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Leo Trotzki 19400423 Brief an die Arbeiter der UdSSR

Leo Trotzki: Brief an die Arbeiter der UdSSR

[Nach Schriften 1.2. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1936-1940. Hamburg 1988, S. 1334-1337. Dort mit Fußnoten]

Coyoacán, 23. April 1940

Grü0e an die Sowjetarbeiter, Kolchosbauern, Soldaten der Roten Armee und Matrosen der Roten Flotte! Grüße vom fernen Mexiko, wo ich Zuflucht gefunden habe, nachdem die stalinistische Clique mich nach der Türkei verbannt und die Bourgeoisie mich von Land zu Land gehetzt hat!

Werte Genossen! Die lügnerische stalinistische Presse hat euch seit langem böswillig in allen Fragen, einschließlich derer, die sich auf mich und meine politischen Gesinnungsgenossen beziehen, getäuscht. Ihr habt keine Arbeiterpresse; ihr lest nur die Presse der Bürokratie, die systematisch lügt, um euch im Dunkeln zu lassen und so die Herrschaft einer privilegierten Parasitenkaste zu sichern.

Wer seine Stimme gegen die allgemein verhasste Bürokratie zu erheben wagt, wird »Trotzkist« genannt, Agent einer ausländischen Macht; er wird als Spion gebrandmarkt — gestern als Spion Deutschlands, heute als Spion Englands und Frankreichs — und dann an die Wand gestellt. Zehntausende von revolutionären Kämpfern sind vor den Mündungen der GPU-Mauserpistolen in der Sowjetunion und im Ausland, besonders in Spanien, gefallen. Sie alle wurden als Agenten des Faschismus hingestellt. Glaubt diese niederträchtige Verleumdung nicht! Ihr einziges Verbrechen bestand darin, dass sie die Arbeiter und Bauern gegen die Brutalität und Raubgier der Bürokratie verteidigt haben. Die ganze alte Garde des Bolschewismus, alle Mitarbeiter und Helfer Lenins, alle Kämpfer der Oktoberrevolution, alle Helden des Bürgerkrieges sind von Stalin ermordet worden. In die Annalen der Geschichte wird Stalins Name für alle Zeit unter dem Kainszeichen eingehen!

Die Oktoberrevolution wurde um der Werktätigen und nicht um der neuen Parasiten willen durchgeführt. Aber infolge der Verzögerung der Weltrevolution, infolge der Erschöpfung und in starkem Maße der Rückständigkeit der russischen Arbeiter und besonders der russischen Bauern erhob sich über der Räterepublik und gegen ihre Völker eine neue unterdrückende und parasitäre Kaste, deren Führer Stalin ist. Die frühere bolschewistische Partei wurde in einen Apparat dieser Kaste verwandelt. Die Weltorganisation, die einst die Kommunistische Internationale war, ist heute ein geschmeidiges Werkzeug der Moskauer Oligarchie. Die Räte der Arbeiter und Bauern sind längst untergegangen. Sie sind durch entartete Kommissare, Sekretäre und Agenten der GPU ersetzt worden.

Aber unter dem, was von den Eroberungen der Oktoberrevolution überlebt hat, sind glücklicherweise die nationalisierte Industrie und die kollektivierte Sowjetwirtschaft. Auf dieser Basis können Arbeiterräte eine neue und glücklichere Gesellschaft aufbauen. Diese Basis können wir unter keinen Umständen der Weltbourgeoisie ausliefern. Es ist die Pflicht von Revolutionären, jede Position, die die Arbeiterklasse errungen hat, bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen, sei es, dass es sich um demokratische Rechte, um das Lohnniveau handelt, oder um einen so gigantischen Menschheitssieg wie die Nationalisierung der Produktionsmittel und die Planwirtschaft. Wer nicht verteidigen kann, was bereits erobert wurde, wird nie neue Eroberungen machen. Gegen den imperialistischen Feind werden wir die Sowjetunion mit all unserer Kraft verteidigen. Aber die Eroberungen der Oktoberrevolution werden dem Volke nur nutzen, wenn es sich fähig zeigt, mit der stalinistischen Bürokratie fertig zu werden, so wie es seinerzeit mit der zaristischen Bürokratie und der Bourgeoisie fertig wurde.

Würde die Sowjetwirtschaft im Interesse des Volkes geleitet, würde die Bürokratie nicht den größeren Teil des Volkseinkommens verschlingen und verschwenden; würde sie nicht auf den Lebensinteressen der Bevölkerung herum trampeln, so wäre die Sowjetunion ein großer Anziehungspol für die Werktätigen der Welt, und die Unverletzlichkeit der Sowjetunion wäre gesichert. Aber Stalins berüchtigtes Unterdrückerregime hat die Sowjetunion ihrer Anziehungskraft beraubt. Während des Krieges mit Finnland erwies es sich, dass nicht nur die Mehrheit der finnischen Bauern, sondern auch die der finnischen Arbeiter auf der Seite ihrer Bourgeoisie war. Das kann kaum überraschen, da sie ja von der unerhörten Unterdrückung wussten, der die Arbeiter des nahe gelegenen Leningrad und der ganzen Sowjetunion von der stalinistischen Bürokratie unterworfen werden. Diese Bürokratie ist daheim blutdürstig und erbarmungslos und feige vor den imperialistischen Feinden; sie ist darum die Hauptquelle der Kriegsgefahr für die Sowjetunion.

Die alte bolschewistische Partei und die Dritte Internationale sind auseinander gefallen und haben sich aufgelöst. Die ehrlichen, fortgeschrittenen Revolutionäre haben im Ausland die Vierte Internationale organisiert, die schon in den meisten Ländern der Welt Sektionen errichtet hat. Ich bin ein Mitglied dieser neuen Internationale. Indem ich mich daran beteilige, bleibe ich unter demselben Banner, unter dem ich mit euch oder euren Vätern und älteren Brüdern 1917 und in den Jahren des Bürgerkriegs kämpfte, unter demselben Banner, unter dem wir mit Lenin zusammen den Rätestaat und die Rote Armee aufbauten.

Das Ziel der Vierten Internationale ist, die Oktoberrevolution über die ganze Welt auszubreiten und gleichzeitig die Sowjetunion zu regenerieren, sie von der parasitären Bürokratie zu befreien. Dies kann nur dadurch erreicht werden, dass die Arbeiter, Bauern, Soldaten der Roten Armee und Matrosen der Roten Flotte sich gegen die neue Kaste der Unterdrücker und Parasiten erheben. Um diese Erhebung vorzubereiten, ist eine neue Partei nötig — eine kühne und ehrliche revolutionäre Organisation der fortgeschrittenen Arbeiter. Die Vierte Internationale stellt sich den Aufbau einer solchen Partei in der Sowjetunion zur Aufgabe.

Fortgeschrittene Arbeiter! Schart euch als erste um das Banner von Marx und Lenin, das jetzt das Banner der Vierten Internationale ist! Lernt, unter den Bedingungen der Illegalität im stalinistischen Regime fest verschmolzene, zuverlässige revolutionäre Zirkel zu bilden! Stellt Verbindungen zwischen solchen Zirkeln her! Lernt, durch ergebene und zuverlässige Genossen, besonders Matrosen, Verbindungen mit euren revolutionären Gesinnungsgenossen in den bürgerlichen Ländern herzustellen! Das ist schwierig, aber möglich.

Der jetzige Krieg wird sich immer mehr ausweiten, er wird Trümmer auf Trümmer häufen, immer mehr Kummer, Verzweiflung und Protest hervorrufen, die ganze Welt zu neuen revolutionären Ausbrüchen treiben. Die Weltrevolution wird die sowjetischen Arbeitermassen mit neuem Mut und neuer Entschlossenheit erfüllen und die bürokratischen Stützen der Stalin-Kaste untergraben. Für diese Stunde müssen wir uns durch hartnäckige, systematische, revolutionäre Arbeit rüsten. Das Schicksal unseres Landes, die Zukunft unseres Volkes, unserer Kinder und Enkel steht auf dem Spiel.

Nieder mit Kain-Stalin und seiner Kamarilla! Nieder mit der räuberischen Bürokratie! Es lebe die Sowjetunion, die Festung der Arbeiter! Es lebe die sozialistische Weltrevolution!

Mit brüderlichen Grüßen

Leo Trotzki

Warnung! Stalins Presse wird natürlich erklären, dieser Brief sei durch »Agenten des Imperialismus« in die Sowjetunion gebracht worden. Seid im Voraus versichert, dass auch dies eine Lüge ist. Dieser Brief wird die Sowjetunion durch zuverlässige Revolutionäre erreichen, die bereit sind, ihr Leben für die Sache des Sozialismus aufs Spiel zu setzen. Macht Abschriften von diesem Brief und verbreitet ihn so weit wie möglich. L. T.

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