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Leo Trotzki 19400618 Die Rolle des Kremls in der europäischen Katastrophe

Leo Trotzki: Die Rolle des Kremls in der

europäischen Katastrophe

[Nach Schriften 1.2. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1936-1940. Hamburg 1988, S. 1338-1341. Dort mit umfangreichen Fußnoten]

Coyoacán, 18. Juni 1940

Die Kapitulation Frankreichs ist nicht bloß eine militärische Episode. Es ist die Katastrophe Europas. Die Menschheit kann nicht weiter unter dem Regime des Kapitalismus leben. Hitler ist kein Zufall; er ist lediglich die vollkommenste, die konsequenteste und brutalste Ausdrucksform des Imperialismus, der unsere gesamte Zivilisation zu vernichten droht.

Neben den im Imperialismus angelegten allgemeinen Ursachen der Katastrophe darf man jedoch die verbrecherische und unheilvolle Rolle nicht vergessen, die Kreml und Komintern gespielt haben. Niemand hat Hitler so sehr geholfen wie Stalin. Niemand hat die UdSSR in eine so gefährliche Lage manövriert wie Stalin.

Fünf Jahre lang haben der Kreml und seine Komintern ein »Bündnis der Demokratien« und »Volksfront« mit dem Ziel eines Präventivkrieges gegen die »faschistischen Aggressoren« propagiert. Der Einfluss dieser Propaganda auf die Volksmassen war gewaltig, was am Beispiel Frankreichs besonders deutlich wurde. Aber als der Krieg wirklich herannahte, sind der Kreml und seine Agentur, die Komintern, plötzlich ins Lager der »faschistischen Aggressoren« übergelaufen. Stalin mit seiner Pferdehändlermentalität dachte auf diese Weise Chamberlain, Daladier und Roosevelt ein Schnippchen zu schlagen und strategische Positionen in Polen und im Baltikum zu erringen. Aber die Wende des Kremls hatte weit tiefer gehende Folgen: Er täuschte nicht nur die Regierungen, sondern desorientierte und demoralisierte auch die Volksmassen, vor allem in den so genannten Demokratien. Mit seiner Propagierung der »Volksfront« hinderte der Kreml die Massen daran, den Kampf gegen den imperialistischen Krieg zu führen. Durch seinen Wechsel ins Lager Hitlers brachte Stalin plötzlich alle Karten durcheinander und lähmte die militärische Kraft der »Demokratien«. Denn trotz der gesamten Ausrottungsmaschinerie bleibt der moralische Faktor im Krieg von entscheidender Bedeutung. Indem Stalin die Volksmassen Europas – und nicht nur Europas – demoralisierte, hat er den Agent provocateur im Dienste Hitlers gespielt. Die Kapitulation Frankreichs ist eines der Resultate dieser Politik.

Doch das ist längst nicht das einzige Ergebnis. Trotz der territorialen Zugewinne des Kremls hat sich die internationale Lage der UdSSR außerordentlich verschlechtert. Der polnische Puffer ist verschwunden. Morgen wird der rumänische verschwinden. Das mächtige Deutschland, nunmehr der Herr Europas, hat nun eine gemeinsame Grenze mit der UdSSR. Skandinaviens schwache und fast unbewaffnete Staaten sind ebenfalls von Deutschland okkupiert worden. Seine Siege im Westen bereiten nur eine groß angelegte Offensive gegen den Osten vor. Beim Angriff auf Finnland hat die Rote Armee, die eben von Stalin ihrer Führer beraubt und demoralisiert worden war, vor der ganzen Welt ihre Schwäche bewiesen. Bei seinem bevorstehenden Feldzug gegen die UdSSR wird Hitler Japans Unterstützung haben.

Die Agenten des Kremls beginnen von neuem, über das »Bündnis der Demokratien« gegen die faschistischen Aggressoren zu reden. Möglich, dass sich Stalin als betrogener Betrüger gezwungen sieht, in seiner Außenpolitik eine neue Wende zu vollziehen. Wehe den Völkern, wenn sie wiederum den ehrlosen Agenten des Kremlherrn vertrauen. Stalin half, Europa in ein blutiges Chaos zu stürzen und die UdSSR bis an den Rand des Abgrunds zu führen. Die Völker der UdSSR sind heute von größter Unruhe erfüllt. Nur der Sturz der Moskauer totalitären Clique, nur die Erneuerung der Sowjetdemokratie kann die Kräfte der Sowjetvölker für den Kampf gegen den unvermeidlichen und schnell nahenden Schlag des imperialistischen Deutschland entfesseln. Sowjetpatriotismus kann nicht vom unversöhnlichen Kampf gegen die Stalinsche Clique getrennt werden.

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