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Leo Trotzki 19210704 Thesen zur Weltlage und den Aufgaben der Kommunistischen Internationale

Leo Trotzki: Thesen zur Weltlage und den Aufgaben der Kommunistischen Internationale

(einmütig angenommen in der 16. Sitzung des III. Weltkongresses vom 4. Juli 1921)

[Thesen und Resolutionen des III. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale. Hamburg 1921, S. 7-29]

1. Das Wesen der Frage.

1. Die revolutionäre Bewegung gegen Ende des imperialistischen Krieges und in der Nachkriegszeit zeichnet sich durch einen in der Geschichte noch nie dagewesenen Schwung aus. Im März 1917 erfolgt der Sturz des Zarismus. Seit dem Mai 1917 ist in England eine stürmische Streikbewegung zu verzeichnen. Im November 1917 erobert das russische Proletariat die Staatsmacht. Im November 1918 erfolgt der Zusammenbruch der deutschen und der österreichisch-ungarischen Monarchie. Die Streikbewegung erfasst eine Reihe europäischer Länder und nimmt im darauffolgenden Jahre einen ganz besonders großen Umfang an. Im März 1919 entsteht die Sowjetrepublik in Ungarn. Am Ende des Jahres werden die Vereinigten Staaten von stürmischen Streiks der Metall- und Grubenarbeiter und Eisenbahner erschüttert. In Deutschland erreicht die Bewegung nach den Januar- und Märzkämpfen des Jahres 1919, in den Tagen des Kapp-Putsches, März 1920, ihren Höhepunkt. In Frankreich tritt der Moment der höchsten innenpolitischen Spannung im Mai des Jahres 1920 ein. In Italien führt die immer mächtiger werdende Bewegung des industriellen und ländlichen Proletariats im September 1920 zur Besitzergreifung der Fabriken, Werkstätten und Güter durch die Arbeiter. Das tschechische Proletariat greift im Dezember 1920 zur Waffe des politischen Massenstreiks. Im März 1921 erheben sich die Arbeiter in Mitteldeutschland und die Bergarbeiter Englands beginnen ihren Riesenstreik.

Besonders ausgedehnt und scharf zeigt sich die Bewegung in den kriegführenden Ländern, unter ihnen wiederum in den besiegten. Sie dehnt sich aber auch auf die neutralen Länder aus. In Asien und Afrika erweckt oder verstärkt sich die revolutionäre Empörung von Millionen der Kolonialvölker.

Diese mächtige Welle schwemmte aber weder den Weltkapitalismus, noch den europäischen Kapitalismus hinweg.

2. Während des Jahres zwischen dem II. und III. Kongress der Kommunistischen Internationale endete eine Reihe der Aufstände und Kämpfe der Arbeiterklasse mit teilweisen Niederlagen. (Die Offensive der Roten Armee gegen Warschau im August 1920, die Bewegung des italienischen Proletariats im September 1920, der Aufstand der deutschen Arbeiter im März 1921.)

Die erste Periode der revolutionären Bewegung nach dem Kriege, die durch eine elementare Stoßkraft, durch eine Formlosigkeit der Methoden und Ziele und durch das Hervorrufen einer außerordentlichen Panik innerhalb der herrschenden Klassen charakterisiert war, erscheint als im Wesentlichen abgeschlossen. Das Selbstvertrauen der Bourgeoisie als Klasse und die äußerliche Festigkeit ihrer staatlichen Organe erstarkte zweifellos. Der panische Schrecken vor dem Kommunismus ist, wenn auch nicht verschwunden, jedoch abgeschwächt. Die Führer der Bourgeoisie brüsten sich sogar mit der Macht ihres Staatsapparats und sind in allen Ländern zur Offensive gegen die Arbeitermassen übergegangen, sowohl an der wirtschaftlichen als auch an der politischen Front.

3. Infolgedessen stellt die Kommunistische Internationale sich und der ganzen Arbeiterklasse folgende Fragen: In welchem Ausmaße entspricht das neue politische Verhältnis der Bourgeoisie zum Proletariat dem tatsächlichen Kräfteverhältnis? Ist die Bourgeoisie wirklich nahe daran, das soziale Gleichgewicht wiederherzustellen, das durch den Krieg zerstört worden ist? Ist begründet anzunehmen, dass an Stelle politischer Erschütterungen und Klassenkämpfe eine neue, lang andauernde Epoche der Wiederherstellung und des Wachstums des Kapitalismus eintreten werde? Folgt daraus nicht die Notwendigkeit der Revision des Programms oder der Taktik der Kommunistischen Internationale?

II. Der Krieg, der spekulative Aufschwung und die Krise.

Die Länder Europas.

4. Die zwei Jahrzehnte vor dem Kriege waren eine Epoche einer besonders mächtigen kapitalistischen Entwicklung. Die Perioden des Aufschwunges zeichneten sich durch lange Dauer und hohe Intensität, die Perioden der Depression durch ihre kurze Dauer aus. Im Allgemeinen ging die Kurve entschieden nach oben: die kapitalistischen Nationen bereicherten sich.

Die Leiter des Schicksals der Welt, die den Weltmarkt durch Trusts, Kartelle und Konzerne sehr genau beobachteten, gaben sich darüber Rechnung, dass die rasch anwachsende Produktion an die Grenzen der Aufnahmefähigkeit des kapitalistischen Weltmarktes stoßen müsse und versuchten daher, sich durch einen gewaltsamen Eingriff aus ihrer beengten Lage zu befreien. Die blutige Krise des Weltkrieges sollte an die Stelle der drohenden, langen Periode der ökonomischen Depression treten — mit demselben Resultat: massenhafte Vernichtung von Produktionskräften.

Der Krieg aber vereinigte die außerordentlich zerstörende Kraft seiner Methoden mit der unvorhergesehen langen Dauer ihrer Anwendung. Schließlich zerstörte er nicht nur die wirtschaftlich “überflüssigen” Produktionskräfte, sondern schwächte, zerrüttete und untergrub auch den gesamten Produktionsapparat Europas. Gleichzeitig förderte er mächtig die kapitalistische Entwicklung in den Vereinigten Staaten und den fieberhaften Aufschwung Japans. Der Schwerpunkt der Weltwirtschaft verschob sich von Europa nach Amerika.

5. Die Periode des Abbruches der vier Jahre dauernden Metzelei, der Demobilisation und der Umstellung des Kriegs- auf den Friedenszustand mit der unausbleiblichen Krise als Resultat der durch den Krieg hervorgerufenen Erschöpfung und des Chaos erschien — mit vollem Rechte — als die gefährlichste Zeit für die Bourgeoisie. Tatsächlich waren die vom Krieg heimgesuchten Länder im Laufe der darauffolgenden zwei Jahre der Schauplatz mächtiger Bewegungen des Proletariats.

Eine der Hauptursachen, dass die Bourgeoisie nichtsdestoweniger ihre herrschende Stellung behauptete, war die Tatsache, dass wenige Monate nach dem Kriege nicht die unausbleiblich scheinende Krise, sondern wirtschaftlicher Aufschwung eintrat. Er währte ungefähr eineinhalb Jahre. Die Industrie verschlang die demobilisierten Arbeiter nahezu vollständig. Obwohl der Arbeitslohn den Aufstieg der Preise der Gebrauchsgegenstände im Allgemeinen nicht einholen konnte, stieg er doch fortgesetzt und schuf so eine Fata Morgana wirtschaftlicher Errungenschaften.

Gerade die Hochkonjunktur in den Jahren 1919/20, die die akute Liquidierungsperiode der Nachkriegszeit milderte, förderte das Selbstvertrauen der Bourgeoisie außerordentlich und warf die Frage des Ausbruches einer neuen organischen Periode der kapitalistischen Entwicklung auf.

Indessen war aber der Aufschwung der Jahre 1919/20 seinem Wesen nach nicht der Beginn der Wiederherstellung der kapitalistischen Wirtschaft nach dem Kriege, sondern nur die Fortdauer der Scheinblüte der durch den Krieg geschaffenen Prosperität.

6. Der imperialistische Krieg brach in einer Periode aus, in der die Krise, die auch damals (1913) von Amerika ausging, Europa zu überziehen begann. Die normale Entwicklung des Industriezyklus wurde durch den Krieg unterbrochen, der selbst zu einem der mächtigsten wirtschaftlichen Faktoren wurde. Der Krieg schuf einen nahezu unbegrenzten Markt für die Hauptzweige der Industrie, die gegen jegliche Konkurrenz vollständig geschützt waren. Er war ein kräftiger Käufer, der niemals genug bekam. Die Produktion der Produktionsmittel wurde durch die Produktion von Vernichtungsmitteln ersetzt. Die Gegenstände des persönlichen Gebrauches wurden zu immer höheren Preisen durch Millionen von Menschen verbraucht, die nicht erzeugten, sondern zerstörten. Dieser Prozess bedeutete den Ruin. Infolge der bis ins Ungeheure gesteigerten Gegensätze der kapitalistischen Gesellschaft nahm er aber das Aussehen und die Form der Bereicherung an. Der Staat emittierte eine Anleihe nach der anderen, überschwemmte den Markt mit Papiergeld und ging von der Rechnung nach Millionen in die nach Milliarden über. Maschinen und Bauten wurden abgenützt und nicht wieder erneuert. Der Boden wurde schlecht bestellt. Wichtige Bauarbeiten in den Städten und an den Verkehrswegen wurden eingestellt. Gleichzeitig stieg die Summe der Staatspapiere, der Banknoten, Schatzscheine und Fonds unaufhörlich. Das fiktive Kapital wuchs in dem Ausmaße, in dem das Produktionskapital zerstört wurde. Aus einem Mittel des Warenumsatzes wurde das Kreditsystem zu einem Mittel der Mobilisierung des Nationalvermögens für Kriegszwecke; auch die künftigen Geschlechter wurden belastet.

Aus Furcht vor der katastrophalen Gefahr der Krise verfuhr der kapitalistische Staat nach dem Kriege genau so, wie während desselben: neue Emissionen, neue Anleihen, Regulierung der wichtigsten Preise, Garantie des Gewinnes, Brotzuschlag und andere Arten staatlicher Subsidien zum Gehalt und Arbeitslohn, außer dem noch Kriegszensur und Militärdiktatur.

7. Gleichzeitig ermöglichte die Beendigung der Kriegsoperationen und die Wiederherstellung, wenn auch beschränkter internationaler Beziehungen die Nachfrage nach den verschiedenartigsten Waren in allen Teilen der Welt. Der Krieg ließ große Massen unverbrauchter Güter zurück. Geldsummen, die in den Händen der Lieferanten und Spekulanten waren, wurden dort angelegt, wo sie im gegebenen Augenblick den höchsten Profit verhießen. Daher der fieberhafte Aufschwung des Handels, während sich die industrielle Produktion — bei ungeheurem Anwachsen der Preise und fantastischen Dividenden — in keinem ihrer Hauptzweige dem Niveau der Vorkriegszeit näherte.

8. Um den Preis weiterer organischer Zerrüttung des Wirtschaftssystems (Anwachsen des fiktiven Kapitals, Sinken der Währungen, Spekulation an Stelle der Heilung wirtschaftlicher Wunden) gelang es den bürgerlichen Regierungen, gemeinsam mit den Bankkonzernen und Industrietrusts, den Beginn der wirtschaftlichen Krise bis zu dem Moment hinauszuziehen, als die politische Krise, hervorgerufen durch die Demobilisierung und die erste Abschätzung der Kriegsfolgen schon abzuflauen begann. Die Bourgeoisie, die eine Atempause erhielt, bildete sich ein, die Gefahr der Krise sei auf unbeschränkt lange Zeit verschoben. Es zeigte sich ein außerordentlicher Optimismus. Es schien, dass die Notwendigkeit der Wiederherstellung eine langjährige Epoche des Aufblühens der Industrie, des Handels und besonders der Spekulation eröffnen werde. Das Jahr 1920 vernichtete jedoch diese Hoffnungen.

Im März 1920 begann die Krise als Finanz-, dann als Handels- und schließlich als Industriekrise und zwar zunächst in Japan, im April in den Vereinigten Staaten (schon im Januar begann ein schwaches Sinken der Preise), ging dann auf England, Frankreich und Italien (im April) und auf die neutralen Staaten Europas über, zeigte sich in schwächerer Form in Deutschland, und erstreckte sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1920 auf die ganze, in die kapitalistische Entwicklung einbezogene Welt.

9. Auf diese Weise ist die Krise des Jahres 1920 — und das ist einer der wichtigsten Umstände zur richtigen Erfassung der Weltlage — nicht eine gewöhnliche Etappe des “normalen” Industriezyklus, sondern eine tief fundierte Reaktion gegen den auf Ruin und Erschöpfung begründeten fiktiven Aufschwung der Kriegszeit und der zwei Jahre der Nachkriegszeit.

Die normale Aufeinanderfolge von Aufschwung und Krise ging auf der aufsteigenden Kurve der industriellen Entwicklung vor sich. In den letzten sieben Jahren hat sich die Produktion Europas nicht gehoben, sondern sie ist vielmehr bedeutend gefallen.

Die Zerstörung des Fundaments der Wirtschaft muss auch innere Konsolidation im ganzen Oberbau zeigen. Die Wirtschaft Europas wird sich im Laufe der nächsten Jahre einschränken und einengen müssen, um eine gewisse innere Koordination erreichen zu können. Die Entwicklungskurve der Produktionskräfte wird von ihrer jetzigen fiktiven Höhe herabsteigen. Ein Aufschwung kann in solchem Falle nur kurzfristigen, hauptsächlich spekulativen Charakter tragen. Die Krisen müssen lang und schwer sein. Die jetzige Krise in Europa ist eine Krise der Unterproduktion. Dies ist die Reaktion der Verarmung gegenüber dem Bestreben, zu erzeugen, zu handeln und auf dem früheren großen kapitalistischen Fuße zu leben.

10. England ist jenes Land Europas, das wirtschaftlich am stärksten ist und am wenigsten durch den Krieg gelitten hat. Trotzdem kann auch hier von der Wiederherstellung des kapitalistischen Gleichgewichtes nach dem Kriege nicht die Rede sein. England erreichte zwar nach dem Kriege infolge seiner allumfassenden Organisation und seiner Stellung als Sieger gewisse Erfolge auf dem Gebiete des Handels und der Finanzen: es verbesserte seine Handelsbilanz, es hob den Kurs des Pfundes Sterling und erzielte einen fiktiven Rechnungsüberschuss im Budget. Die Industrie aber zeigte in England nach dem Kriege einen Rückgang, keinen Fortschritt. Sowohl die Produktivität der Arbeit als auch das Nationaleinkommen ist bedeutend niedriger als vor dem Krieg. Die Lage des Hauptindustriezweiges, der Kohlenindustrie, verschlechtert sich immer mehr und reißt auch andere Industriezweige mit. Die andauernde Streikbewegung ist nicht die Ursache, sondern die Folgeerscheinung des Rückganges der englischen Wirtschaft.

11. Frankreich, Belgien, Italien sind durch den Krieg wirtschaftlich unheilbar zerrüttet. Der Versuch, die Wirtschaft Frankreichs auf Kosten Deutschlands wiederherzustellen, ist roher Raub im Bunde mit diplomatischer Erpressung, bedeutet die weitere Verheerung Deutschlands (Kohle, Maschinen, Vieh, Gold), ohne Frankreich zu retten. Die Gesamtwirtschaft Kontinentaleuropas wird durch diesen Versuch schwer geschädigt; Frankreich erhält viel weniger, als Deutschland verliert, obwohl die Bauern Frankreichs mit Überanstrengung ihrer Kräfte große Teile des verwüsteten Gebietes der Landwirtschaft wiedererobert haben; obwohl gewisse Industrien (chemische Kriegsindustrien) während des Krieges sich neu entwickelten, steuert Frankreich dem wirtschaftlichen Ruin entgegen. Die Staatsschulden und staatlichen Ausgaben (Militarismus) haben eine unerträgliche Höhe erreicht. Am Ende des letzten Aufschwunges war die französische Währung um 60 % ihres Wertes gesunken. Die Wiederaufrichtung der französischen Wirtschaft wird durch die schweren Verluste an Menschenleben im Kriege — welche bei der ohnehin stagnierenden Bevölkerungszunahme nicht wettgemacht werden können — gehindert. Ähnlich steht es mit gewissen Abweichungen um die Wirtschaft Italiens und Belgiens.

12. Der illusorische Charakter des Aufschwunges ist am besten in Deutschland wahrzunehmen. Während die Preise in anderthalb Jahren um das siebenfache stiegen, dauerte das Sinken der Produktivität des Landes ununterbrochen an. Die scheinbar erfolgreiche Teilnahme an dem internationalen Warenaustausche nach dem Kriege muss Deutschland doppelt schwer bezahlen: durch die Vergeudung des nationalen Kapitals, durch Zerstörung des Produktions-, Transport- und Kreditapparats und durch das weitere Sinken des Lebensniveaus der Arbeiterklasse. Die Gewinne der deutschen Exporteure stellen sich, von der allgemeinen wirtschaftlichen Seite aus betrachtet, als reiner Verlust dar. In der Form des Exportes vollzieht sich nichts anderes, als ein Ausverkauf Deutschlands zu billigen Preisen. Die kapitalistischen Kreise sichern sich einen stetig größeren Teil des immer kleiner werdenden Nationalvermögens. Die deutschen Arbeiter werden zu den Kulis Europas.

13. Wie sich politisch die vermeintliche Selbständigkeit der kleinen neutralen Staaten nur durch den Antagonismus zwischen den Großmächten erhält, so leben diese Staaten auch wirtschaftlich in den Poren des Weltmarktes, dessen Grundcharakter vor dem Kriege durch England, Deutschland, die Vereinigten Staaten und Frankreich bestimmt worden ist. Während des Krieges raffte die Bourgeoisie der kleinen neutralen Länder Europas ungeheure Profite zusammen. Die Verheerung der kriegführenden Staaten Europas zog aber auch die wirtschaftliche Zerrüttung der neutralen Länder nach sich. Ihre Schulden wuchsen, ihre Währung sank. Die Krise versetzte ihnen Schlag auf Schlag.

III. Die Vereinigten Staaten, Japan, die kolonialen Länder und Sowjetrussland.

14. Im Verhältnis zu Europa stellt sich die Entwicklung der Vereinigten Staaten in gewisser Beziehung während des Krieges als gerade entgegengesetzt dar. Die Teilnahme der Vereinigten Staaten am Kriege war dem Wesen nach die eines Lieferanten. Unmittelbar zerstörenden Einfluss übte der Krieg auf sie nicht aus. Sein indirekter zerstörender Einfluss auf das Transportwesen, die Landwirtschaft usw., war bei weitem schwächer als in England, gar nicht zu sprechen von Frankreich oder Deutschland. Andererseits nutzten die Vereinigten Staaten die Ausschaltung oder bedeutende Schwächung der europäischen Konkurrenz im höchsten Ausmaße aus und führten viele wichtige Industriezweige einer für sie selbst unerwarteten Entwicklung zu (Erdöl, Schiffbau, Automobile, Kohle). Nicht nur das amerikanische Erdöl und das amerikanische Getreide, sondern auch die amerikanische Kohle hält jetzt die meisten Länder Europas in Abhängigkeit.

Wenn Amerika vor dem Kriege hauptsächlich Erzeugnisse der Landwirtschaft und Rohstoffe ausführte (mehr als zwei Drittel der Ausfuhr), so exportiert es jetzt hauptsächlich Erzeugnisse der Industrie (60 Prozent der Ausfuhr). Wenn Amerika vor dem Kriege Schuldner war, so wurde es jetzt der Gläubiger der ganzen Welt. Ungefähr die Hälfte des Goldvorrates der Welt hat sich in den Vereinigten Staaten angesammelt, und immer noch fließt Gold hinzu. Vor dem Kriege spielte das Pfund Sterling auf dem Weltmarkte die führende Rolle, jetzt ging diese Rolle auf den Dollar über.

15. Aber auch der amerikanische Kapitalismus ist aus dem Gleichgewichte gebracht. Der starke industrielle Aufschwung Amerikas war durch das merkwürdige Zusammentreffen besonderer Umstände in der Weltlage bedingt: durch die Ausschaltung der europäischen Konkurrenz und hauptsächlich durch die Nachfrage des Kriegsmarktes in Europa. Wenn das zerstörte Europa auch nach dem Kriege nicht in der Lage ist, seine frühere Stellung auf dem Weltmarkte als Konkurrent Amerikas wiederzugewinnen, so kann es andererseits als Markt Amerikas nur einen kleinen Teil seiner früheren Bedeutung haben. Unterdessen wurden aber die Vereinigten Staaten in unvergleichlich größerem Ausmaße als vor dem Kriege ein Exportland. Der im Kriege überentwickelte Produktionsapparat kann wegen Absatzmangel nicht voll ausgenützt werden; einzelne Industrien werden hierdurch zu Saisonindustrien, die den Arbeitern nur in einem Teile des Jahres Arbeitsgelegenheit bieten können. Die Krise in den Vereinigten Staaten ist der Anfang einer tiefgehenden und anhaltenden wirtschaftlichen Zerrüttung als Resultat des europäischen Krieges. Dies ist das Resultat der Zerstörung der früheren weltumfassenden Arbeitsteilung.

16. Japan hat gleichfalls den Krieg zu seiner Ausbreitung auf dem Weltmarkt ausgenützt. Seine Entwicklung, die jedoch unvergleichlich beschränkter ist als jene der Vereinigten Staaten, zeigt in vielen Industriezweigen einen treibhausartigen Charakter. Wenn seine Produktionskräfte beim Mangel von Konkurrenten zur Beherrschung eines Marktes genügten, so erwiesen sie sich als ungenügend zur Behauptung des Marktes im Kampfe mit mächtigeren kapitalistischen Ländern. Daher die scharfe Krise, die gerade von Japan aus ihren Anfang nahm.

17. Die Überseeländer, die Rohstoffe ausführten, darunter auch reine Kolonialländer (die Staaten Südamerikas, Kanada, Australien, China, Indien, Ägypten usw.) nützten ihrerseits den Abbruch der internationalen Beziehungen zur Entwicklung der einheimischen Industrie aus. Die Weltkrise hat auch diese Staaten ergriffen. Die Entwicklung der nationalen Industrie dieser Länder wird andererseits wiederum zur Quelle neuer Handelsschwierigkeiten für England und ganz Europa.

18. Untersuchen wir Produktion, Handel und Kredit, nicht nur in Europa, sondern auf dem ganzen Weltmarkt, so finden wir keinen Grund, eine beginnende Wiederherstellung eines stabilen Gleichgewichtes festzustellen.

Der wirtschaftliche Niedergang Europas dauert an, die Zerrüttung der Grundlagen der europäischen Wirtschaft wird sich aber in vollem Umfange erst in den nächsten Jahren zeigen.

Der Weltmarkt ist zerrüttet. Europa bedarf der Erzeugnisse Amerikas, kann diesem aber keine Tauschwerte geben. Europa leidet an Blutarmut, Amerika an Hypertrophie. Die Goldwährung, das Weltgeld, ist vernichtet. Die Entwertung der Währung europäischen Länder (bis zu 99 Prozent) stellt dem Warenaustausch auf dem Weltmarkte die schwersten Hindernisse entgegen. Die unaufhörlichen jähen Schwankungen der Wechselkurse verwandeln die kapitalistische Produktion in eine wüste Spekulation. Der Weltmarkt bleibt ohne ein allgemeines Äquivalent.

Die Wiederherstellung der Goldwährung in Europa wäre nur durch Vergrößerung der Ausfuhr und durch Verkleinerung der Einfuhr erreichbar. Aber gerade dazu ist das zerstörte Europa nicht imstande, während sich Amerika seinerseits vor der europäischen Schleuderkonkurrenz durch Erhöhung der Einfuhrzölle schützt.

Europa bleibt auch weiterhin ein Irrenhaus. Die meisten Staaten erlassen Aus- und Einfuhrverbote, vervielfältigen ihre Schutzzölle. England führt Schutzzölle ein. Eine Bande von insbesondere französischen Spekulanten, verfügt über den deutschen Export und über das ganze wirtschaftliche Leben Deutschlands. Das frühere österreichisch-ungarische Gebiet wird vor einer Menge von Zollschranken durchzogen. Das Netz der Friedensschlüsse wird immer verwirrter und verwirrter.

19. Die Ausschaltung Sowjetrusslands als Absatzmarkt für Industriewaren und als Lieferant von Rohstoffen hat zur Erschütterung des weltwirtschaftlichen Gleichgewichtes in hohen Maße beigetragen. Die Rückkehr Russlands auf den Weltmarkt ist nicht imstande, in der nächsten Zeit große Veränderungen hervorzurufen. Der kapitalistische Organismus Russlands stand in Bezug auf die Produktionsmittel in engster Abhängigkeit von der Weltindustrie. Diese Abhängigkeit erstreckte sich während des Krieges verstärkt auf die Ententeländer. Die Blockade zerriss mit einem Male diese vitalen Zusammenhänge. Es konnte davon nicht die Rede sein, in einem zerstörten und verwüsteten Lande während der Periode eines dreijährigen Bürgerkrieges neue Industriezweige zu organisieren, ohne welche aber die alten unausbleiblich dem Verfall preisgegeben waren, da sie ihr Inventar immer mehr abnützten. Dazu kam noch die Einberufung von Hunderttausenden der besten, zum größten Teil qualifiziertesten proletarischer Elemente in die Rote Armee. Bei den gegebenen Grundlagen bei der Blockade, den immerwährenden Kämpfen, angesichts des ererbten Ruins — hätte kein anderes Regime das Wirtschaftsleben des Landes aufrechterhalten und die Bedingungen seiner zentralisierten Leitung schaffen können. Es ist unzweifelhaft, dass der Kampf mit dem Weltimperialismus um den Preis des weiteren Sinkens der Produktionskräfte in vielen Wirtschaftszweigen geführt werden musste. Erst jetzt, bei schwächer werdender Blockade und bei Herstellung entsprechender Übergangsformen der Wechselbeziehung zwischen Stadt und Land, erhält die Sowjetmacht die Möglichkeit einer allmählichen und immer zentralisierten Leitung der ökonomischen Hebung des Landes.

IV. Verschärfung der sozialen Widersprüche.

20. Der Krieg, welcher eine in der Geschichte noch nie dagewesene Zerrüttung der Produktionskräfte nach sich zog, hemmte den Prozess der sozialen Differenzierung nicht; im Gegenteil, die Proletarisierung der breiten Zwischenklassen, darunter auch des neuen Mittelstandes (Angestellte, Beamte u. a.), und die Konzentrierung des Eigentums in den Händen kleiner Cliquen (Konzerne, Trusts u. a.) machten in den letzten sieben Jahren ungeheure Fortschritte in jenen Ländern, die am meisten gelitten haben. Die Stinnes-Frage ist zur Hauptfrage des deutschen Wirtschaftslebens geworden.

Die Erhöhung der Preise für alle Waren und der gleichzeitige katastrophale Niedergang der Währung aller kriegführenden europäischen Staaten bedeuteten an und für sich die nochmalige Verteilung des Nationaleinkommens zuungunsten der Arbeiterklasse, Beamten, Angestellten, kleinen Rentiers und überhaupt aller Kategorien mit einem mehr oder weniger fixen Einkommen.

Wenn daher Europa in Bezug auf die materiellen Ressourcen auf Jahrzehnte zurückgeworfen wurde, so zeigt der Prozess der Verschärfung der sozialen Gegensätze keinen Rückschritt; er wurde nicht nur nicht aufgehalten, sondern im Gegenteil, er wurde ganz besonders beschleunigt. Diese grundlegende Tatsache genügt, um jede Hoffnung auf eine dauernde friedliche Entwicklung auf demokratischer Grundlage aufzugeben: die fortschreitende Differenzierung, Stinnesierung einerseits, Proletarisierung und Pauperisierung andererseits, auf Grund des ökonomischen Niederganges verursacht einen anstrengenden, konvulsivischen, erbitterten Charakter des Klassenkampfes. Die gegenwärtige Krise setzt in dieser Hinsicht bloß die Arbeit des Krieges und der spekulativen Nachkriegskonjunktur fort.

21 Die Steigerung der Preise der landwirtschaftlichen Produkte brachte bei einem allgemeinen Schein der Bereicherung des Dorfes den reichen Bauern einen wirklichen Zuwachs an Einkommen und Vermögen. Den Bauern gelang es, mit entwertetem Papiergeld, welches sich in großen Mengen bei ihnen ansammelte, jene Schulden zu bezahlen, welche sie in vollwertigem Geld gemacht hatten. Aber die Landwirtschaft pflegt sich nicht nur mit der Lösung der Hypotheken zu befassen. Trotz der gewaltigen Erhöhung der Bodenpreise, trotz der skrupellosen Ausnutzung des Lebensmittelmonopols, trotz der Bereicherung der Großgrundbesitzer und Großbauern ist der Rückgang der Landwirtschaft Europas unverkennbar: vielfacher Rückgang in extensivere Wirtschaftsformen, Verwandlung von Ackerland in Weide, viehlose Wirtschaft, Dreifelderwirtschaft. Verursacht wurde auch dieser Rückgang durch den Mangel an Arbeitskraft, den Rückgang des Viehstandes, das Fehlen der künstlichen Düngung, die Teuerung der Industrieartikel und in Mittel- und Osteuropa infolge planmäßiger Einschränkung der Produktion als Reaktion gegen den Versuch der Staatsgewalt, die Verfügung über die landwirtschaftlichen Produkte an sich zu reißen. Die Groß- und zum Teil auch Mittelbauern schaffen sich feste politische und wirtschaftliche Organisationen, um sich gegen die Lasten des Wiederaufbaues zu wehren und benutzen die bedrängte Lage der Bourgeoisie, um als Preis ihrer Unterstützung gegen das Proletariat dem Staate eine einseitig bäuerliche Zoll- und Steuerpolitik zu diktieren, wodurch sie den kapitalistischen Wiederaufbau hemmen. Es entsteht ein Zwiespalt zwischen der Dorf- und Stadtbourgeoisie, welcher die Kraft der bürgerlichen Klasse schwächt.

Gleichzeitig wird ein großer Teil der ärmeren Bauern proletarisiert und pauperisiert, das Dorf wird zu einem Herde der Unzufriedenheit, das Klassenbewusstsein des Landproletariats erstarkt.

Andererseits aber rief die allgemeine Verelendung Europas, welche es unfähig macht, in genügender Menge amerikanisches Getreide zu kaufen, eine schwere Krise der Farmwirtschaft jenseits des Ozeans hervor. Wir bemerken einen Verfall der Wirtschaft der Bauern und der kleineren Farmer nicht nur in Europa, sondern auch in den Vereinigten Staaten, Kanada, Argentinien, Australien und Südafrika.

22. Die Lage der Staats- und Privatangestellten verschlimmerte sich in der Regel infolge des Rückganges der Kaufkraft des Geldes stärker als die Lage des Proletariats. Die aus den festen Lebensbedingungen hinausgeschleuderte niedere und mittlere Beamtenschaft wird zu einem Element der politischen Unruhe und untergräbt die Festigkeit des Staatsapparates, dem sie dient. Der neue Mittelstand, welcher laut dem Urteil der Reformisten die Stütze des Konservatismus bilden sollte, kann in der Übergangsepoche eher als ein revolutionärer Faktor gelten.

23. Das kapitalistische Europa verlor endgültig seine ökonomische Vormachtstellung. Und doch beruhte auf ihr das Gleichgewicht der Klassen in Europa. Die Anstrengungen der europäischen Staaten (Englands, zum Teil Frankreichs), die frühere Lage wiederherzustellen, verstärken nur das Chaos und die Unsicherheit.

24. Während sich in Europa die Konzentration des Vermögens auf Grund der allgemeinen Verarmung durchsetzte, erreichte die Konzentration und die Verschärfung der Klassengegensätze in den Vereinigten Staaten auf Grund der fieberhaften kapitalistischen Bereicherung eine gewaltige Höhe. Die starken Veränderungen der Konjunktur infolge der allgemeinen Unsicherheit des Weltmarktes geben dem Klassenkampfe auf amerikanischem Boden einen äußerst gespannten und revolutionären Charakter. Der Periode des in der Geschichte noch nie dagewesenen kapitalistischen Aufschwunges muss ein außerordentliches Aufflammen des revolutionären Kampfes folgen.

25. Die Emigration der Arbeiter und Bauern über den Ozean diente dem kapitalistischen Regime in Europa immer als Sicherheitsventil. Sie nahm zu in den Epochen andauernder Depression und nach zusammengebrochenen revolutionären Bewegungen. Jetzt aber stellen Amerika und Australien der Einwanderung immer größere Hindernisse in den Weg. Das Sicherheitsventil der Emigration ist verschlossen.

26. Die energische Entwicklung des Kapitalismus im Osten, besonders in Indien und China, schuf dort neue soziale Grundlagen für einen revolutionären Kampf. Die Bourgeoisie dieser Länder schloss sich eng an das ausländische Kapital an und wurde so selbst ein wichtiges Werkzeug in dessen Händen. Ihr Kampf gegen den ausländischen Imperialismus — der Kampf eines sehr schwachen Konkurrenten — zeigt seinem Wesen nach einen zwiespältigen und schwächlichen Charakter. Auch die Entwicklung des einheimischen Proletariats paralysiert die national-revolutionären Tendenzen der kapitalistischen Bourgeoisie. Gleichzeitig aber erhalten die zahlreichen Bauernmassen im kommunistischen Vortrupp des Proletariats ihre revolutionäre Führung.

Das Zusammentreffen der national-militärischen Unterdrückung des ausländischen Imperialismus, der kapitalistischen Ausbeutung seitens der ausländischen und eigenen Bourgeoisie und der Überbleibsel der feudalen Knechtschaft schafft gute Bedingungen, in denen das junge Proletariat der Kolonien sich rasch entwickeln muss und an die Spitze der revolutionären Bewegung der breiten Bauernmassen treten wird.

Die revolutionäre Volksbewegung in Indien und den anderen Kolonien ist jetzt ein ebenso wesentlicher Teil der Weltrevolution geworden, wie der Aufstand des Proletariats in den kapitalistischen Ländern der alten und neuen Welt.

V. Die internationalen Beziehungen.

27. Die allgemeine Lage der Weltwirtschaft — vor allem der Verfall Europas — bedingt längere Perioden großer wirtschaftlicher Schwierigkeiten und Erschütterungen, allgemeine und partielle Krisen. Die internationalen Verhältnisse gestalten als Resultat des Krieges und des Friedens von Versailles die Lage noch schwieriger.

Wenn der Imperialismus aus dem Drange der Produktionskräfte entstand, die nationalen Grenzen zu vernichten und ein einheitliches europäisches und weltwirtschaftliches Gebiet zu schaffen, so war das Resultat des Zusammenstoßes der feindlichen imperialistischen Kräfte die Schaffung einer Reihe neuer Grenzen in Zentral- und Osteuropa mit neuen Zollämtern und neuen Armeen. In staatlich-ökonomischer Hinsicht ist Europa in das Mittelalter zurückgeworfen.

Auf dem entkräfteten und verwüsteten Boden wird derzeit eine Armee ernährt, welche anderthalbmal so groß ist wie die Armee vom Jahre 1914, zur Zeit des Höhepunktes des bewaffneten Friedens.

28. Die auf dem europäischen Kontinente führende Politik Frankreichs setzt sich aus zwei Tendenzen zusammen: der blinden Wut eines Wucherers, der bereit ist, seinen zahlungsunfähigen Schuldner zu erwürgen, und der Habgier der räuberischen Schwerindustrie, welche — mit Hilfe der Kohlenbecken des Saar- und Ruhrgebietes sowie Oberschlesiens — an Stelle des bankrotten Finanzimperialismus die Vorbedingungen für den industriellen Imperialismus schaffen will.

Die zweite Tendenz richtet sich aber gegen England. Die Politik Englands besteht in der Trennung der deutschen Kohle vom französischen Erz, deren Vereinigung eine der wichtigsten Bedingungen für den Wiederaufbau Europas bildet.

29. Das Britische Reich scheint jetzt auf dem Höhepunkt seiner Macht zu stehen. Es behielt die alten Besitzungen und erwarb neue. Aber gerade die Gegenwart zeigt, dass die herrschende Stellung Englands in der Welt im Widerspruch steht zu seinem faktischen ökonomischen Rückgang. Deutschland mit seinem in technischer und organisatorischer Hinsicht unvergleichlich fortgeschrittenerem Kapitalismus ist durch Waffengewalt niedergeworfen. Aber in den Vereinigten Staaten, die sich beide Teile Amerikas wirtschaftlich unterworfen haben, erhob sich ein siegreicher Feind, gefährlicher als Deutschland. Infolge der besseren Organisation und Technik ist die Produktivität der Arbeit in der Industrie der Vereinigten Staaten bedeutend höher als in England. In den Vereinigten Staaten beträgt die Ausbeute an Petroleum 65 bis 70 Prozent des Weltverbrauchs, vom Erdöl aber hängen die Automobil- und Traktoren-Wirtschaft, die Flotte und die Luftfahrt ab. Das ein Jahrhundert alte Monopol Englands auf dem Kohlenmarkte ist endgültig gebrochen. Amerika hat den ersten Platz erobert, sein Export nach Europa wächst bedrohlich an. In der Handelsschifffahrt hat Amerika England fast eingeholt. Die Vereinigten Staaten wollen das Kabelmonopol Englands nicht länger dulden. In der Industrie ging England zur Verteidigung über, und unter dem Vorwande des Kampfes gegen die deutsche Schleuderkonkurrenz wappnet es sich mit Schutzzöllen gegen die Vereinigten Staaten. Während die englische Kriegsflotte, die einen großen Prozentsatz veralteter Einheiten besitzt, in der Entwicklung stockt, hat die Harding-Regierung Wilsons Schiffbauprogramm übernommen, das im Laufe der nächsten zwei bis drei Jahre das Übergewicht der amerikanischen Flagge sichern wird.

So wird England, trotz seines Sieges über Deutschland, entweder automatisch zurückgedrängt und ein Staat zweiten Ranges, — oder es wird gezwungen, schon in nächster Zeit die in früheren Jahren erworbene Kraft in einem Kampfe auf Leben und Tod mit den Vereinigten Staaten zu erproben.

Gerade deshalb festigt England seinen Bund mit Japan und bemüht sich, durch Zugeständnisse die Hilfe Frankreichs oder wenigstens dessen Neutralität zu sichern.

Dass Frankreichs internationale Bedeutung in Europa während des letzten Jahres gestiegen ist, beruht nicht auf der Erstarkung Frankreichs, sondern auf der Schwächung Englands.

Die Kapitulation Deutschlands im Monat Mai in der Kontributionsfrage bedeutet dennoch einen zeitweiligen Sieg Englands und verbürgt ihm den weiteren wirtschaftlichen Verfall Zentraleuropas, ohne jedoch die Besetzung des Ruhrgebietes durch Frankreich in der allernächsten Zeit auszuschließen.

30. Der Antagonismus Japans und der Vereinigten Staaten, zeitweilig durch ihre Teilnahme am Kriege gegen Deutschland verschleiert, entwickelt sich jetzt mit voller Wucht. Japan rückte durch den Krieg näher an die amerikanische Küste heran, indem es sich strategisch wichtige Inseln im Stillen Ozean sicherte.

Die Krise der sich schnell entwickelnden japanischen Industrie verschärfte von neuem das Emigrationsproblem: das dichtbevölkerte, an Naturschätzen arme Japan ist gezwungen, entweder Waren oder Menschen zu exportieren. Auf beiden Wegen stößt es mit den Vereinigten Staaten zusammen: in Kalifornien, in China und an dem Inselchen Jap.

Mehr als die Hälfte seines Budgets verausgabt Japan für die Armee und die Flotte. Im Kampfe Englands und Amerikas wird Japan zur See jene Rolle spielen müssen, welche Frankreich zu Lande im Kriege mit Deutschland zufiel. Wenn Japan derzeit den Antagonismus zwischen England und Amerika ausnützt, so wird der endgültige Kampf dieser Giganten um die Weltherrschaft sich auf dem Rücken Japans abspielen.

31. Der letzte große Krieg war, was seine Ursachen und Hauptteilnehmer anbelangt, ein europäischer Krieg. Der Schwerpunkt des Kampfes war der Antagonismus Englands und Deutschlands. Der Eintritt der Vereinigten Staaten erweiterte bloß den Rahmen des Kampfes, aber seine Hauptrichtung blieb dieselbe: der europäische Konflikt wurde mit den Mitteln der ganzen Welt gelöst. Der Krieg, welcher auf seine Art die Gegensätze zwischen England und Deutschland und damit auch jene zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland ausglich, löste nicht nur die Frage über das gegenseitige Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und England nicht, sondern stellte sie zum ersten Male als Grundfrage der Weltpolitik. Er drückte die Frage über die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Japan zu einer Frage zweiten Ranges herab. Der letzte Krieg war daher das europäische Vorwort zum eigentlichen Weltkrieg, zur Lösung der Frage über die imperialistische Vorherrschaft.

32. Aber dies ist bloß eine der Achsen der Weltpolitik. Wir haben eine zweite Achse. Die russische Sowjetföderation und die III. Internationale entstanden als Resultat des letzten Krieges. Die Gruppierung der internationalen revolutionären Kräfte ist grundsätzlich gegen alle imperialistischen Gruppierungen gerichtet. Die Aufrechterhaltung des Bündnisses zwischen England und Frankreich oder dessen Bruch sind, vom Gesichtspunkte der Interessen des Proletariats und der Sicherstellung des Friedens aus betrachtet, von derselben Natur, wie die Erneuerung oder Nichterneuerung des englisch-japanischen Abkommens, wie der Eintritt oder Nichteintritt der Vereinigten Staaten in den Völkerbund: das Proletariat kann in den vorübergehenden trügerischen, räuberischen und treulosen Gruppierungen der kapitalistischen Staaten — deren Politik sich immer mehr um den englisch-amerikanischen Antagonismus dreht, ihn schürt und einen blutigen Ausbruch vorbereitet — keine Garantien sehen.

Der Abschluss der Friedensverträge und Handelsabkommen zwischen einigen kapitalistischen Ländern und Sowjetrussland bedeutet nicht, dass die Weltbourgeoisie den Gedanken der Zerstörung der Sowjetrepublik aufgegeben hätte. Es ist vielleicht nur eine vorübergehende Veränderung der Methoden und Formen des Kampfes eingetreten. Der japanische Umsturz im fernen Osten bedeutet vielleicht schon den Beginn einer neuen Epoche bewaffneter Interventionen.

Es ist vollkommen klar, dass, je langsamer sich die revolutionäre Bewegung des Weltproletariats entwickelt, die internationalen wirtschaftlichen und politischen Gegensätze um so unvermeidlicher die Bourgeoisie zwingen werden, eine neue blutige Entscheidung im Weltmaßstabe zu versuchen. In diesem Falle müsste die “Wiederherstellung des kapitalistischen Gleichgewichtes” nach dem neuen Kriege angesichts einer derartigen wirtschaftlichen Verarmung und kulturellen Verwilderung versucht werden, im Vergleich zu dem die gegenwärtige Lage Europas als der reine Wohlstand gelten könnte.

33. Obwohl die Erfahrung des letzten Krieges mit fürchterlicher Deutlichkeit bewies, dass der Krieg eine falsche Rechnung ist — diese Wahrheit anerkennen sowohl die Bourgeoisie als auch die sozialistischen Pazifisten — ist die ökonomische, politische, geistige und technische Vorbereitung zu dem neuen Kriege in der ganzen politischen Welt in vollem Gange. Der humanitäre antirevolutionäre Pazifismus ist eigentlich ein Helfer des Militarismus.

Die Sozialdemokraten aller Schattierungen und die Gewerkschaftler von Amsterdam, welche dem internationalen Proletariat einreden, sich denjenigen ökonomischen, völkerrechtlich-staatlichen Normen anzupassen, welche infolge des Krieges sich ergeben haben, sind damit die unersetzbaren Helfershelfer der imperialistischen Bourgeoisie in der Vorbereitung des neuen Krieges, welcher die menschliche Zivilisation endgültig zu vernichten droht.

VI. Die Arbeiterklasse nach dem Kriege.

34. Die Frage des Wiederaufbaus des Kapitalismus auf den oben geschilderten Grundlagen bedeutet im Wesen folgendes: Wird die Arbeiterklasse unter den neuen, unvergleichlich schwereren Verhältnissen die Opfer bringen wollen, die nötig sind, um die stabilen Bedingungen ihrer eigenen Sklaverei, einer konzentrierteren und grausameren als derjenigen, die vor dem Kriege herrschte, wieder herzustellen?

Zum Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft wäre ein Ersatz des im Kriege zerstörten Produktionsapparates, eine starke Neubildung von Kapital nötig. Dies wäre nur möglich, wenn das Proletariat geneigt wäre, bei stark herabgeminderter Lebenshaltung mehr zu arbeiten. Dies fordern die Kapitalisten, hierzu raten ihm die verräterischen Führer der gelben Internationalen: erst den Kapitalismus neu erbauen helfen, dann um die Verbesserung der Lage der Arbeiter kämpfen. Aber das Proletariat Europas ist zu diesem Opfer nicht bereit; es fordert eine Erhöhung seines Standards, was gegenwärtig mit den objektiven Möglichkeiten innerhalb des Kapitalismus in schärfstem Widerspruch steht. Daher die nie endenden Streiks und Aufstände, die Unmöglichkeit der Wiederaufrichtung der Wirtschaft in Europa. Die Währung wieder herzustellen heißt für viele europäischen Staaten (Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Ungarn, Polen, die Balkanstaaten) vor allem, sich der unerträglichen Verpflichtungen zu entledigen, d. h. den Bankrott erklären: dies bedeutet aber den Kampf aller Klassen um eine neue Verteilung des nationalen Einkommens mächtig anzufachen. Die Währung wieder herzustellen heißt weiter die Staatsausgaben auf Kosten der Massen einzuschränken (Verzicht auf die Regelung des Arbeitslohnes und der Preise der Güter des Massenkonsums), den billigeren ausländischen Erzeugnissen des Massenkonsum den Zugang zu verschließen und die Ausfuhr durch Herabsetzung der Produktionskosten zu erhöhen, d. h. in erster Linie wiederum durch Verschärfung der Ausbeutung der Arbeitermassen. Jede ernsthafte Maßnahme zur Wiederherstellung des kapitalistischen Gleichgewichts zerrüttet noch mehr das ohnehin schon gestörte Klassengleichgewicht, ist eine neue Triebfeder für den revolutionären Kampf. Die Frage, ob der Kapitalismus zu neuem Leben erstehen kann, wird daher zu einer Frage des Kampfes lebendiger Kräfte: der Klassen und der Parteien. Wenn von den beiden grundlegenden Klassen — Bourgeoisie und Proletariat — das letztere den revolutionären Kampf aufgeben sollte, so würde die Bourgeoisie ohne Zweifel letzten Endes ein neues kapitalistisches Gleichgewicht — das Gleichgewicht des materiellen und geistigen Verfalls — finden, durch neue Krisen, neue Kriege, weitere Verarmung ganzer Länder, weiteres Aussterben von Millionen von werktätigen Massen.

Zu einer derartigen Prognose aber gibt die gesamte Verfassung des internationalen Proletariats absolut keine Veranlassung.

35. Die Elemente der Trägheit, des Konservatismus, der Tradition, die im materiellen Aufbau der Gesellschaft zermürbt wurden, haben einen großen Teil ihrer Gewalt auch über das Bewusstsein der werktätigen Massen verloren. Haben auch die Sozialdemokratie und die Trade-Unions dank ihrer von der Vergangenheit geerbten Organisationsmaschine ihren Einfluss auf einen bedeutenden Teil des Proletariats noch bewahrt, so ist er doch bereits stark untergraben. Der Krieg hat nicht nur in der Stimmung. sondern auch im Bestand des Proletariats große Veränderungen hervorgerufen, die mit dem gemächlichen organisatorischen Weiterschreiten der Vorkriegszeit vollständig unvereinbar sind.

An der Spitze des Proletariats nimmt in den meisten Ländern noch immer die außerordentlich angewachsene Arbeiterbürokratie die vorherrschende Stellung ein, die, eng zusammengeschweißt, ihre Herrschaftsmethoden und -gewohnheiten ausgearbeitet hat und durch tausend Fäden mit den Institutionen und Organen des kapitalistischen Staates verbunden ist.

Ihr folgt der besser gestellte Teil der Arbeiter in der Produktion selbst, der Verwaltungsposten einnimmt oder einzunehmen gedenkt und die treueste Stütze der Arbeiterbürokratie ist;

weiter die ältere Generation der Sozialdemokraten und der Gewerkschaftler, hauptsächlich der qualifizierten Arbeiter, die mit ihrer Organisation durch jahrzehntelangen Kampf verbunden sind und sich nicht entschließen können, mit ihr — trotz ihres Verrats — zu brechen. Die qualifizierten Arbeiter jedoch sind in vielen Betrieben schon stark zurückgedrängt durch die unqualifizierten, in hohem Grade durch Frauen;

die Millionen Arbeiter, die die Schule des Krieges unmittelbar durchgemacht haben, die gewohnt sind mit der Waffe umzugehen und größtenteils bereit sind, sie gegen den Klassenfeind zu gebrauchen — aber unter der Bedingung der ernsten Vorbereitung und der festen Führung als unerlässliche Voraussetzungen des Erfolges;

die Millionen der neuen. während des Krieges von der Industrie herangezogenen Arbeiter und besonders Arbeiterinnen, die in das Proletariat nicht nur kleinbürgerliche Vorurteile, sondern auch ihre ungeduldigen Ansprüche auf bessere Lebensbedingungen hineingebracht haben;

die Millionen der jungen Arbeiter und Arbeiterinnen, die sich unter dem Donner und Blitz des Krieges und der Revolution erhoben haben, die für die Lehre des Kommunismus am empfänglichsten sind und die von Tatendrang brennen;

die gewaltige Armee der Arbeitslosen, die zum Teil deklassiert und halbdeklassiert, in ihrer Flut und Ebbe am grellsten den Prozess des Verfalls der kapitalistischen Wirtschaft widerspiegeln und eine beständige Drohung für die bürgerliche Ordnung bilden.

Diese in Bezug auf Herkunft und Charakter so verschiedenen Schichten des Proletariats wurden und werden nicht gleichzeitig und gleichartig in die nach dem Kriege einsetzende Bewegung hineingezogen. Hieraus folgen Schwankungen, Ebbe und Flut, Angriff und Rückzug im revolutionären Kampfe. Aber in ihrer erdrückenden Mehrzahl wird die proletarische Masse schnell zusammengeschweißt durch das Scheitern aller alten Illusionen, die fürchterliche Unsicherheit der Existenz, die Allgewalt des zu Trusten vereinigten Kapitals und durch die blutigen Methoden des militarisierten Staates. Diese viele Millionen zählende Masse hat eine feste, klare Führung, ein klares Aktionsprogramm und schafft dadurch den Boden für die entscheidende Rolle der fest geschlossenen, zentralisierten Kommunistischen Partei.

36. Die Lage der Arbeiterklasse hat sich während des Krieges zweifellos verschlechtert. Bloß einzelne Gruppen von Arbeitern kamen empor. Solchen Familien, in denen mehrere Mitglieder während des Krieges Verdienstmöglichkeiten hatten, gelang es, ihr Lebensniveau festzuhalten oder sogar zu erhöhen. Im Allgemeinen aber hielten die Arbeitslöhne mit der Teuerung nicht Schritt.

In Mitteleuropa war das Proletariat seit Kriegsbeginn zu immer größeren Entbehrungen verurteilt. In den Kontinentalländern der Entente machte sich das Sinken der Lebenshaltung bis zur letzten Zeit weniger bemerkbar. In England hielt das Proletariat in der letzten Periode des Krieges durch einen energischen Kampf den Prozess der Verschlechterung seiner Lebensbedingungen auf. In den Vereinigten Staaten verbesserte sich die Lage einiger Schichten der Arbeiterschaft; einige Schichten behielten ihren alten Standard oder erlitten eine Verschlechterung ihrer Lebenslage.

Die Krise traf das Proletariat der ganzen Welt mit ungeheurer Stärke. Der Arbeitslohn sank stärker als die Preise. Die Zahl der Arbeitslosen und Kurzarbeiter erreichte eine in der Geschichte des Kapitalismus noch nie dagewesene Höhe.

Schroffe Veränderungen in den persönlichen Lebensverhältnissen haben nicht nur einen hemmenden Einfluss auf die Produktivität der Arbeit, sondern schließen auch die Möglichkeit der Herstellung des Klassengleichgewichtes auf dem wichtigsten Gebiete — der Produktion — aus. Die Unbeständigkeit der Lebensverhältnisse, die die allgemeine Unbeständigkeit der National- und Weltwirtschaftsbedingungen widerspiegeln, ist jetzt einer der wichtigsten revolutionären Entwicklungsfaktoren.

VII. Perspektiven und Aufgaben.

37. Der Krieg endete nicht unmittelbar mit einer proletarischen Revolution. Diese Tatsache betrachtet die Bourgeoisie mit gewissem Rechte als ihren großen Sieg. Nur kleinbürgerliche Verständnislosigkeit kann aber in der Tatsache, dass das europäische Proletariat die Bourgeoisie nicht während des Krieges oder gleich nach Kriegsende stürzte, einen Bankrott des Programms der Kommunistischen Internationale sehen. Der Kurs der Kommunistischen Internationale ist nicht eingestellt auf den Eintritt der proletarischen Revolution zu einem dogmatisch vorherbestimmten Kalenderdatum oder auf die Absicht, die Revolution in einer bestimmten Frist mechanisch durchzuführen. Die Revolution war und ist ein Kampf der lebendigen Kräfte auf gegebenen historischen Grundlagen. Die Störung des kapitalistischen Gleichgewichts in der ganzen Welt durch den Krieg schafft günstige Kampfbedingungen für die Kraft der sozialen Revolution. Alle Anstrengungen der Kommunistischen Internationale waren und sind darauf gerichtet, diese Lage vollkommen auszunützen.

Der Gegensatz zwischen der Kommunistischen Internationale und der Sozialdemokratie beider Gruppierungen besteht nicht darin, dass wir die Revolution etwa auf einen bestimmten Termin festgelegt hätten, während sie den Utopismus und Putschismus ablehnen. Der Gegensatz besteht darin, dass die Sozialdemokraten der tatsächlichen Entwicklung der Revolution entgegenwirken, indem sie sowohl in der Regierung wie in der Opposition die Wiederherstellung des Gleichgewichtes im kapitalistischen Staate mit allen Kräften fördern, während die Kommunisten alle Wege, alle Methoden und alle Möglichkeiten dazu ausnutzen, um den kapitalistischen Staat zu stürzen und ihn durch die Diktatur des Proletariats zu vernichten.

Im Laufe von zweieinhalb Jahren nach dem Kriege zeigte das Proletariat verschiedener Länder mehr Energie, Kampfbereitschaft, Selbstaufopferung, als zu einer siegreichen Revolution nötig wären, wenn an der Spitze der Arbeiterschaft eine starke, zentralisierte, aktionsbereite internationale kommunistische Partei stünde. Aber infolge historischer Ursachen stand an der Spitze des Proletariats während des Krieges und unmittelbar nachher die Organisation der II. Internationale, welche ein unschätzbares politisches Instrument in den Händen der Bourgeoisie war und noch derzeit ist.

38. In Deutschland gehörte die Macht Ende 1918 und Anfang 1919 tatsächlich der Arbeiterklasse. Die Sozialdemokraten — die Mehrheitssozialisten, die Unabhängigen und die Gewerkschaften — verwendeten ihren ganzen Apparat, ihren ganzen traditionellen Einfluss dazu, diese Macht der Bourgeoisie in die Hände zu spielen. In Italien schlug die stürmische revolutionäre Bewegung des Proletariats im Laufe von anderthalb Jahren immer mehr über die Ufer, und bloß die kleinbürgerliche Charakterlosigkeit der Sozialistischen Partei, die verräterische Politik der parlamentarischen Fraktion, der feige Opportunismus der Gewerkschaftler gestatteten der Bourgeoisie, ihren Apparat wieder herzustellen, ihre weiße Garde zu mobilisieren und zum Angriff auf das Proletariat überzugehen, das zeitweise infolge des Bankrottes seiner alten führenden Organe entmutigt war.

Die gewaltige Streikbewegung des letzten Jahres in England brach sich wieder und wieder an der rücksichtslos eingesetzten Militärgewalt des Staates und an der hierdurch erreichten Einschüchterung der Führer der Trade-Unions. Wären die Führer der Sache der Arbeiterklasse treu gewesen, so hätte die Maschinerie der Trade-Unions trotz ihrer Defekte zu revolutionären Kämpfen ausgenützt. werden können. Die jüngste Krise der “Triple-Allianz” gab die Möglichkeit einer revolutionären Auseinandersetzung mit der Bourgeoisie, dies wurde durch den Konservatismus, die Feigheit und den Verrat der Gewerkschaftsführer verhindert. Würde die Maschine der englischen Trade-Unions derzeit im Interesse des Sozialismus die Hälfte jener Arbeit leisten, welche sie im Interesse des Kapitals leistet, so würde das englische Proletariat mit der geringsten Zahl an Opfern die Macht an sich reißen und zur planvollen Umgestaltung der Wirtschaft des Landes schreiten können.

Mehr oder weniger gilt das Gesagte für alle kapitalistischen Staaten.

39. Es ist nicht zu bestreiten, dass sich gegenwärtig der offene revolutionäre Kampf der Proletarier um die Macht in manchen Ländern verlangsamt. Aber es konnte auch nicht erwartet werden, dass die revolutionäre Offensive nach dem Kriege, insofern sie nicht sofort zum Siege geführt hat, sich ununterbrochen in aufsteigender Linie entwickeln würde. Die politische Bewegung hat auch ihre Zyklen, ihr Auf und Ab. Der Feind bleibt nicht passiv — er kämpft. Wenn der Angriff des Proletariats nicht mit einem Siege endet, geht die Bourgeoisie bei der ersten Gelegenheit zu einem Gegenangriff über. Der Verlust einiger leicht eroberter Positionen führt zur zeitweiligen Depression in den Reihen des Proletariats. Es bleibt aber unbestreitbar, dass sich gegenwärtig die Kurve der kapitalistischen Entwicklung im Allgemeinen — nach zeitweiligen Hebungen — senkt, die Kurve der Revolution aber durch alle Schwankungen in die Höhe steigt.

Da die Wiederaufrichtung des Kapitalismus zur Voraussetzung hat die gewaltige Steigerung der Ausbeutung, die Vernichtung von Millionen Menschen, die Herabdrückung der Lebenslage anderer Millionen unter das Existenzminimum, die ständige Unsicherheit der Existenz des Proletariats, werden die Arbeiter immer wieder zur Empörung, zu ständigen Streiks und Aufständen gezwungen. Unter diesem Druck und in diesen Kämpfen wächst in den Massen der Wille zum Sturz der kapitalistischen Gesellschaft.

40. Die jetzigen Verteidigungskämpfe des Proletariats zu leiten, zu erweitern, zu vertiefen, zu vereinigen und — dem Gange der Entwicklung entsprechend — zu politischen Endkämpfen zu steigern, ist und bleibt die Grundaufgabe der Kommunistischen Partei in der laufenden Krise. Wenn aber das Entwicklungstempo sich verlangsamen sollte und wenn der gegenwärtigen Wirtschaftskrise in einer größeren oder kleineren Zahl von Ländern eine Periode des Aufschwunges folgen würde, so würde diese Tatsache keinesfalls den Beginn der “organischen” Epoche bedeuten. Solange der Kapitalismus existiert, sind zyklische Schwankungen unvermeidlich. Sie werden ihn auch in der Agonie begleiten, wie sie ihn in der Jugend und in der Reifezeit begleiteten.

Gesetzt den Fall, dass das Proletariat im Laufe der jetzigen Krise durch den Ansturm des Kapitals zurückgeworfen würde, wird es bei Eintritt einer besseren Konjunktur sofort zum Angriff übergehen.

Sein ökonomischer Angriffskampf, welcher in solchem Falle unvermeidlich unter der Losung der Revanche für alle Betrügereien der Kriegsepoche, für allen Raub und alle Demütigungen der Krisenepoche geführt würde, würde hierdurch ebenso die Tendenz zeigen, sich in einen offenen Bürgerkrieg zu verwandeln, wie der gegenwärtige Verteidigungskrieg.

41. Ob nun die revolutionäre Bewegung in der nächsten Periode ein schnelleres oder langsameres Tempo annehmen wird, in beiden Fällen muss die Kommunistische Partei eine Aktionspartei bleiben. Sie steht an der Spitze der kämpfenden Massen, sie formuliert klar und deutlich die Kampflosungen, indem sie die immer nachgiebigen, auf Kompromisse berechneten Losungen der Sozialdemokratie enthüllt. Bei allen Wechselfällen des Kampfes ist die Kommunistische Partei bestrebt, neue Stützpunkte organisatorisch zu befestigen, die Massen an aktives Manövrieren zu gewöhnen, sie mit neuen Methoden zu wappnen, die auf einen offenen Zusammenstoß mit den Kräften des Feindes hinzielen. Indem jede Ruhepause dazu verwendet wird, sich die Lehren der vorhergehenden Kampfphase anzueignen, ist die Kommunistische Partei bestrebt, die Klassenkonflikte zu vertiefen und auszubreiten, sie national und international durch die Einheit des Zieles und der Aktion zu verbinden und auf diese Weise an der Spitze des Proletariats alle Widerstände auf dem Wege zu seiner Diktatur und zur sozialen Revolution zu brechen.

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