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Leo Trotzki 19210624 Schlusswort zur Diskussion über die wirtschaftliche Krise und die Aufgaben der Komintern

Leo Trotzki: Schlusswort zur Diskussion über die wirtschaftliche Krise und die Aufgaben der Komintern

(3. Sitzung, 24. Juni 1921 abends)

[Protokoll des III. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale. Band 1, Hamburg 1921, S. 125-137]

TROTZKI. Genossinnen und Genossen! Als erster Redner in der Diskussion hielt Genosse Brand eine sehr interessante Rede, auf die ich nicht näher eingehen will, zumal ich mich mit dem Inhalt im Großen und Ganzen einverstanden erkläre. Nur muss ich auf seine Schlussbemerkung reagieren, denn, ich glaube, dass er in Anbetracht dessen, dass er vom Vorsitzenden etwas gedrängt wurde, sich allzu knapp ausdrücken musste, so dass diese seine Bemerkung zu Missverständnissen Anlass geben könnte. Brand meinte, wir werden die Bourgeoisie nicht mit der Statistik, sondern mit dem Schwerte bekämpfen, und suchte diesen Umstand noch dadurch zu unterstreichen, dass ich als Vortragender hier auftrat. Nun muss ich ganz offen erklären, dass ich mit der Statistik der Roten Armee viel mehr als mit dem Schwerte zu tun hatte. (Heiterkeit.) Wenn Genosse Brand und andere Genossen glauben, dass ich mich, um so auszudrücken, mit dem Schwerte in der Hand an den Kämpfen der Roten Armee beteiligt habe, so haben diese Genossen allzu romantische Auffassungen von meiner Funktion. Ich habe mich viel mehr mit der Zahl der Stiefel, der Hosen und, ich bitte um Verzeihung — auch der Unterhosen beschäftigt (Heiterkeit), als mit dem Schwert. Ich glaube überhaupt, dass kein Widerspruch besteht zwischen dem Schwert und der Statistik, denn die Statistik des Schwerts spielt im Kriege eine sehr große Rolle. Napoleon sagte: „Dieu est toujours avec les gros bataillons”. “Gott ist immer auf Seiten der zahlreichen Bataillone”. Und die Statistik beschäftigt sich, wie Sie wissen, auch mit der Zahl der Bataillone. Genosse Brand wird sich wohl erinnern, dass wir uns etwas in der Statistik verrechnet haben, als wir allzu sehr in der Richtung auf Warschau vorgegangen waren, ohne die Distanzen genau abzumessen und die Kraft, den Widerstand des Feindes genauer zu erwägen. Also, ein gut geschliffenes Schwert und eine gute Statistik des Schwertes und alles dessen, was zum Schwert gehört, passen recht wohl zusammen. (Beifall.)

Genosse Seemann hat eine Bemerkung des Genossen Brand aufgegriffen und noch schärfer hervorgehoben, indem er meinte: Wir haben die Revolution nicht zu beweisen, sondern durchzuführen. Das ist zu einem Teil richtig, in einem gewissen Sinne aber auch nicht richtig. Wir müssen den Arbeitern die Revolution, ihre Möglichkeit, ihre Notwendigkeit, ihre Unausbleiblichkeit beweisen, der Bourgeoisie gegenüber aber haben wir sie mit Gewalt durchzuführen. Und ich glaube, dass Genosse Seemann und die anderen Genossen, die im gleichen Sinne sprachen, ein wenig im Unrecht sind, wenn sie meinen, dass die objektive Analyse der ökonomischen Entwicklung, die ja die Unausbleiblichkeit der Revolution beweist, wie sich, wie ich glaube, Genosse Sachs oder Genosse Seemann ausgedrückt hat, uns beweist, dass die Revolution an irgendwelchem Punkte der geschichtlichen Entwicklung unvermeidlich ist. Das haben ja auch die Sozialdemokraten der II. Internationale immer wiederholt. Das interessiert uns nicht weiter. Wir müssen uns ein Ziel stecken, und dieses Ziel durch entsprechende Organisation und Taktik erreichen. Ja, wie man Schwert und Statistik einander nicht gegenüberstellen kann, so kann man auch nicht die subjektiven Faktoren der Geschichte, den revolutionären Willen, das revolutionäre Bewusstsein der Arbeiterklasse den objektiven Verhältnissen entgegenstellen. Denn wenn die Opportunisten, die Hilferdinge, Kautsky und die Kautskyaner, den geschichtlichen Prozess automatisieren, indem sie nur den objektiven Faktor, den Willen der feindlichen Klasse, der für uns ein objektiver Faktor ist, in ihre große geschichtliche Statistik eintragen und den subjektiven Faktor, den revolutionären, treibenden Willen der Arbeiterklasse fast ausschließen, wenn sie damit den Marxismus falsifizieren, so gibt es ja eine andere Art, die Revolution methodisch zu organisieren. Es gibt nämlich eine Abart des revolutionären Denkens, dessen Vertreter wir gerade auf dem russischen Boden reichlich beobachten konnten. Das sind unsere Sozialrevolutionäre, und insbesondere ihr linker Flügel. Diese haben ja überhaupt über das objektive Denken, über die Analyse der ökonomischen und der politischen Entwicklung, über ihre objektive, philosophisch gesprochen, immanente Tendenz gespottet und sie, die sich gute Marxisten dünken, haben den freien Willen den revolutionären Handlungen der Minderheit gegenübergestellt. Lösen wir das subjektive Moment von dem objektiven los, so führt selbstverständlich diese Philosophie zu einem reinen revolutionären Abenteurertum.

Und ich glaube, dass wir in der großen marxistischen Schule gelernt haben, das Objektive mit dem Subjektiven dialektisch und praktisch zu vereinigen, d. h. also, wir haben gelernt, unsere Aktion nicht nur auf den subjektiven Willen des einen oder anderen zu basieren, sondern auf die Überzeugung, dass die Arbeiterklasse diesem unseren subjektiven Willen folgen muss und dass der Aktionswille der Arbeiterklasse durch die objektive Lage bestimmt wird. Also, da müssen wir doch etwas durch ökonomische Analyse und auch durch die Statistik beweisen, damit wir unseren eigenen Weg dann genau bestimmen und auf diesem Weg ganz energisch mit dem Schwert vorgehen können.

Genosse Sachs meinte, die Thesen seien kein geeignetes Dokument für die Kommunistische Internationale, denn der Niedergang und die Aufwärtsbewegung seien darin nicht genügend scharf umschrieben. Ich verweise nur auf Seite 9 der Thesen wo dies ganz genau ausgeführt ist. Ferner meinte der Genosse, dass das Proletariat eben ein subjektiver revolutionärer Faktor der Geschichte sei und die Thesen hätten diesen subjektiven Standpunkt nicht betont. Ich meine, dass Genosse Sachs, der sich in seinen Tendenzen von den meisten der Redner unterscheidet, mit einigen Genossen, die heute hier das Wort ergriffen haben, die eine Tendenz gemein hat, die Thesen nicht gelesen zu haben. In Punkt 34 sagen wir ganz genau: Die Frage des Wiederaufbaus des Kapitalismus auf den oben geschilderten Grundlagen, bedeutet im Wesen folgendes: wird die Arbeiterklasse unter den neuen unvergleichlich schwereren Verhältnissen die Opfer bringen wollen” … — das ist ja genug subjektiv —‚ „die nötig sind, um die stabilen Bedingungen ihrer eigenen Sklaverei, einer konzentrierteren und grausameren, als diejenige, die vor dem Kriege herrschte, wiederherzustellen?” Des weiteren ist der Gedanke der Notwendigkeit der Akkumulation, der verstärkten Akkumulation, der Notwendigkeit der Gesundung der Währung usw. entwickelt. Und überall gelangt derselbe Gedanke zum Ausdruck. Das ökonomische Gleichgewicht ist kein abstraktes, mechanisches Gleichgewicht, es kann nur durch das Wirken von Klassen wiederhergestellt werden. Nun aber ruhen die Klassen auf der Basis der Wirtschaft. Der Bourgeoisie ist es gelungen, im Laufe der drei Nachkriegsjahre das Gleichgewicht zu erhalten. Das ist Tatsache. Die Bourgeoisie bleibt einstweilen am Ruder. Wodurch? Wie ich schon früher gesagt habe, durch Neuemissionen, dadurch, dass sie in Italien, Frankreich und Deutschland aus den zerrütteten Staatsfinanzen Zuschüsse zu den Arbeitslöhnen gewährt, in der Form der herabgesetzten Brotpreise, des verbilligen Mietzinses. Jedes Stück deutscher Ware, das auf den englischen Markt geschleudert wird, bedeutet einen unbezahlten Teil einer deutschen Wohnung, die ruiniert ist, den Teil eines deutschen Hauses, der nicht renoviert werden kann. Also um das Klassen[gleich]gewicht herzustellen, muss man die Wirtschaft ruinieren, wenn man die Wirtschaft herstellen will, muss man das Gleichgewicht der Klassen stören. Das ist der Teufelskreis, in dem sich die Wirtschaft mit ihrem Überbau befindet. Das ist der Hauptgedanke der Thesen. Wer diesen Gedanken nicht aus den Thesen herausgelesen hat, den muss ich ersuchen, die Thesen noch einmal aufmerksam durchzulesen.

Genosse Seemann meinte, Sowjetrussland könnte als Ventil für den Kapitalismus dienen, und dadurch vielleicht die Entwicklung der Weltrevolution stören. Nun so gefährlich stehen die Dinge denn doch noch nicht, dass das europäische oder das amerikanische Kapital sich auf Russland werfen wird, um sich aus der Situation, in die es durch die riesige Arbeitslosigkeit geraten ist, zu retten. Die Lage ist noch bei weitem nicht so gefährlich, und unser Land ist unglücklicherweise viel zu sehr zerrüttet, um das Kapital in solchem Umfange hierher zu locken, dass es für die Entwicklung der Revolution in Amerika und Europa gefährlich werden könnte. Das ist absolut ausgeschlossen.

Ich komme nun zu den Ausführungen des Genossen Pogany. Er fand in den Thesen einen Widerspruch und eine Lücke, und zwar auf Seite 4 und Seite 14. Der Widerspruch besteht seiner Meinung nach darin, dass wir einmal sagen, die Prosperität habe die revolutionären Ausbrüche geschwächt, gemildert, dann aber sagen, dass die künstliche Prosperität die Revolution nicht aufhalte, sondern in einem gewissen Sinne fördern werde. Ja, die vergangene Scheinprosperität und die zukünftige Scheinprosperität sind ganz verschieden abgeschätzt und daran findet Pogany einen Widerspruch. Es gibt indessen hier keinen Widerspruch. Denn wir nehmen die Prosperität in der geschichtlichen konkreten Umgebung der internationalen Welt und der einzelnen Staaten. Das Denken des Genossen Pogany ist wenigstens in dieser Frage etwas automatisch und metaphysisch, um in der alten Phraseologie zu sprechen, denn er meint, die Krise löse immer dieselbe Tendenz aus, ebenso die Prosperität. Das ist ganz falsch. Erstens ist eine derartige Einstellung der Thesen vollkommen irreführend. Er sagt, die Thesen wollen zwei Dinge: erstens, auf den englisch-amerikanischen Krieg warten; zweitens auf die Prosperität warten. Als ob ich die Prosperität sozusagen in unsere Taktik eingefügt hätte, als ob ich der Prosperität die Türen geöffnet und gesagt hätte, die Prosperität möge eintreten und die Situation ändern. Davon ist keine Rede. Was sagen die Thesen? Sie sagen, wir haben eine tiefe und scharfe Krise; diese Krise hat zum großen Angriff der kapitalistischen Klasse gegen das Proletariat geführt. Das Proletariat befindet sich überall in der Defensive. Unsere Pflicht ist es, diesen defensiven Kampf des Proletariats auf ökonomischem Boden zu verallgemeinern, zu vertiefen, durch ganz genaue Feststellungen die Bedingungen des Kampfes zu klären, ihn politisch zu gestalten und zu einem Kampf um die politische Macht zu erweitern. Das ist ja unsere selbstverständliche Aufgabe. Ich sagte weiter in meinem Vortrage und wir sagen mit dem Genossen Varga in unseren Thesen: Wenn aber in 2 bis 8 Monaten oder in einem halben Jahre eine Besserung der Lage eintritt, so kann selbstverständlich davon die Rede sein unter der Voraussetzung, dass die Revolution inzwischen nicht losbricht. Bricht sie los, so werden wir zusammen mit dem Genossen Pogany uns dieser Erscheinung nicht widersetzen, mit allen Kräften uns daran beteiligen. Aber wir stellen uns die Frage: was wird sein, wenn das nicht geschieht, Genosse Pogany? Wenn anstatt der Revolution die Besserung der ökonomischen Situation eintritt? Genosse Varga hat ja in seiner Broschüre manches Symptom dieser Besserung gekennzeichnet. Und selbst in dem Fall, wenn jetzt von einer Besserung nicht gesprochen werden kann, so muss jedenfalls festgestellt werden, dass das Tempo der Verschlechterung sich verlangsamt hat. Das ist sicher. Die Preise fallen nicht mehr so reißend wie früher. Der Finanzmarkt ist viel weniger gespannt, und man merkt hier und dort ganz winzige, oberflächliche Erscheinungen der Besserung auch in der Produktion. Diese ist aber nur ganz unbedeutend, es ist leicht möglich, dass es sich nur um einen kleinen Zickzack handelt, und dass es dann wieder abwärts gehen wird. Es ist aber auch möglich, dass eine größere Besserung eintritt. Das hängt nicht von mir, noch von dem Genossen Pogany, noch von den Resolutionen des Kongresses ab. Das ist wirklich eine von unserem Willen unabhängige, von außen gegebene automatische Erscheinung. Bedeutet dies nun wirklich vom Standpunkte der Taktik das Ansetzen der Epoche einer neuen ökonomischen Entwicklung? Das in keinem Fall. Nach der Auffassung des Genossen Pogany müsste man, wenn in drei Monaten der englische Markt, die Ausfuhr, die Produktion lebendiger wird, die Hoffnung auf die direkte Entwicklung der Revolution, der Eroberung der politischen Macht aufgeben. Wir glauben, dass es sich nicht so verhält. Es ist ein großer Unterschied zwischen der Prosperität unmittelbar nach dem Kriege und der nun kommenden Prosperität. Denn nach dem Kriege war ja die Arbeiterklasse noch voller Illusionen. Die Arbeiterklasse war desorganisiert wie auch das Bürgertum. Es herrschte eine allgemeine Desorganisierung der Klassen. Nur eine kleine Minderheit in der Bourgeoisie war zielbewusst, und ebenso war sich nur eine kleine Minderheit der Arbeiterklasse, die kommunistische Gruppe, des Zieles bewusst. Die großen Massen waren schwankend und in dieser Situation war es von höchster Wichtigkeit, ob der aus dem Krieg heimkehrende Arbeiter arbeitslos wird, oder ob er sogleich einen ziemlich anständigen Lohn erhält, ob er billigeres oder teures Brot hat, denn all diesen Umständen stellt er seine Anstrengungen und Blutopfer auf dem Schlachtfelde entgegen. Das Bürgertum schuf indessen durch große Finanzopfer, durch die weitere Zerrüttung der Wirtschaftsbasis eine Situation, die diese konfuse Stimmung der großen Massen für zwei Jahre stabilisierte. Selbstverständlich bröckelten ganze Schichten von Arbeitern immer mehr ab, jedenfalls konnte sich aber das Regime bis zum heutigen Tage halten. Nun ist jetzt durch die Arbeitslosigkeit eine große Verelendung in den Massen eingetreten. Die kommunistische Partei hat sich herausgebildet, die Desillusion, die Enttäuschung der Massen haben die größten Fortschritte getan, und wir kämpfen nun auf der Basis der Krise und wir werden auf dieser Basis kämpfen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir auf der Grundlage dieser Kämpfe, dieser Krise in dem einen oder dem anderen Staate zur Macht gelangen werden. Sollte aber dieser Kampf nicht zu einem positiven Resultat, nicht zum Siege führen, dann wird, und das sagen die Thesen, die Scheinprosperität keinesfalls auf die Arbeiter beschwichtigend einwirken. Im Gegenteil. Jeder Arbeiter wird sich bei den ersten Anzeichen der Prosperität all der Enttäuschungen, die er erlitten, all der Opfer, die er vollbracht hat, erinnern, und wird Vergeltung fordern für alles, auch für die Lohnreduktionen, für die Krise. Das ist historisch, ökonomisch und psychologisch begründet. Was die Musik betrifft, die Genosse Pogany aus meiner Rede herausgehört haben will, dass ich auf einen neuen Krieg und auf die Prosperität warte, so weiß ich nicht, ob meine Stimme nicht genügend musikalisch, ob das Ohr des Genossen Pogany wenig musikalisch ist, oder ob die Akustik schlecht ist. (Heiterkeit.) Jedenfalls besteht zwischen meinem Sprachorgan und dem Hörorgan des Genossen Pogany ein Missverständnis. Ich schlage niemand vor, auf den Krieg zwischen England und Amerika zu warten.

Und wenn ich gewusst hätte, dass diese Ziffer, das Jahr 1924, jemand in Versuchung bringen kann, so würde ich überhaupt auf das verfluchte Datum verzichtet haben. Denn es spielt ja gar keine Rolle in meinen Ausführungen. Ich habe das nur zur Illustration angeführt. Ich habe mich mit dem ökonomischen Gleichgewicht befasst und habe gefragt: wie steht es mit dem Gleichgewicht der internationalen Beziehungen der Staaten? Und ich habe gesagt, wir hatten ja den bewaffneten Frieden von 1914, man bereitete sich für den Krieg vor. Aber niemand dachte an ein so rasches Tempo und niemand rechnete mit der Sicherheit des unausbleiblichen Zusammenstoßes in zwei, drei, vier Jahren. Und dieser unausbleibliche Zusammenstoß ist nicht ein mathematischer Punkt in dieser geschichtlichen Entwicklung, er wirkt auch auf die gegenwärtige Gruppierung der Staaten in Europa.

Genosse Thalheimer wiederholte dieselbe Anklage, ich möchte sozusagen die revolutionäre Energie des Proletariats für den Fall des Krieges 1924 reservieren, was ja etwas sonderbar klingt. Dann sagt er, dass meine Einstellung sozusagen auf den friedlichen Zerfall des Kapitalismus laufe. Er sagte klar, dass die Einstellung der Thesen auf den friedlichen Zerfall des Kapitalismus gerichtet ist. Ich verweise auch hier auf den Punkt 34, wo das Entgegengesetzte gesagt wird. Es wird hier gesagt, dass das Gleichgewicht, wenn es auf den automatischen Zerfall des Kapitalismus ankommt, sich herausbilden wird, dass aber eben das Herausbilden dieses Gleichgewichts durch das Medium der kämpfenden Klasse geschieht und deshalb wird es sich nicht herausbilden. So steht es hier.

Auch die Frage der Kontribution ist in diesem Zusammenhange behandelt worden. Es ist gesagt worden, dass die Kontribution Deutschlands als Mittel der Stabilisierung des Kapitalismus der Entente diene. Ganz richtig, die Kontributionen müssen aber eben bezahlt werden. Damit sie bezahlt werden, muss das deutsche Proletariat nicht nur für sich, nicht nur für die Profite seiner Bourgeoisie, für seinen Staat, sondern auch für diese Kontributionen schaffen. Das bedeutet die potenzierte Ausbeutung und das bedeutet den verschärften Klassenkampf, nicht aber die Herstellung des Gleichgewichtes.

Die Frage, die ganz abstrakt von manchen Genossen gestellt wird, ob Verelendung oder Prosperität zur Revolution antreiben, ist in dieser Formulierung ganz falsch. Das habe ich schon in meinem Vortrag zu beweisen versucht. Ein spanischer Genosse hat mir in einem Privatgespräch gesagt, in Spanien habe gerade die Prosperität, die durch den Krieg für die spanische Industrie geschaffen wurde, zu der revolutionären Arbeiterbewegung großen Stils geführt, denn früher habe in dieser Beziehung in Spanien Stagnation geherrscht. Also kein russisches, sondern ein spanisches Beispiel, ein Beispiel aus dem entgegengesetzten Teil Europas.

Genossen: Weder die Verelendung, noch die Prosperität als solche können zur Revolution führen, sondern das Abwechseln der Prosperität und der Verelendung, der Krise; das Nichtstabile, der Mangel an Beständigkeit ist der treibende revolutionäre Faktor.

Warum ist nun die Bürokratie der Arbeiterbewegung so konservativ geworden? Es sind doch zumeist bescheidene, mäßig lebende Kerle, die keinen großen Luxus treiben, sie sind aber auf die Stabilität des Lebens eingerichtet. Sie haben ja keine Furcht vor Arbeitslosigkeit, solange sie sich im Rahmen des normalen Partei- und Gewerkschaftslebens hält. Das hat ja auch auf die Psychologie einer großen Schicht der bessergestellten Arbeiter, auf diese Bürokraten eingewirkt. Nun ist es eben mit dieser Herrlichkeit, mit der Stabilität der Verhältnisse vorbei. Verelendung ist an die Stelle der künstlichen Prosperität getreten. Die Preise springen um 100 Prozent, die Löhne verändern sich im Verhältnis oder nicht im Verhältnis mit den Veränderungen der Währung. Man hat die Sprünge der Währung, die Sprünge der Löhne, und dann diese Abwechslung der fieberhaften fiktiven Konjunktur und der tiefen Krisen. Dieser Mangel an Stabilität, an jeglicher Sicherheit für das private Leben jedes Arbeiters ist der revolutionärste Faktor der Epoche, in der wir jetzt leben. Und das ist auch in den Thesen ganz genau gesagt. Wir berufen uns hier auf die Krise als solche und auch auf die Prosperität. Wir sagen auf Seite 13: “Die Unbeständigkeit der Lebensverhältnisse, die allgemeine Unbeständigkeit der National- und Weltwirtschaftsbedingungen widerspiegelt, — ist jetzt einer der wichtigsten revolutionären Entwicklungsfaktoren.”

Und das behält ebenso für die Krisenzeit, wie für die Zeit der Prosperität seine Bedeutung. Und das bezieht sich auch auf die politischen Verhältnisse, in denen die Arbeiterschaft lebt. Die Arbeiterschaft vor dem Kriege hat sich an das preußische Regime gewöhnt. Es war ein eiserner Rahmen, aber doch ein sicherer Rahmen. Man wusste, dass man dieses tun, jenes nicht tun dürfe. Jetzt ist auch dieses Regime der preußischen Stabilität verschwunden. Man bekam vor dem Kriege 8 Mark täglich, aber das waren klingende Mark, man konnte dafür etwas kaufen. Man bekommt jetzt, ich weiß nicht, 20, 80, 40, 50 Mark pro Tag, man hat aber sehr wenig davon. Man hatte wohl den deutschen Kaiser, man wusste aber, dass man nicht auf der Straße getötet wurde, wenn man einen Streik macht, man wusste, dass man höchstens eingekerkert wird. Jetzt weiß man nicht, ob man, wenn man als freier Bürger der Republik auf der Straße promeniert, nicht erschossen wird, Dieser Mangel an Sicherheit bringt ja den ruhigsten Arbeiter aus dem Gleichgewicht. Das ist der treibende revolutionäre Faktor. Was hier gesagt worden ist, dass ich mich und auch die Thesen auf den Konflikt zwischen England und Amerika konzentriere und die anderen Konflikte außer acht lasse, ist vollständig falsch. Es steht auch darin, was Koenen über das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich sagte, es ist hier ganz ausführlich besprochen. Sogar die letzte Kapitulation und alles, was damit zusammenhängt, sind auf Seite 10 erörtert worden. Dort heißt es: “Die Kapitulation Deutschlands im Monat Mai in der Kontributionsfrage bedeutet dennoch einen zeitweiligen Sieg Englands und verbürgt ihm den weiteren wirtschaftlichen Verfall Zentraleuropas, ohne jedoch die Besetzung des Ruhrgebietes durch Frankreich in der allernächsten Zeit auszuschließen.”

Und alles was Genosse Koenen gesagt hat, finden Sie dem Prinzip nach in den Thesen. Selbstverständlich können wir nicht unsere Aufmerksamkeit in der Frage der internationalen Politik nur auf das kommende Jahr 1924 konzentrieren. Wir müssen mit offenen Augen jede Eventualität, jeden Tag beobachten und uns ganz scharf vorbereiten. Und ich meine, dass wir gerade auf internationalem Gebiet die größten Aussichten haben, das Proletariat für uns zu gewinnen und das bleibt ja doch die Hauptsache. Bevor man die Macht, die Gewalt erringt, muss man das Proletariat für sich gewinnen. Wie steht nun die II. Internationale und die II½. Internationale auf diesem Gebiet? Da muss ich doch auf ein kleines Beispiel die Aufmerksamkeit lenken, auf die Polemik zwischen dem “Vorwärts” und dem belgischen Blatt “Le Peuple”. Ich weiß nicht, ob das in Deutschland genügend ausgenutzt worden ist. Diese Polemik zwischen diesen beiden Parteiorganen, die derselben zweiten Internationale angehören, über die aktuellste, vitalste Frage, die deutsche Reparationsfrage, ist im höchsten Grade lehrreich für jeden deutschen, belgischen und französischen Arbeiter. In dem Moment, wo Briand mit der Besetzung des Ruhrgebietes gedroht hatte, stellte “Le Peuple”, das belgische sozialistische Schandblatt, folgende Fragen an die deutschen Genossen: “Wir sahen,” schreibt der Peuple, “dass die deutschen Arbeiter in den Kapptagen sich ganz tapfer zu benehmen verstanden. Warum schweigen sie jetzt? Warum geben heute die Arbeiterorganisationen von einem Ende Deutschlands zum anderen in unmissverständlicher Weise ihrem Willen Ausdruck, dem Ruhrgebiet die Okkupation und die Arbeit unter militärischer Aufsicht zu ersparen?”

Das heißt also: Da meine Regierung, die belgische, wie die französische dich, deutscher Arbeiter, erwürgen werden, im Falle deine Regierung an die französische keine Kontributionen in dem geforderten Umfang zahlen wird, so ist es deine Pflicht, deutscher Arbeiter, die Revolution gegen deine Bourgeoisie zu machen, sie zur Zahlung der Kontributionen zu zwingen, damit meine Bourgeoisie nicht gezwungen wird. dich zu erwürgen. (Heiterkeit.) Das bedeutet ja, mit der revolutionären Pflicht Ball zu spielen, wie es die Clowns im Zirkus tun. Deine Pflicht ist es, deine Bourgeoisie der meinen zu unterwerfen, damit ich nicht verpflichtet bin, gegen deine Bourgeoisie zu kämpfen. (Zustimmung.)

Der “Vorwärts” antwortete darauf: “jede einzelne dieser Fragen geben wir in vollem Umfang an die belgischen Arbeiterorganisationen zurück. Nicht unsere Armeen sind es, die es aufzuhalten gilt.” Das sagt derselbe “Vorwärts”, dieselbe sozialdemokratische Führung, die ja den Brest-Litowsker Frieden seinerzeit unterstützt hatte. Über diese Kerle muss man vor der belgischen und französischen und auch vor der deutschen Arbeiterklasse mit der Hundepeitsche in der Hand sprechen.

Genossen und Genossinnen! Die Revolution hat drei Flussbetten und an eines dieser Flussbetten hat uns Genosse Roy erinnert. Das erste große Flussbett der revolutionären Entwicklung ist das verkommene Europa. Das soziale Gleichgewicht Europas, Englands in erster Reihe, war immer auf die Vormachtstellung Englands und Europas in der Welt gegründet. Diese Basis für England: seine herrschende Vormachtstellung in der Welt. Damit ist es vorbei. Fluktuationen können eintreten, aber mit der Vormachtstellung Europas ist es vorbei, mit der Vormachtstellung der europäischen Bourgeoisie, und auch des europäischen Proletariats. Das ist das erste große Flussbett der Revolution.

Das zweite: die fieberhafte Entwicklung Amerikas, dieser große fieberhafte Aufstieg, der ja durch Bedingungen geschaffen wurde, die sich nie stabilisieren und nie wiederholen lassen: also ein großer Aufstieg, nach dem unvermeidbar die große Krise, die Depression eintritt, Dieses Auf und Ab, dieses nie dagewesene Auf und Ab einer großer Nation, einer großen Gesellschaft ist ein mächtiger revolutionärer Faktor, und es ist nicht ausgeschlossen, dass die revolutionäre Entwicklung in den Vereinigten Staaten Amerikas jetzt ein amerikanisches Tempo annehmen wird.

Das dritte sind die Kolonien, Sie haben sich in der Zeit des Krieges, wo die europäischen Länder vom Weltmarkt ausgeschlossen waren, ziemlich stark in der kapitalistischen Richtung entwickelt. Das hat keine besonders große ökonomische Bedeutung für den Weltmarkt. Auf ihm spielt ja der indische, chinesische, auch der japanische Kapitalismus keine entscheidende und große Rolle. Für die revolutionäre Entwicklung in Japan, China und Indien spielt aber die Entwicklung des Kapitalismus, die erreichte Stufe dieser Entwicklung eine entscheidende Rolle. In Indien hat man jetzt ein zurückgebliebenes Proletariat, welche Rolle aber in einem solchen Lande mit halb feudal-agrarischen Verhältnissen dem Proletariat innewohnt, können Sie aus der ganzen neueren Geschichte Russlands sehen. Das Proletariat wird dort eine Rolle spielen, die in keinem Verhältnis zu der Entwicklungsstufe des Kapitalismus steht und auch zu der Zahl der Arbeiter nicht. Denn es gibt für die Bauernschaft Indiens oder Chinas keine andere Möglichkeit, kein anderes Konzentrationszentrum, als das junge kampfbereite Proletariat.

Also der Kampf in den Kolonien ist das dritte wichtige Flussbett der revolutionären Bewegung. Diese sind einander nicht gegenüber zu stellen. Denn die Bewegung geht in diesen drei Flussbetten parallel, aufeinander einwirkend, und man weiß nicht, wo sie in dem einen oder dem anderen Moment akuter wird. Aber das Ganze ist so eingerichtet, dass die objektiven Verhältnisse, dieses Automatische in der Geschichte, ausgezeichnet für uns arbeiten, Ich hoffe, dass auch durch meine Ausführungen das Subjektive nicht gebremst wird, wie manche Genossen fürchten, sondern dass das objektiv Revolutionäre mit dem subjektiv Revolutionären zusammenwirken und vortreffliche Arbeit leisten wird.

Es wurde vorgeschlagen, dass der Kongress die Thesen an die Kommission zurückweise. Es ist wohl notwendig, dass die Thesen noch einmal an die Kommission geleitet werden, damit diese sie auf Grund der durchgeführten Diskussionen durchsehe. Aber ich ersuche doch den Kongress, unsere Thesen im Prinzip als Grundlage zu billigen, bevor sie in die Kommission gehen. (Lebhafter Beifall und Applaus.)

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