalistische Entwicklung entweder weiter stagniert oder zurückgeht. Ich habe nur auf den Umstand hingewiesen, dass es eine ungleichmäßige oder abwärts gerichtete Linie ist und dass es in ihr Schwankungen gibt und dass sie nicht zu berücksichtigen bedeutet, die lebendigen Impulse nicht zu berücksichtigen, unter denen die Arbeiterklasse lebt und kämpft.

Lasst mich wiederholen, wenn ich keine Statistiken zur Verfügung hätte, hätte ich selbst in jenem Fall sagen können, was passiert ist. Aber Statistiken stehen zur Verfügung. Ich verweise Euch auf Pawlowskis Artikel. Größere Veränderungen haben in der Textilindustrie stattgefunden. Im August und September waren neun Zehntel der Spindeln im Einsatz. Im Frühjahr war nur die Hälfte von ihnen im Einsatz. Dies ist eine gewaltige Veränderung. In Amerika machten die Hochöfen, die Kohlenindustrie, die metallurgische Industrie im August und September die wichtigsten Veränderungen durch. Wir durchleben jetzt die politische Widerspiegelung dieser Veränderungen. Es geht hier um einen Impuls, der einen Erdrutsch in der Arbeiterbewegung auslösen kann. Wird es eine weitere Krise geben? Ich werde meine Antwort geben, nachdem der Impuls kommt. Eine weitere Krise wird vielleicht keinen demoralisierenden Einfluss ausüben, weil sich die Notwendigkeit, die Reihen zu schließen, fühlbar gemacht hat, weil sich die Notwendigkeit der Vereinigung der politischen Energie der Arbeiterklasse fühlbar gemacht hat. Innerhalb gewisser Grenzen erlangt die Arbeiterklasse eine unabhängige Bedeutung. Es ist unzulässig, diese Impulse nicht zu berücksichtigen. Manche Genossen argumentieren, dass dies die Schaffung eines Gleichgewichts bedeutet. Welche Art von Gleichgewicht? Wenn der gegenwärtige Boom zehnmal so groß wäre wie es gegenwärtig aussieht, würde er nicht ein hundertstel der Hindernisse beseitigen, die den Weg zum Boom versperren. Sokolnikow ist nicht logisch: Er sagt, dass der Kapitalismus kein Gleichgewicht erreichen wird. Ich erklärte die Bedingungen, unter denen ein Gleichgewicht erreicht werden könnte. Wenn eine Million Europäer an Hunger und Kälte sterben würden, wenn Deutschland in eine Kolonie verwandelt würde, wenn die Sowjetmacht in Russland fallen würde und letzteres auch in eine Kolonie verwandelt würde, wenn Europa ein Vasallenstaat der USA und Japans würde, dann würde ein neues kapitalistischen Gleichgewicht wiederhergestellt werden. Dies würde meinetwegen 50 Jahre unermüdlichen Kampfes bedeuten, in dessen Verlauf wir geprügelt, gewürgt, zerfetzt und schließlich erdrosselt würden. Dann würde ein neues kapitalistisches Gleichgewicht entstehen. Dies ist die Perspektive, die ich gemalt habe.

Eine Wiederbelebung findet jetzt statt. Vor dem Krieg, auf den ich verwies, rannte diese Wiederbelebung gegen neue „Schützengräben”. Die erste Linie dieser Gräben sind die phantastisch hohen Preise. Innerhalb von zwei oder drei Monaten wird diese Erholung auf neue „Barrikaden” stoßen – das gewaltsam zerstörte Gleichgewicht zwischen Europa und Amerika, die Zersplitterung Europas, die Verheerung und Isolierung von Mittel- und Osteuropa, der Belagerungszustand und so weiter. Wenn der Kapitalismus, nachdem er ein gewisses halb fiktives Wachstum erreicht hat und der Arbeiterbewegung einen Anstoß gegeben hat, mit dem Kopf gegen die „Barrikaden” rennt, die durch den Krieg errichtet wurden, wird er sich gegen die Sowjetunion wenden; er wird sich beim ersten Zeichen einer Verschlechterung zehnmal gegen sie wenden. Und im November gab es eine zweifellose Verzögerung irgend einer Art, die der Genosse Varga vorsichtig charakterisiert hat. Dies ist eine Warnung. Im Dezember wird es eine neue Schwenkung nach oben geben. Der fieberhafte Niedergang, der 15 Monate lang seit Mai letzten Jahres oder sogar seit April oder März und bis Juni diesen Jahres dauerte, dieser fieberhafte Niedergang, der als Reaktion auf den ganzen Krieg kam, wird nicht zurückkehren…

Wird der Boom schrittweise und systematisch sein? Nein. Wird es einen allgemeinen Aufschwung geben, der durch Sprünge gesprenkelt ist? Gut möglich, aber auf keinen Fall wird es ein schneller sein. Wie lange wird er dauern? Unmöglich vorherzusagen. Aber die Veränderung allein, der Umstand, dass wir von den Wasserfällen zu den Stromschnellen gelangt sind, wo das Wasser der wirtschaftlichen Entwicklung immer noch von Seite zu Seite wirbelt, es aber keine Wasserfälle mehr gibt, das Wasser nicht mehr fällt, das stellt schon eine Änderung dar, eine gewaltige Änderung. Mir wurde gesagt, dass es nicht an Armut, Elend, Arbeitslosigkeit und so weiter mangelt (ich werde mich nicht mit der Arbeitslosigkeit in England befassen). Diese Kommentare des Genossen Sokolnikow erweckten in mir den folgenden Gedankengang: Stellt euch vor, ich hätte gesagt, dass in Moskau die Straßen unter dem Genossen Kamenew dieses Jahr sauberer sind als sie 1918 waren und stellt euch dann vor, das jemand aufstehen würde und sagen, dass Trotzki behaupten würde, dass Moskau ein Bild von vollkommenem Luxus sei und dann alle Statistiken anführen würde, die Moskaus Dreck und Unrat enthalten. Meine Erklärung, dass die Straßen sauberer als 1918 sind, wäre trotzdem eine Tatsache, und es wäre unfair gegenüber dem Stadtsowjet, das zu missachten.

Eine andere Tatsache wird angeführt, nämlich dass die Währungen in einem wilden Tanz herumwirbeln, die Finanzstruktur desorganisiert ist und dies natürlich eine Grundlage für die Revolution liefert. Aber diese Entwicklung hat ihre eigenen Zickzacks, ihre eigenen Änderungen. Sokolnikow sagte, dass die Schlussfolgerung aus meiner Rede so ist, dass sie zu Spekulationen über Krieg führt. Wenn meine Ansicht wäre, dass alle Anzeichen auf die Errichtung von Harmonie und Gleichgewicht deuten, dann wäre Krieg purer Selbstmord. Es ist gleichgültig, welches Mittel man wählt, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Sokolnikow hat das meine Logik genannt. Wenn der Kapitalismus ein Gleichgewicht schafft und ich sage, dass die ganze Politik in Richtung Krieg gerichtet sein sollte, dann heißt das einfach, dass ich meine eigene Kehle mit einer Rasierklinge durchschneiden möchte, dass ich es vorziehe, die Sache blutig zu beenden. Das ist die Philosophie des Genossen Sokolnikow.

Aber ich sagte nichts dergleichen. Ich wies darauf hin, dass der Trend zur Ausdehnung unserer Anerkennung an und für sich eine bedeutsame Tatsache ist. Es hat noch keine geschichtliche Bedeutung, aber es hat symptomatische Wichtigkeit, aber bisher wird nur darüber geredet und niemand weiß, was die Anerkennungsbedingungen sind. Wenn Verhandlungen beginnen, werde ich dafür stimmen, den Genossen Sokolnikow zu der Konferenz zu schicken; er ist ein ausgezeichneter Diplomat. Wenn es darum geht, eine Delegation auszuwählen, um über unsere Anerkennung zu verhandeln, dann würde ich dafür stimmen, in diese Delegation den Genossen Sokolnikow aufzunehmen, der in einer Antikriegsstimmung ist und zum Frieden neigt, aber gleichzeitig würde ich warnen, dass in ein oder zwei Wochen der Genosse Sokolnikow uns informieren könnte, dass Lloyd George und Briand nicht mehr und nicht weniger von uns verlangen als dass wir die Komintern aus Russland vertreiben.

Radek: Nach Riga

Trotzki: Nach Riga oder nach Reval [Talinn] – das ist unwichtig. Das ist die erste kleinere Forderung. Zweitens, dass wir die ölreichen Gebiete im Kaukasus und die Industrie in Petrograd einem englischen Kartell überlassen – eine weitere Kleinigkeit. England in Petrograd festgesetzt und auch als Herrin des Kaukasus. An dritter Stelle, dass wir die Rote Armee auflösen angesichts der in Washington verkündeten allgemeinen Abrüstung. Drei kleine Forderungen und so wird uns vielleicht gesagt – in so vielen Worten oder durch Hinweise, die durch Taten entlang unserer Westgrenzen unterstrichen werden – dass wenn wir diese Vertragsbedingungen unannehmbar finden, nun, dann sind die französischen Truppen bereit, in Aktion zu treten, es gibt ein ausgezeichnetes Exerzierfeld in Karelien, ein Schlag gegen Petrograd wird von Norden vorbereitet…

Daher zog ich die Schlussfolgerung, dass wir auf der Hut sein sollten, während wir diese Verhandlungen führen und die äußerst schwierige Stellung des Kapitalismus nach Kräften nutzen. Weil die Endphase der Verhandlungen die akuteste sein wird – wenn die Drohung der Militärintervention eingesetzt werden kann, um uns nachgiebiger zu machen. Und wenn dies keine Wirkung hat, dann werden sie vielleicht die Intervention selbst anwenden. Genosse Sokolnikow sagte dass „meine ganze Perspektive mit Krieg kalkuliert, das heißt einem Offensivkrieg”. Mir Ihrem „das heißt” haben Sie den Punkt getroffen. In der Partei stimme ich völlig überein mit dem Zentralkomitee, nach dessen Meinung es der Gipfel des Wahnsinns ist, heute aus der Idee des Offensivkriegs eine Parole zu machen. Auf dem Kongress der Sowjets, auf jeder Versammlung der Rotarmisten und auf einer kompetenten Parteikonferenz habe ich wiederholt erklärt, dass unsere Politik im Kampf für den Frieden besteht. Aber der Kampf für den Frieden beinhaltet unter den gegenwärtigen Bedingungen eine starke Rote Armee. Der Ansatz von Anerkennungsverhandlungen schwächt nicht diese Notwendigkeit, sondern macht sie um so dringlicher. Und die Wiederbelebung der revolutionären Bewegung in Europa, die die Bourgeoisie in eine noch akutere Lage bringt, verschärft die Möglichkeit der Kriegsgefahr.

Genossen, wir haben hier keinerlei politische Unterschiede. Ein Versuch wurde unternommen, die Vorschläge und Argumente wirtschaftlichen Charakters, die ich hier angeführt habe in eine ideale Wirtschaftslehre zu verwandeln. Dieser Versuch wurde vom Genossen Sokolnikow unternommen.

Niemand unter uns spricht von irgend einer Art Gleichgewicht. Im Gegenteil, wenn irgendetwas gegen mich vorgebracht werden kann, ist es, dass ich im Frühling dieses Jahres, als die Krise noch sehr tiefgreifend und unbestreitbar war, eine ziemlich langfristige Sicht der revolutionären Perspektiven einnahm. Ich beharrte darauf, dass es keine Grundlage gebe, eine frühe revolutionäre Entwicklung zu erwarten. Aber heute bin ich im Gegenteil voll überzeugt, dass ein Wendepunkt gekommen ist, und besonders, dass ein Impuls gerade aus der wirtschaftlichen Wiederbelebung erfolgt ist. Das Weichen der Krise und die beginnende wirtschaftliche Wiederbelebung in den wichtigsten Industrieländern wird uns politisch näher an die Möglichkeit revolutionärer Massenbewegungen bringen. Sollte die Verschlechterung in der Zukunft mit dem selben Kurs wie in den letzten anderthalb Jahren weitergehen – was ich für unwahrscheinlich, unmöglich und wirtschaftlich unbegründet halte – in jenem Fall würde meiner Meinung nach die revolutionäre Entwicklung verlangsamt. Sollten die Entwicklungen weitergehen wie sie es jetzt machen, würde uns das perfekt passen. Die Bourgeoisie wird wirtschaftlich hundertmal weniger gewinnen als wir politisch gewinnen. Das ist der Kern der Sache.

Um auf die Thesen des Genossen Sinowjew zurückzukommen, denke ich, dass sie aus ganzem Herzen und einmütig gebilligt werden sollten. Diese Zustimmung wird der ganzen Kommunistischen Bewegung in Europa bekannt werden. Es mag unter manchen Elementen hier und da Zweifel geben, Vorurteile, haltlose, irrationale Einwände und so weiter. Nachdem man sie berücksichtigt hat, ist es notwendig, sie durch unsere einmütige Annahme der Thesen zu überwinden Die Konferenz wird so den wirklichen kommunistischen Elementen in der Weltarbeiterbewegung helfen, ihre Politik in eine völlig richtige Bahn zu lenken.

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