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Leo Trotzki 19390306 Hitler und Stalin

Leo Trotzki: Hitler und Stalin

[Nach Schriften 1.2. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1936-1940. Hamburg 1988, S. 1155-1160. Dort mit umfangreichen Fußnoten]

Coyoacán, 6. März 1939

In den letzten Monaten schrieben die Zeitungen viel über Geheimverhandlungen zwischen Berlin und Moskau. Gerüchteweise verlautete, dass ein politisches und sogar militärisches Abkommen unter dem Deckmantel eines Wirtschaftsvertrags vorbereitet werde. Vorläufig ist schwer zu beurteilen, was an diesen Nachrichten wahr ist. Auf jeden Fall gibt es ganz untrügliche Anzeichen dafür, dass Verhandlungen geführt wurden und werden. Welches Resultat die Geheimgespräche haben werden, hängt jedenfalls im gegenwärtigen Stadium weder von Stalins Loyalität zu den Prinzipien der Demokratie noch von der Treue Hitlers zum Banner des »Antimarxismus« ab, sondern allein von der internationalen Konjunktur. Falls ein Abkommen zwischen Hitler und Stalin zustande kommt – und das ist ganz und gar nicht unmöglich –, so könnte das nur die hoffnungslosesten Einfaltspinsel der verschiedenen demokratischen »Fronten« und pazifistischen »Ligen« erstaunen.

Wir sollten uns hier nicht länger mit der Frage aufhalten, inwieweit ein Abkommen Stalins mit Hitler, oder richtiger, Hitlers mit Stalin, in der nächsten Zukunft wahrscheinlich ist. Diese Frage würde eine detaillierte Analyse der internationalen Lage in all ihren möglichen Variationen erfordern. Aber auch in diesem Fall wäre nur sehr bedingt eine Antwort möglich, können doch selbst die Beteiligten an diesem Spiel heute kaum mit völliger Sicherheit sagen, wohin sie dieses Spiel führen wird. Schon bevor die Annäherung zwischen Moskau und Berlin wirklich erreicht worden ist, stellt sie in der internationalen Politik einen Faktor dar, denn mit seiner Möglichkeit rechnen bereits alle diplomatischen Zentren Europas und der Welt. Versuchen auch wir, diese Möglichkeit kurz zu überdenken. Ein Abkommen mit einem imperialistischen Land – ganz gleich ob faschistischen oder demokratischen Typs – ist ein Abkommen mit Sklavenhaltern und Ausbeutern. Ein zeitlich begrenztes Abkommen dieser Art kann natürlich durch die Umstände aufgezwungen werden. Man kann nicht ein für allemal festlegen, dass Abkommen mit Imperialisten unter keinen Umständen zulässig sind, genauso wie man einer Gewerkschaft nicht sagen kann, dass sie unter keinen Umständen das Recht hat, mit den Kapitalisten einen Kompromiss zu schließen. Diese Art von »Unversöhnlichkeit« hätte rein verbalen Charakter. Solange der Arbeiterstaat isoliert bleibt, sind Abkommen mit den Imperialisten in gewissen Grenzen gelegentlich unvermeidlich. Aber wir müssen uns darüber klar sein, dass es nur darum geht, die Gegensätze zwischen zwei imperialistischen Banden auszunutzen, um mehr nicht. Es kann nicht die Rede davon sein, solche Abkommen durch geläufige idealistische Losungen, wie zum Beispiel die von der gemeinsamen »Verteidigung der Demokratie«, zu tarnen – Losungen, die lediglich zum schändlichsten Betrug an den Arbeitern taugen. Es ist wesentlich, dass die Arbeiter der kapitalistischen Länder in ihrem Klassenkampf gegen die eigene Bourgeoisie nicht durch Verträge gehindert werden dürfen, die der Arbeiterstaat aus taktischen Erwägungen abgeschlossen hat. Das ist die Grundregel, die in der ersten Periode des Bestehens der Sowjetrepublik strengstens eingehalten wurde.

Die Frage jedoch, ob ein Arbeiterstaat überhaupt Abkommen mit imperialistischen, darunter auch faschistischen, Staaten schließen darf, und wenn ja, unter welchen Bedingungen, diese Frage hat heute, wenn man sie abstrakt stellt, jegliche Bedeutung verloren. Es geht nicht um einen Arbeiterstaat im Allgemeinen, sondern um einen degenerierten und verfaulenden Arbeiterstaat. Die Natur eines Abkommens, sein Ziel und seine Grenzen, hängen unmittelbar davon ab, wer das Abkommen eingeht. Die Regierung Lenins war gezwungen, in Brest-Litowsk mit den Hohenzollern ein zeitlich begrenztes Abkommen zu schließen – zur Rettung der Revolution. Die Regierung Stalins kann Verträge nur im Interesse der herrschenden Kreml-Clique und zum Schaden der Interessen des internationalen Proletariats unterzeichnen. Die Abkommen des Kreml mit den,»Demokratien« bedeuteten für die entsprechenden Sektionen der Komintern Verzicht auf Klassenkampf, Erdrosseln revolutionärer Organisationen, Unterstützung des Sozialpatriotismus und, als Resultat, den Zusammenbruch der spanischen Revolution und die Sabotage des Klassenkampfs des französischen Proletariats. Das Abkommen mit Tschiang Kai-schek bedeutete die sofortige Liquidierung der revolutionären Bauernbewegung, den Verzicht auf die letzten Reste an Selbständigkeit der Kommunistischen Partei, die offizielle Ersetzung des Marxismus durch die Lehre Sun Yat-Sens. Das Teilabkommen mit Polen bedeutete die Zerstörung der polnischen kommunistischen Partei und die Beseitigung ihrer Führung. Jedes Abkommen der Kreml-Clique mit einer ausländischen Bourgeoisie richtet sich sofort sowohl gegen das Proletariat des Landes, mit dem der Vertrag geschlossen wird, wie gegen das Proletariat der UdSSR. Die bonapartistische Kreml-Bande kann nur noch überleben, indem sie, wo sie nur kann, das Proletariat schwächt, demoralisiert und unterdrückt.

In Großbritannien propagiert die Komintern gegenwärtig die Bildung einer »Volksfront« unter Einschluss der Liberalen. Auf den ersten Blick erscheint diese Politik völlig unverständlich. Die Labour Party ist eine mächtige Organisation. Man kann leicht verstehen, wenn die sozialpatriotische Komintern sich um Annäherung bemüht. Dagegen stellen die Liberalen eine völlig kompromittierte und politisch zweitrangige Größe dar.

Außerdem sind sie in mehrere Gruppen gespalten. Im Kampf um politischen Einfluss weist Labour natürlich jeden Gedanken an einen Block mit den Liberalen zurück, weil sie sich nicht mit Wundbrand infizieren wollten. Sie wehren sich – durch Ausschlüsse – ziemlich energisch gegen die Idee einer »Volksfront«. Warum beschränkt sich dann die Komintern nicht darauf, für eine Zusammenarbeit mit Labour zu kämpfen? Warum fordert sie stattdessen unablässig den Einschluss der liberalen Schatten der Vergangenheit in die Einheitsfront? Des Rätsels Lösung liegt darin, dass die Politik der Labour Party dem Kreml viel zu radikal ist. Ein Bündnis der Kommunisten mit den Labour-Leuten könnte eine antiimperialistische Tönung annehmen und würde damit eine Annäherung zwischen Moskau und London erschweren. Die Beteiligung der Liberalen an einer »Volksfront« bedeutete direkte und unmittelbare Zensur der Politik der Labour Party durch den Imperialismus. Unter dem Deckmantel dieser Zensur könnte Stalin dem britischen Imperialismus alle notwendigen Dienste erweisen.

Der Grundzug von Stalins internationaler Politik in den letzten Jahren ist folgender: Er treibt mit der Arbeiterbewegung Handel wie mit Petroleum, Mangan und anderen Waren. Diese Feststellung ist nicht die Spur übertrieben. Stalin betrachtet die Sektionen der Komintern in den verschiedenen Ländern und den Befreiungskampf der unterdrückten Völker als Wechselgeld im Handel mit imperialistischen Mächten. Braucht er die Hilfe Frankreichs, unterwirft er das französische Proletariat der Radikalen-Bourgeoisie. Muss er China gegen Japan unterstützen, unterwirft er das chinesische Proletariat der Kuomintang. Wie würde er im Falle eines Abkommens mit Hitler handeln? Hitler ist zweifellos auf Stalins Hilfe bei der Vernichtung der deutschen Kommunistischen Partei nicht in besonderem Maß angewiesen. Deren Bedeutungslosigkeit ist ja schon durch ihre gesamte bisherige Politik gesichert. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass Stalin einwilligen würde, jegliche Unterstützung der illegalen Arbeit in Deutschland einzustellen. Das ist eines der kleinsten Zugeständnisse, das er machen müsste, und er würde es recht gern tun. Man sollte zudem annehmen, dass diese geräuschvolle, hysterische und hohle Kampagne »gegen den Faschismus«, die die Komintern in den letzten Jahren führte, klammheimlich eingestellt wird. Es ist bemerkenswert, dass am 20. Februar, als unsere amerikanische Sektion beträchtliche Arbeitermassen zum Kampf gegen die amerikanischen Nazis mobilisierte, die Stalinisten es glattweg ablehnten, an dieser Gegendemonstration, die landesweit Widerhall fand, teilzunehmen; sie unternahmen alles in ihren Kräften Stehende, um deren Bedeutung herunterzuspielen und damit den amerikanischen Gesinnungsgenossen Hitlers zu helfen. Was liegt dieser wahrhaft verräterischen Politik zugrunde? Ist es nur konservative Borniertheit und der Hass gegen die Vierte Internationale? Oder ist es doch etwas Neues, zum Beispiel die jüngste Instruktion Moskaus, die den Herren »Antifaschisten« empfiehlt, sich einen Maulkorb anzulegen, um die Verhandlungen zwischen den Diplomaten Moskaus und Berlins nicht zu stören? Diese Annahme ist nicht so weit hergeholt. Die nahe Zukunft wird es zeigen.

Mit Sicherheit kann man eines sagen. Das Abkommen zwischen Stalin und Hitler würde nichts Wesentliches an der konterrevolutionären Funktion der Kreml-Oligarchie ändern. Es würde diese Funktion nur bloßlegen, würde sie offenkundiger machen und den Zusammenbruch von Illusionen und Verfälschungen beschleunigen. Unsere politische Aufgabe besteht nicht darin, Stalin vor der Umarmung Hitlers zu »bewahren«, sondern darin, beide zu stürzen.

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