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Leo Trotzki 19390701 Der Kreml in der Weltpolitik

Leo Trotzki: Der Kreml in der Weltpolitik

[Nach Schriften 1.2. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1936-1940. Hamburg 1988, S. 1224-1237. Dort mit umfangreichen Fußnoten]

Coyoacán, 1. Juli 1939

Moskau wird eingeladen, Moskau wird umschmeichelt, Moskau wird angefleht, sich der »Friedensfront« anzuschließen und zur Verteidigung des Status quo anzutreten. Grundsätzlich war Moskau dazu längst bereit, doch jetzt kommen ihm Zweifel, ob die kapitalistischen Demokratien bereit sind, für die bestehende Ordnung mit der erforderlichen Energie zu kämpfen. Dieser paradoxe Rollentausch zeigt, dass sich etwas unter der Sonne geändert hat, nicht so sehr an Themse und Seine, als an der Moskwa. Wie stets bei Prozessen organischen Charakters sind die Veränderungen allmählich gereift. Unter dem Einfluss eines großen historischen Ereignisses treten sie dann jedoch plötzlich zutage und werfen eben dadurch alle Vorstellungen über den Haufen.

In den letzten fünfzehn Jahren hat die sowjetische Außenpolitik eine nicht weniger bedeutsame Entwicklung wie das innere Regime durchgemacht. Im August 1914 erklärte der Bolschewismus, dass die Grenzen der kapitalistischen Staaten mit ihren Zollschranken, Armeen und Kriegen ebenso große Hindernisse für die Entwicklung der Weltwirtschaft wären, wie es die Provinzzölle des Mittelalters für die Schaffung der Nationalstaaten gewesen waren. Der Bolschewismus sah seine historische Aufgabe in der Beseitigung der nationalen Grenzen im Namen der Vereinigten Sowjetstaaten Europas und der Welt. Im November 1917 begann die bolschewistische Regierung einen unversöhnlichen Kampf gegen alle bürgerlichen Staaten, unabhängig davon, wie ihre Staatsform aussah. Nicht deshalb, weil Lenin im Allgemeinen dem Unterschied zwischen Militärdiktatur und parlamentarischer Demokratie keine Bedeutung beimaß, sondern weil in seinen Augen die Außenpolitik eines Staates nicht durch die Staatsform, sondern durch die materiellen Interessen der herrschenden Klasse bestimmt wird. Gleichzeitig trennte der Kreml jener Periode scharf zwischen imperialistischen, kolonialen oder halbkolonialen Nationen und stellte sich völlig auf die Seite der Kolonien gegen die Mutterländer, auch hier, ohne auf die jeweilige Staatsform zu achten.

Es ist richtig, dass die Sowjetregierung im Kampf um ihre Selbstverteidigung von Anfang an nicht darauf verzichtete, die Gegensätze zwischen bürgerlichen Staaten auszunutzen und zeitweilige Abkommen mit den einen gegen andere schloss. Aber damals handelte es sich um Abkommen begrenzter Reichweite und spezifischen Charakters: mit dem besiegten und isolierten Deutschland, mit halbkolonialen Ländern wie der Türkei und China und schließlich mit dem in Versailles benachteiligten Italien. Das Grundprinzip der Kremlpolitik war außerdem, dass ein solches Abkommen der Sowjetregierung mit einem bürgerlichen Staat die betreffende nationale Sektion der Kommunistischen Internationale zu nichts verpflichtete. So mobilisierte die deutsche kommunistische Partei in der Zeit nach dem Vertrag von Rapallo (April 1922) als zwischen Moskau und Berlin eine wirtschaftliche und teilweise auch eine militärische Zusammenarbeit zustande kam – die Massen offen für einen revolutionären Aufstand, und wenn ihr dabei kein Erfolg beschieden war, so war es keineswegs deswegen, weil sie durch die Kremldiplomatie daran gehindert wurde. Die der Sowjetregierung und der Komintern gemeinsame revolutionäre Ausrichtung der Politik schloss in dieser Periode natürlich die Möglichkeit aus, dass sich die Sowjetrepublik an einem System von Staaten beteiligte, die an der Erhaltung der bestehenden Ordnung interessiert waren.

Die Angst vor der revolutionären Rolle des Kremls hielt sich in den Diplomatenkanzleien Europas und Amerikas weit länger als die revolutionären Prinzipien im Kreml selbst. Im Jahre 1932, als Moskaus Außenpolitik vollständig vom Geist nationalen Konservatismus durchtränkt war, schrieb die französische halboffizielle Zeitung Le Temps mit Entrüstung von »Regierungen, die sich einbilden, sie könnten, ohne sich selbst zu gefährden, die Sowjets in ihr Spiel gegen andere Mächte einbeziehen.« Eine enge Fühlungnahme mit Moskau ziehe die Gefahr »eines Zerfalls der nationalen Kräfte nach sich«. In Asien wie in Europa würden die Sowjets »Unordnung schaffen, Elend ausnutzen, Hass und Rachegefühle herausfordern und schamlos auf alle internationalen Rivalitäten setzen«. Frankreich als Land, das am stärksten an der Aufrechterhaltung des Versailler Friedens interessiert war, blieb immer noch der Hauptfeind des Kremls. Den zweiten Platz nahm Großbritannien ein. Die Vereinigten Staaten belegten wegen der räumlichen Entfernung die dritte Position. Hitlers Machtübernahme änderte diese Konstellation nicht sofort. Der Kreml wollte – koste es, was es wolle – die Beziehungen zum Dritten Reich aufrechterhalten, die mit den Regierungen Eberts und Hindenburgs geknüpft worden waren, und setzte seine lärmende Kampagne gegen den Versailler Vertrag fort. Aber Hitler weigerte sich hartnäckig, auf dieses Entgegenkommen einzugehen. 1933 wurde das französisch-sowjetische Bündnis geschlossen, allerdings ohne einen Militärvertrag – was einem Messer ohne Klinge ähnelte. Eden besuchte Moskau, musste jedoch zurücktreten. Inzwischen wurde Europa um die Erfahrung des Münchner Abkommens bereichert. Viele Diplomatenkanzleien und halboffizielle Presseorgane waren gezwungen, Hals über Kopf ihre Positionen zu wechseln. Am 12. Juni dieses Jahres, als Herr Strang von London nach Moskau flog, schrieb dieselbe Temps über die Notwendigkeit, »Sowjetrussland dazu zu bewegen, den Abschluss des englisch-französisch-russischen Vertrages zu beschleunigen«. Offensichtlich zieht die Fühlungnahme mit Moskau nicht mehr die Gefahr »eines Zerfalls der nationalen Kräfte« nach sich.

Die Wandlung des Kreml von einem revolutionären Faktor der Weltpolitik zu einem konservativen wurde natürlich nicht durch die Änderung der internationalen Lage bewirkt, sondern durch innere Prozesse im Land der Sowjets selbst, wo sich über die Revolution und die Bevölkerung eine neue soziale Schicht erhoben hat, sehr privilegiert, sehr mächtig, sehr habgierig – eine Schicht, die etwas zu verlieren hat. Da sie sich die Massen erst kürzlich unterworfen hat, traut die Sowjetbürokratie ihnen nicht im Geringsten, so wie jede herrschende Klasse in der Welt sie fürchtet. Internationale Katastrophen können ihr nichts einbringen, sondern nur viel wegnehmen. Ein revolutionärer Aufstand in Deutschland oder Japan könnte zwar die internationale Stellung der Sowjetunion verbessern; aber dafür drohte eine solche Entwicklung die revolutionären Traditionen innerhalb des Landes wiederzuerwecken, die Massen zu mobilisieren und eine tödliche Gefahr für die Moskauer Oligarchie zu schaffen. Der leidenschaftliche Kampf, der sich unerwartet und offenbar ohne äußeren Anstoß in Moskau um die Theorie der »permanenten Revolution« entfaltet hat, erschien einem auswärtigen Beobachter lange Zeit nur als scholastischer Streit; in Wirklichkeit aber verbergen sich dahinter tiefgehende materielle Motive: Die neue herrschende Schicht versuchte, ihre Eroberungen theoretisch gegen die Gefahr einer internationalen Revolution abzusichern. Zu dieser Zeit begann sich in der Sowjetbürokratie die Vorstellung durchzusetzen, dass die soziale Frage gelöst sei, weil die Bürokratie ihre eigenen Probleme gelöst hatte. Das ist der Sinn der Theorie vom »Sozialismus in einem Lande«.

Ausländische Regierungen haben lange den Verdacht gehegt, der Kreml versuche nur, sich mit konservativen Formulierungen abzuschirmen, um auf diese Weise seine zerstörerischen Pläne zu verbergen. Eine solche »Kriegslist« ist vielleicht seitens einer isolierten Person oder einer fest verschmolzenen Gruppe für kurze Zeit möglich; aber sie ist für einen mächtigen Staatsapparat über viele Jahre hinweg völlig undenkbar. Die Vorbereitung einer Revolution ist keine Alchimie, die in einem Keller betrieben werden kann; sie wird durch die Inhalte von Agitation und Propaganda und durch die allgemeine Richtung der Politik gesichert. Es ist unmöglich, das Proletariat für den Sturz des bestehenden Systems durch die Verteidigung des Status quo vorzubereiten.

Die Entwicklung der Außenpolitik des Kremls hat unmittelbar das Schicksal der Dritten Internationale entschieden, die schrittweise aus einer Partei der internationalen Revolution in eine Hilfswaffe der Sowjetdiplomatie umgewandelt wurde. Gleichzeitig verringerte sich das spezifische Gewicht der Komintern, was sich deutlich in den Veränderungen ihres Führungskaders widerspiegelt. In der ersten Periode (1919-23) bestand die russische Delegation in der Führung der Komintern aus Lenin, Trotzki, Sinowjew, Bucharin und Radek. Nach Lenins Tod und der Ausschaltung Trotzkis und dann Sinowjews aus der Führung war die Leitung in den Händen Bucharins konzentriert unter der Kontrolle Stalins, der bis zu diesem Zeitpunkt abseits der internationalen Arbeiterbewegung gestanden hatte. Nach Bucharins Sturz wurde Molotow, der sich niemals mit marxistischer Theorie gequält hatte, der kein fremdes Land und keine Fremdsprache kannte, für jeden und für ihn selbst unerwartet, Chef der Komintern. Aber bald musste Molotow den Vorsitz des Rats der Volkskommissare übernehmen, in dem er Rykow, der in Ungnade gefallen war, ersetzte. Manuilski wurde zur Führung des »Weltproletariats« offensichtlich nur bestellt, weil er zu nichts anderem taugte. Manuilskis Kräfte waren sehr bald erschöpft, und im Jahre 1934 wurde er von Dimitrow ersetzt, einem bulgarischen Arbeiter, dem es nicht an persönlichem Mut fehlte, der jedoch beschränkt und unwissend war. Dimitrows Ernennung wurde zu einer demonstrativen Wende in der Politik benutzt. Der Kreml beschloss, das Ritual der Revolution über Bord zu werfen und offen einen Zusammenschluss mit der Zweiten Internationale, mit der konservativen Bürokratie der Gewerkschaften und, durch deren Vermittlung, mit der liberalen Bourgeoisie zu suchen. Die Ära der »kollektiven Sicherheit« im Namen des Status quo und der »Volksfront« im Namen der Demokratie hatte begonnen.

Für die neue Politik wurden neue Personen benötigt. Durch eine Reihe interner Krisen, Absetzungen, Säuberungen und durch offene Bestechung wurden die verschiedenen nationalen Parteien allmählich auf die neue Linie der Sowjetbürokratie umgestellt. Alle intelligenten, unabhängigen, kritischen Elemente wurden ausgeschlossen. Moskau lieferte mit seinen Verhaftungen, Schauprozessen und endlosen Hinrichtungen das Vorbild. Nach der Ermordung Kirows (am 1. Dezember 1934) wurden mehrere Hundert ausländische kommunistische Emigranten in der UdSSR, die dem Kreml lästig geworden waren, ausgerottet. Mit Hilfe eines verzweigten Spionagesystems wurden systematisch die Postenjäger unter den Funktionären ausgelesen, die zur Ausführung jedes Auftrags bereit waren. Jedenfalls wurde das Ziel erreicht: Der gegenwärtige Kominternapparat besteht aus Individuen, die ihrem Charakter und ihrer Erziehung nach genau das Gegenteil des revolutionären Typs darstellen.

Um nicht bei bestimmten Arbeiterkreisen ihren Einfluss zu verlieren, ist die Komintern natürlich gezwungen, von Zeit zu Zeit zu Demagogie Zuflucht zu nehmen. Aber das geht über ein paar radikale Phrasen nicht hinaus. Diese Individuen sind zu einem wirklichen Kampf, der unabhängiges Denken, moralische Integrität und gegenseitiges Vertrauen verlangt, nicht imstande. Bereits 1933 war die Kommunistische Partei Deutschlands, die zahlenmäßig stärkste Sektion der Komintern außerhalb der UdSSR, unfähig, der Machtübernahme Hitlers irgendwelchen Widerstand entgegenzusetzen. Ihre schändliche Kapitulation markierte das unwiderrufliche Ende der Komintern als revolutionärem Faktor. Seitdem betrachtet sie es als Hauptaufgabe, die bürgerliche öffentliche Meinung von ihrer Achtbarkeit zu überzeugen. Im Kreml kennt man den Wert der Komintern besser als sonst wo. Gegenüber den ausländischen kommunistischen Parteien führen sie sich auf, als wären diese arme Verwandte, die eigentlich unwillkommen und sehr habgierig sind. Stalin gab der Komintern den Beinamen »Krämerladen«. Wenn er trotzdem diesen »Krämerladen« weiter unterstützt, so geschieht das aus dem gleichen Grund, aus dem andere Staaten Propagandaministerien unterhalten. Mit den Aufgaben der internationalen Revolution hat das nichts zu tun.

Ein paar Beispiele zeigen am besten, wie der Kreml die Komintern benutzt, zum einen, um sein Prestige in den Augen der Massen zu bewahren, zum andern, um den herrschenden Klassen seine Mäßigung zu beweisen. Die erste Aufgabe tritt dabei immer mehr hinter die zweite zurück.

Während der chinesischen Revolution von 1927 stellten alle konservativen Zeitungen der Welt, vor allem die englischen, den Kreml als Brandstifter dar. In Wirklichkeit fürchtete der Kreml mehr als alles andere, dass die chinesischen revolutionären Massen die Grenzen der nationalen bürgerlichen Revolution überschreiten würden. Auf ausdrücklichen Befehl Moskaus wurde die chinesische Sektion der Komintern der Disziplin der Kuomintang unterstellt, damit von vornherein nicht der Verdacht aufkommen konnte, der Kreml beabsichtige, die Grundlage des Privateigentums in China zu erschüttern. Stalin, Molotow, Woroschilow und Kalinin wiesen die Führer der chinesischen kommunistischen Partei telegraphisch an, die Bauern von der Besetzung großer Landgüter zurückzuhalten, um Tschiang Kai-schek und seine Offiziere nicht zu beunruhigen. Die gleiche Politik wird jetzt in China während des Krieges mit Japan noch entschiedener durchgeführt: Die chinesische kommunistische Partei ist vollständig der Regierung Tschiang Kai-scheks unterstellt und hat auf Befehl des Kremls offiziell die Lehren Marx' zugunsten der von Sun Yat-sen, des Begründers der chinesischen Republik, aufgegeben.

In Polen mit seinen alten revolutionären Traditionen und seiner starken kommunistischen Partei, die durch die Schule der zaristischen Illegalität gegangen ist, erwies sich diese Aufgabe als viel schwieriger. Da Moskau freundschaftliche Beziehungen zur Warschauer Regierung suchte, untersagte es zuerst, die Forderung nach Selbstbestimmung der polnischen Ukrainer zu erheben; danach befahl es der kommunistischen Partei, ihre Regierung patriotisch zu unterstützen. Da Moskau auf Widerstand stieß, löste es die kommunistische Partei mit der Behauptung auf, ihre Führer, alte und bekannte Revolutionäre, seien Agenten des Faschismus. Während seines Besuchs in Warschau versicherte kürzlich Potemkin, der stellvertretende Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, dem Obersten Beck, dass die Komintern ihre Tätigkeit in Polen nicht wieder aufnehmen werde. Das gleiche Versprechen gab Potemkin in Bukarest. Die türkische Sektion der Komintern wurde sogar noch früher aufgelöst, um die freundschaftlichen Beziehungen zu Kemal Pascha nicht zu gefährden.

Die von Moskau durchgeführte »Volksfront«-Politik bedeutete in Frankreich die Unterwerfung der kommunistischen Partei unter die Kontrolle der Radikalsozialisten, die trotz ihres Namens eine konservative bürgerliche Partei sind. Während der stürmischen Streikbewegung im Juni 1936 mit Besetzung der Fabriken und Betriebe – verhielt sich die französische Sektion der Komintern wie eine bürgerlich-demokratische Partei; die Dritte Republik ist ihr zu höchstem Dank verpflichtet, denn sie hinderte die Bewegung daran, offen revolutionäre Formen anzunehmen. In England, wo wir – falls der Krieg nicht dazwischenkommt – davon ausgehen können, dass die jetzt an der Macht befindlichen Konservativen von der Labour Party verdrängt werden, propagiert die Komintern ständig, trotz des hartnäckigen Widerspruchs der englischen Labour-Anhänger, einen Block mit den Liberalen. Der Kreml fürchtet, dass eine reine Arbeiterregierung, trotz ihrer Mäßigung, ungewöhnlich weitgehende Forderungen der Massen begünstigen, eine soziale Krise hervorrufen, England schwächen und Hitler freie Hand geben würde. Daraus ergeben sich die Bestrebungen, die Labour Party unter die Kontrolle der liberalen Bourgeoisie zu stellen. Wie paradox es auch erscheinen mag – die Moskauer Regierung ist jetzt am Schutz des Privateigentums in England interessiert!

Man kann sich schwerlich eine einfältigere Erfindung als die Hitlers und Mussolinis vorstellen, die spanischen Ereignisse seien der Beweis für die revolutionäre Einmischung der Sowjetunion. Die spanische Revolution, die für Moskau unerwartet und ohne sein Zutun ausbrach, tendierte bald dahin, einen sozialistischen Charakter anzunehmen. Moskau fürchtete vor allem, dass die Beeinträchtigung des Privateigentums auf der Iberischen Halbinsel London und Paris zu einer gegen die UdSSR gerichteten Annäherung an Berlin bewegen würden. Nach einigem Zögern intervenierte der Kreml, um die Revolution in den Grenzen des bürgerlichen Systems zu halten.

Alle Aktivitäten der Moskauer Agenten in Spanien waren darauf abgestellt, jede unabhängige Bewegung der Arbeiter und Bauern zu lähmen und die Bourgeoisie mit einer gemäßigten Republik zu versöhnen. Die spanische kommunistische Partei stand auf dem rechten Flügel der Volksfront. Stalin, Molotow und Woroschilow empfahlen am 21. Dezember 1936 in einem vertraulichen Brief an Largo Caballero, dem damaligen spanischen Ministerpräsidenten, eindringlich, dass das Privateigentum nicht gefährdet werden dürfe und dass dem ausländischen Kapital Garantien für den Schutz der Handelsfreiheit, für die Aufrechterhaltung des parlamentarischen Systems und für Verhinderung der Entwicklung von Sowjets gegeben werden müssten. Dieser Brief, der kürzlich von Caballero durch den ehemaligen spanischen Gesandten in Paris, L. Araquistain, der Presse zugeleitet worden ist (New York Times vom 4. Juli 1939), fasste die konservative Position der Sowjetregierung gegenüber der sozialistischen Revolution aufs Vortrefflichste zusammen.

Wir müssen außerdem dem Kreml Gerechtigkeit widerfahren lassen – die Politik beschränkte sich nicht auf Worte. Die GPU unterdrückte in Spanien den revolutionären Flügel (»Trotzkisten«, POUMisten, linke Sozialisten, linke Anarchisten) rücksichtslos. Jetzt, nach der Niederlage, werden die Grausamkeiten und Intrigen der GPU in Spanien von den gemäßigten Politikern bereitwillig aufgedeckt, die den Moskauer Polizeiapparat in Anspruch nahmen, um ihre revolutionären Gegner zu vernichten.

Besonders auffallend ist die veränderte Haltung des Kremls gegenüber den Kolonialvölkern, die für ihn jedes besonderes Interesse verloren haben, da sie nicht die Subjekte, sondern die Objekte der Weltpolitik sind. Auf dem letzten Parteitag in Moskau (im März 1939) wurde offiziell die Weigerung der Komintern verkündet, Freiheit für die Kolonien zu verlangen, die unter der Herrschaft demokratischer Länder stehen. Die Komintern schärfte diesen Kolonien im Gegenteil ein, ihren Herren gegen faschistische Anmaßungen beizustehen. Um London und Paris den hohen Wert eines Bündnisses mit dem Kreml zu zeigen, agitiert die Komintern in Britisch-Indien wie in Französisch-Indochina gegen die japanische Gefahr, aber nicht gegen die französische und britische Herrschaft. »Die stalinistischen Führer sind einen Schritt auf dem Weg des Verrats weitergegangen«, schrieb die Saigoner Arbeiterzeitung »La Lutte« am 7. April dieses Jahres. »Indem sie ihre revolutionären Masken abgelegt haben, sind sie zu Vorkämpfern des Imperialismus geworden und sprechen sich offen gegen die Befreiung der unterdrückten Kolonialvölker aus.« Es ist beachtenswert, dass die Kandidaten der Partei, die durch die erwähnte Zeitung repräsentiert wird, bei den Kolonialratswahlen in Saigon mehr Stimmen erhielt als der Block der Kommunisten und der Regierungspartei. In den Kolonien sinkt die Autorität Moskaus zusehends.

Als revolutionärer Faktor ist die Komintern tot. Keine Kraft der Welt wird sie wieder beleben. Sollte sich der Kreml einmal wieder revolutionärer Politik zuwenden, würde er die dazu erforderlichen Instrumente nicht vorfinden. Aber der Kreml will dies nicht und kann es nicht wollen.

Ein militärischer Dreibund, der auch ein Bündnis der Generalstäbe einschließt, setzt nicht nur gemeinsame Interessen voraus, sondern auch einen erheblichen Grad an gegenseitigem Vertrauen. Es handelt sich dabei um gemeinsame Ausarbeitung von Militärplänen und den Austausch der geheimsten Informationen. Die Säuberung des sowjetischen Oberkommandos ist noch in aller Erinnerung. Wie können London und Paris bereitwillig ihre Geheimnisse dem Generalstab der UdSSR anvertrauen, an dessen Spitze sich gestern noch »ausländische Agenten« befanden? Wenn Stalin mehr als zwanzig Jahre brauchte, um solche Nationalhelden wie Tuchatschewski, Jegorow, Gamarnik, Blücher, Jakir, Uborewitsch, Muralow, Mratschkowski, Dybenko und andere als Spione zu entlarven – worauf kann sich dann die Hoffnung gründen, dass die neuen Militärchefs, absolut farblose und unbekannte Personen, zuverlässiger als ihre Vorgänger sind? London und Paris hegten allerdings keine derartigen Befürchtungen. Kein Wunder: Die betreffenden Regierungen und ihre Stäbe verstanden es sehr wohl, zwischen den Zeilen der Moskauer Anklagen zu lesen. In dem Prozess vom März 1938 erklärte der frühere Sowjetgesandte in England, Rakowski, Agent des Intelligence Service zu sein. Die rückständigen Schichten der russischen und englischen Arbeiter mögen dies glauben. Aber nicht der Intelligence Service; er kennt seine eigenen Agenten sehr gut. Nur auf Grundlage dieser Tatsache allein – und es gibt deren Hunderte – war es für Chamberlain nicht schwer, den relativen Wert der Anschuldigungen gegen Marschall Tuchatschewski und andere Militärführer zu beurteilen. In Downing Street wie am Quai d'Orsay leben keine Romantiker, keine naiven Träumer. Sie wissen dort, aus welchem Material Geschichte gemacht wird. Viele Menschen empfinden natürlich bei der Erwähnung der ungeheuerlichen Inszenierungen Abscheu. Aber auf lange Sicht stärkten die Moskauer Prozesse mit ihren phantastischen Beschuldigungen und völlig realen Hinrichtungen das Vertrauen jener Kreise in den Kreml als Vertreter von Recht und Ordnung. Die totale Ausrottung der Bürgerkriegshelden und aller Vertreter der jüngeren Generation, die mit ihnen in Verbindung standen, war der überzeugendste Beweis dafür, dass der Kreml die revolutionäre Vergangenheit nicht etwa scheinbar, sondern ernstlich und endgültig liquidiert.

Seitdem sich England und Frankreich darauf vorbereiteten, ein Militärbündnis mit dem aus der Oktoberrevolution hervorgegangenen Staat einzugehen, verbürgten sie sich in Wirklichkeit für die Redlichkeit des Kremls gegenüber Rumänien, Polen, Lettland, Estland, Finnland und gegenüber der gesamten kapitalistischen Welt. Und sie haben Recht. Es besteht nicht die geringste Gefahr, dass Moskau – wie es oftmals vorhergesagt wurde – seine Beteiligung an der Weltpolitik dazu benutzen würde, um einen Krieg heraufzubeschwören: Moskau fürchtet einen Krieg mehr als alles in der Welt. Ebenso wenig steht zu befürchten, dass Moskau seine Annäherung an die westlichen Nachbarn dazu ausnutzen wird, um ihr soziales Regime zu stürzen. Eine Revolution in Polen und Rumänien würde Hitler tatsächlich in den Kreuzfahrer eines kapitalistischen Europa im Osten verwandeln. Diese Gefahr lastet wie ein Alpdruck auf dem Bewusstsein des Kremls. Sollte allein aufgrund eines Einmarsches Roter Truppen in Polen, entgegen allen Plänen dennoch die revolutionäre Bewegung einen Anstoß erhalten – und die Bedingungen im Innern Polens wie Rumäniens sind dafür sehr günstig –, dann können wir mit Sicherheit voraussagen, dass die Rote Armee die Rolle eines Unterdrückers spielen wird. Der Kreml würde im Voraus dafür sorgen, dass in Polen und Rumänien seine zuverlässigsten Truppen zum Einsatz kämen. Sollten sie trotzdem von der revolutionären Bewegung erfasst werden, dann würden dem Kreml die gleichen Gefahren wie den Hochburgen des Kapitals drohen. Nur jemand, dem jede historische Vorstellungskraft fehlt, kann auch nur einen Augenblick annehmen, dass die Sowjetmassen im Falle eines revolutionären Sieges in Polen oder Deutschland weiterhin geduldig die entsetzliche Unterdrückung durch die Sowjetbürokratie ertragen werden. Der Kreml will weder Krieg noch Revolution; was er will, ist Ordnung, Ruhe, den Status quo, und das um jeden Preis. Es ist Zeit, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass der Kreml zu einem konservativen Faktor der Weltpolitik geworden ist!

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