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Leo Trotzki 19210723 Über l’Humanité, das Zentralorgan der französischen Partei

Leo Trotzki: Über l’Humanité, das Zentralorgan der französischen Partei

(Brief an Lucie Leiciague)

[Eigene Übersetzung nach The first five years of the Communist International, Band 2, New York 1945, S. 166-169]

Liebe Genossin, gemäß Ihrem Wusch werde ich meine Sicht bezüglich der Humanité detaillierter formulieren.

1. Parlamentsberichte nehmen einen sehr wichtigen Platz in der französischen kommunistischen Zeitung ein. Nicht weil wir – wie die Reformisten – die Teilnahme am Parlament entweder für die grundlegende oder die wichtigste Methode des proletarischen Klassenkampfes halten würden, sondern gerade weil wir – während wir dem Parlament und dem Parlamentarismus den Platz einräumen, den er in der modernen Gesellschaft tatsächlich einnimmt – an der Zerstreuung der Vorurteile sowohl des parlamentarischen Reformismus als auch des antiparlamentarischen Aberglaubens des Anarchismus arbeiten müssen. Unser Ziel ist, durch Parlamentsberichte den Arbeitern die wirkliche Rolle des Parlaments und der in ihm vertretenen Parteien zu zeigen. Aber meiner Meinung nach ist diese Abteilung in der Humanité von Grund auf falsch organisiert. Die Debatten werden in leichtem journalistischem Stil behandelt, mit Sticheleien, Witzen, verdeckten Hinweisen etc. Die Partei, zu der der Redner gehört, wird nie erwähnt, genauso wenig wird darauf hingewiesen, welche Klassen- oder Gruppeninteressen er vertritt; der Klassencharakter der entlarvten Ideen wird nie offengelegt; genauso wenig werden Reden oder Vorschläge je auf ihren Wesenskern zurückgeführt, sondern über alles wird hinweggegangen, um oberflächliche Widersprüche aufzugreifen, und um Wortspiele, Witze usw. zu machen. Ich habe keine Zweifel, dass von 100 Arbeitern, die Ihr am Fabriktor ansprechen könnt und denen Ihr einen Parlamentsbericht der Humanité vorlesen würdet, 99 nichts verstehen und nichts lernen würden, während der hundertste vielleicht etwas verstehen, aber auch nichts lernen würde. In einer Arbeiterzeitung ist es unzulässig, über das Parlament und seine inneren Kämpfe in dem Stil zu schreiben, in dem Journalisten untereinander im Parlamentsfoyer diskutieren.

Auf diesem Feld sind Klarheit, Genauigkeit und ein populärer Stil besonders unverzichtbar. Ich will überhaupt nicht sagen, dass man trockene Zusammenfassungen der Debatten geben solle, die mit Kommentaren über die Redner und ihre Parteien gespickt sind. Im Gegenteil müssen die Berichte auf lebendige und agitatorische Weise geschrieben sein. Aber dies bedeutet, dass der Schreiber sein Publikum klar im Kopf haben muss und sich das Ziel setzen muss, vor seinem Publikum das Klassenwesen der Parlamentstätigkeit und -spiegelfechterei klarzulegen. Manchmal reichen ein paar Worte aus einer ganzen Rede, um nicht nur den Redner, sondern auch seine Partei zu charakterisieren. Es ist notwendig, ständig zu wiederholen, zu unterstreichen und darauf herumzureiten, und dann erneut zu wiederholen und zu unterstreichen, statt journalistisch über der Oberfläche der Parlamentsdiskussionen herumzuflattern.

2) Die Haltung der Humanité gegenüber den Dissidenten ist viel zu unbestimmt und manchmal völlig falsch: Eine Spaltung ist eine sehr ernste Angelegenheit und sobald wir erkennen, dass eine Spaltung unvermeidlich ist, ist es notwendig, die volle Bedeutung den Massen verständlich zu machen. Es ist notwendig, die Politik der Dissidenten schonungslos zu entlarven. Es ist notwendig, ihre Führer und ihre Presse in den Augen der Massen lächerlich und verhasst zu machen. Auf diese Weise erlangt die breite Parteimasse eine viel größere politische Deutlichkeit und Klarheit. In der Ausgabe der Humanité vom 27. April (1921) nimmt Genosse Launat eine Haltung gegenüber den Dissidenten ein, die völlig unrichtig ist. Er drückt die Hoffnung einer frühen Veröffentlichung des Textes von Paul Boncourts Gesetz aus, um es möglich zu machen, herauszufinden, ob die Unterschiede wirklich so unversöhnlich sind, wie Blum behauptet. Der ganze Artikel, zusammen mit manchen anderen zum selben Thema, ist in einem Geist geschrieben, als ob wir nicht in einem unversöhnlichen politischen Kampf mit den Longuetisten stünden, sondern einfach in einer solidarischen Diskussion. Natürlich müssen wir von den Longuetisten den Teil der Arbeiter wegziehen, der ihnen folgt. Aber wir werden dies nur durch eine schonungslose Kampagne gegen den Longuetismus in allen seinen Erscheinungsformen erreichen.

3) Ich lese den Artikel Frossards in der Ausgabe vom 5. Mai: „Sang froid et Discipline” (Kaltes Blut und Disziplin). Der Artikel ist im Ganzen ziemlich richtig, soweit er uns sagt, was zu tun ist und wie es zu tun ist. Aber er ist unzureichend, weil er nicht dem Gefühl des Protests Ausdruck gibt, das unter den besten Elementen der Arbeiterklasse besteht. Der Ton der Zeitung ist nicht fest und energisch genug. Die Zeitung schaffte es nicht, die Parlamentsfraktion zu unterstützen, deren öffentliche Reden außerordentlich schwach und sogar grundlegend falsch waren. Ich kann es nicht entschieden sagen, aber aller Wahrscheinlichkeit hätte man in solcher Form protestieren können, dass die Partei nicht zu entschiedenen Maßnahmen verpflichtet gewesen wäre. Es gab kein Anzeichen dafür in der Humanité.

4) Die Ausgabe vom 3. April enthält einen Leitartikel „Christentum und Sozialismus”. Dieser Artikel steht im krassen Widerspruch zum Marxismus, denn er versucht, den Sozialismus mit Plattheiten aus der Bibel zu rechtfertigen. Der Autor zitiert das Beispiel Sowjetrusslands, wo die Kirche geduldet ist, und stellt die Forderung auf, dass die französische Kommunistische Partei die Sowjetrepublik in dieser Hinsicht nachahmt. Aber das ist eine ungeheuerliche Begriffsverwirrung. Die Sowjetrepublik ist ein Staat, der gezwungen ist, Vorurteile und ihren organisierten Ausdruck – die Kirche – in seiner Mitte zu dulden. Die kommunistische Partei ist eine freiwillige Vereinigung von Gleichgesinnten und kann in ihren Reihen keine Propaganda für christlichen Sozialismus dulden und auch nicht die Seiten ihres Zentralorgans für solche Propaganda zur Verfügung stellen, noch weniger unter dem Deckmantel von Leitartikeln. Die Partei kann sich damit abfinden, dass einzelne Mitglieder, besonders Arbeiter und Bauern, bisher noch nicht frei von religiösen Vorurteilen sind, aber die Partei als Partei in Person ihrer führenden Organe, ist verpflichtet, eine wirkliche Schulungstätigkeit zu betreiben. Auf jeden Fall können wir nicht zulassen dass intellektuelle Mystiker die Partei als Publikum für ihre religiösen Wahnvorstellungen nutzen. Im entscheidenden Augenblick werden Elemente dieses Typs in neun von zehn Fällen ihr 50-prozentiges christliches Selbst zeigen und eine Bremse der revolutionären Aktion werden.

5) Die Luxemburger Genossen haben sich über die Apathie der Partei gegenüber den militärischen Gräueltaten beklagt, die von der französischen Regierung an den Arbeitern von Luxemburg begangen wurden. Zu dieser Frage konnte ich in der Humanité einen einzigen Artikel vom Genossen Méric finden. Zweifellos ist es möglich und notwendig, viel mehr Agitation genau zu solchen Themen zu machen.

6) Kolonialfragen werden auf den Seiten der Humanité in viel zu weichem Ton behandelt. Aber für den revolutionären Geist einer proletarischen Partei ist ihre Haltung gegenüber der Kolonialsklaverei ein wirklicher Test. Der Leitartikel in der Ausgabe vom 20. Mai, der die angebliche Verschwörung in Indochina behandelt, ist in einem demokratischen und nicht kommunistischen Geist geschrieben. Wir müssen jede Gelegenheit nutzen, um den Köpfen der Arbeiter einzutrichtern, dass die Kolonien das Recht haben, sich gegen die Metropolen zu erheben und sich von ihnen zu trennen. Nicht nur in England, sondern auch in Frankreich bedeutet die soziale Revolution nicht nur den Aufstand des Proletariats, sondern auch den Aufstand der Kolonialvölker gegen die Metropolen. Jede Unklarheit in dieser Hinsicht wird eine Quelle von und ein Deckmantel für Chauvinismus.

7) In einer Reihe von Artikeln und besonders unter den Kommentaren gibt es einen sorglosen Umgang mit Begriffen: Vaterland, Republik, Liebe zum eigenen Land usw. usf. Genauigkeit im Ausdruck und ein fest aufrechterhaltener Klassencharakter beim politischen Ausdruck sind in Frankreich wichtiger als sonst wo.

8) Ich erspare es mir, zahlreiche Fälle von extremer Unklarheit und direkter Unentschiedenheit in der Linie der Humanité bezüglich dem Syndikalismus zu zitieren. Eine Reihe von Artikeln verletzt direkt die Grundprinzipien des Marxismus und Kommunismus. Kommunisten schreiben Artikel, die ganz gegen die Parteilinie gerichtet sind. Syndikalistische Resolutionen werden kommentarlos veröffentlicht. Sicher sollten die Spalten der Humanité gegenwärtig für eine Diskussion über die Gewerkschaftsfrage geöffnet werden, bei der der Gegenseite die Gelegenheit gegeben wird, sich auszudrücken. Aber in jedem Fall muss die Redaktion ihre Stimme zu Gehör bringen, sonst werden die Leser hoffnungslos desorientiert und verwirrt. Eine Diskussion über diese Frage muss besonders in Frankreich unvermeidlich zu einem Wirrwarr von Meinungen führen. Das kann zu der größten Unordnung führen, wenn die Redaktion schwankt. Wenn auf der anderen Seite die Redaktion einen festen Kurs steuert, werden die Massen die prinzipientreue, richtige und fest beibehaltene kommunistische Linie wählen und die Verwirrung, Zweideutigkeit und Widersprüchlichkeit aller anderen Linien zurückweisen.

9) Die Humanité veröffentlicht bereitwillig Photographien von deutschen und englischen Ministern, einschließlich deutschen Sozialdemokraten und anderen. Meiner Meinung nach wäre es wünschenswert, statt dessen Bilder von Kommunisten zu bringen. Es ist notwendig, die kommunistischen Parteien einander näher zu bringen, auch in persönlicher Hinsicht.

10) Zum Abschluss ergreife ich die Gelegenheit, erneut meine Bewunderung für die Arbeit Eures wundervollen Karikaturisten, Gassier, auszusprechen.

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