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Leo Trotzki 19300425 Kurs auf Kapitalismus oder Sozialismus?

Leo Trotzki: Kurs auf Kapitalismus

oder Sozialismus?

[Nach Schriften 1.1. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1929-1936. Hamburg 1988, S. 171-191. Dort mit zahlreichen Fußnoten]

Prinkipo, 25. April 1930

1. Die Perspektiven der Liberalen und der Menschewiki

Der russische Liberalismus, der in all den Jahren der Emigration nichts dazugelernt hat, sieht in allen neuen Wirtschaftsformen und besonders in der Kollektivierung lediglich eine Rückkehr zur Leibeigenschaft. Vor kurzem lamentierte Struwe lauthals darüber, dass Russland zum 17. Jahrhundert zurückgekehrt sei, nur ohne Gott. Selbst wenn Struwe recht hätte, wäre die Revolution gerechtfertigt. So weit ist die bäuerliche Landwirtschaft zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert unter der aufgeklärten Führung der alten herrschenden Klassen gar nicht vorangekommen; der Weg zurück wäre also nicht lang. Den Bauern von Gott befreien, hieße auf jeden Fall, ein wichtiges Hindernis aus dem Weg zu räumen. Zu allem Unglück war Gott aber im 17. Jahrhundert eine unvermeidliche Ergänzung des bäuerlichen Inventars; damals bildete er zusammen mit dem Hakenpflug und der Schindmähre die landwirtschaftliche Dreieinigkeit. Nur der Motor und die Elektrizität können uns helfen, damit fertig zu werden. Diese Aufgabe steht uns noch bevor. Und wir werden sie auch lösen.

Der Liberalismus versucht so zu tun, als sehe er nicht den ungeheuerlichen wirtschaftlichen Fortschritt des Sowjetregimes, – den empirischen Beweis für die unermesslichen Vorteile des Sozialismus. Über das in der Geschichte bisher bekannte Tempo der industriellen Entwicklung schweigen sich die gelehrten Ökonomen der gestürzten Klassen einfach aus. Die menschewistischen Trabanten der Bourgeoisie wehren sich mit allen Kräften gegen dieses Tempo unter Hinweis auf die übermäßige »Exploitation der Bauern«. Darüber jedoch, warum zum Beispiel die Ausbeutung der indischen Bauern durch die Engländer weder in Indien noch in England selbst zu einem Tempo der industriellen Entwicklung geführt hat, das auch nur annähernd dem sowjetischen gleichgekommen wäre, sagen sie nichts. Warum denn nicht mal nach dem indischen Tempo unter MacDonald fragen, der die Arbeiter und Bauern in Indien erschießt, weil sie ihr eigenes Leben leben wollen. Derartige Fragen sind übrigens Leuten, die sich von einem MacDonald oder Müller aushalten lassen, wohl kaum verständlich...

Die liberal-menschewistischen Hinweise auf die Leibeigenschaft und die Zustände unter Araktschejew sind die klassischen Argumente der Reaktion gegen alle neuen Schritte auf dem Wege des historischen Fortschritts. Die philosophische Formel einer solchen vermeintlichen »Rückkehr« in die Vergangenheit lieferte der alte Hegel mit seiner »Triade«: These, Antithese, Synthese. Jene Klassen, die an der Verewigung der Antithese (d.h. des Kapitalismus) interessiert sind, werden unweigerlich in den ersten Schritten zur Synthese, d.h. zum Sozialismus, einfach die Rückkehr zur These, d.h. zur Leibeigenschaft, sehen. So klagten Ökonomen und Philosophen im Tross des Henkers Gallifet die Pariser Kommune wegen des reaktionären Versuchs an, die moderne Gesellschaft in eine mittelalterliche Kommune zu verwandeln. Marx schrieb zu diesem Thema: »Es ist das gewöhnliche Schicksal neuer geschichtlicher Schöpfungen, für das Seitenstück älterer und selbst verlebter Formen des gesellschaftlichen Lebens versehen zu werden, denen sie einigermaßen ähnlich sehen.« (»Der Bürgerkrieg in Frankreich«). Den heutigen bürgerlichen Kritikern ist auch nichts Neues eingefallen. Woher auch? Die »Ideologie« des russischen Liberalismus und der russischen »Demokratie« ist durchweg Plagiat, obendrein noch ein hoffnungslos veraltetes. Nicht umsonst schrieb Struwe vor 32 Jahren: »Je weiter östlich, desto schwächer und gemeiner ist die Bourgeoisie«. Die Geschichte hat hinzugefügt: »Und die Demokratie.«

Heute wiederholt Struwe seine Losung von 1893: »Lasst uns beim Kapitalismus in die Lehre gehen!«, mit dem Unterschied, dass diese Losung vor vierzig Jahren immerhin einen Schritt vorwärts bedeutete, jetzt hingegen einen Schritt zurück. Das zaristische Russland ist doch beim Kapitalismus in die Lehre gegangen. Das wichtigste Ergebnis dieser Lehre war die Oktoberrevolution. Ganz anders als in dem bekannten russischen Sprichwort schmeckten die Wurzeln dieser Lehre den »Lehrern« süß, die Früchte aber sehr bitter. Wie soll man sich aber künftig vor solchen »Früchten« schützen, wenn man den Kapitalismus restauriert? Die russische Bourgeoisie hat diesbezüglich im Ausland nichts weiter entdeckt als den ziemlich problematischen (und ziemlich instabilen) »Wohlstand« der zivilisierten Nationen. Aber das ist es ja eben: die kapitalistische Lehre der neuen Staaten ist keinesfalls eine Wiederholung der Geschichte der alten Staaten, auch wenn sie mit dem Ballast ihrer Sünden beladen ist. Die Oktoberrevolution traf die Weltbourgeoisie an ihrer schwächsten Stelle, das ist ihr Untergang. Der Traum, Russland könne nach der Oktoberrevolution zum friedlichen Kapitalismus zurückkehren, ist die fanatischste und dümmste aller Utopien. Viel »einfacher« ließe sich doch die friedliche Entwicklung des Kapitalismus in China und Indien garantieren! Übrigens liegt die Macht in Indien fest in den Händen der Zweiten Internationale. Sie können es ja versuchen, meine Herren! Wir sagen Ihnen gleich: es klappt nicht. China wie Indien gehen – gerade dank einer kurzen Lehrzeit beim Kapitalismus – ihrer eigenen Oktoberrevolution entgegen. Das ist eben die Dialektik der Weltentwicklung. Man entgeht ihr nicht.

Die Menschewiki hoffen auf eine baldige »Lösung« der zweifachen Aufgabe, die Wirtschaft des Landes dem Niveau seiner tatsächlichen ökonomischen Entwicklung anzupassen und die politisch-rechtlichen Voraussetzungen für eine solche Anpassung zu schaffen. Diese schlaue Formel zielt auf die Restauration des bürgerlichen Regimes ab. »Politisch-rechtliche Voraussetzungen« – damit ist die bürgerliche Demokratie gemeint. »Du bekommst Fabriken und Betriebe«, sagt der Menschewismus zur Bourgeoisie, »und wir haben dafür die Möglichkeit, Delegierte, Bürgermeister, Minister und Zörgiebels zu werden, ganz wie in Deutschland und England.« So sieht die »zweifache Aufgabe« aus. 1917 schützte der Menschewismus, damals an der Macht, die Bourgeoisie vor dem Oktober. Die Bourgeoisie misstraute jedoch diesem Schutz und suchte einen Kornilow. Jetzt schlägt der Menschewismus der Bourgeoisie vor, ihr durch »demokratische« Liquidierung des Oktobers den Weg frei zu machen. Aber die kapitalistischen Restauratoren begreifen, wie illusorisch eine »evolutionäre« Rückkehr zum Kapitalismus ist. Die bürgerliche Konterrevolution könnte ihr Ziel (wenn sie es eben könnte) nicht anders erreichen als durch jahrelangen Bürgerkrieg und neuerliche Verwüstung des Landes, das dank der Sowjetmacht wieder aus den Trümmern erstanden ist.

Der russische Kapitalismus wäre in seiner zweiten Auflage keineswegs eine einfache Fortsetzung oder Weiterentwicklung des vorrevolutionären oder, genauer gesagt, des Vorkriegskapitalismus, und zwar nicht nur deshalb, weil sie durch eine längere Periode von Krieg und Revolution voneinander getrennt wären, sondern auch, weil der Weltkapitalismus, der Herr des russischen, in dieser Zeit die schwersten Zusammenbrüche und Umwälzungen erfahren hat. Das Finanzkapital ist um vieles mächtiger, die Welt um vieles enger geworden. Der russische Kapitalismus könnte jetzt nur noch ein geknechteter Kolonialkapitalismus nach asiatischem Muster sein. Die russische Industrie- und Banken-Bourgeoisie ist in diesen Jahren, soweit sie ihr bewegliches Kapital gerettet hat, völlig in das System des ausländischen Kapitalismus integriert worden. Die Restauration des bürgerlichen Russland würde »echten«, »entschlossenen« Restauratoren nur die Möglichkeit geben, Russland von außen her kolonial auszubeuten. In China arbeitet das Auslandskapital mit Hilfe von Kompradoren, einer chinesischen Agentur, die sich bei der Plünderung des eigenen Volkes durch den Weltimperialismus bereichert. Eine Restauration des Kapitalismus in Russland würde eine chemisch reine Kompradorenkultur entstehen lassen, mit »politisch-rechtlichen Voraussetzungen« nach dem Muster Denikin-Tschiang-Kai-schek. Das alles würde natürlich mit Gott und altslawischen Ligaturen verbrämt, d.h. mit allem, was Seelenverkäufer für die »Seele« brauchen.

Für wie lange würde solche Herrlichkeit währen? Die Restauration hätte nicht nur die Arbeiter-, sondern auch die Bauernfrage zu lösen. Die Herausbildung einer Bauernschicht, die unter Stolypin gut voran kam, ging mit so schmerzlichen Proletarisierungs- und Pauperisierungsprozessen einher, mit einer solchen Zuspitzung aller sozialen Probleme im Dorf, dass der 1917 ausgebrochene Bauernkrieg ungeheure Ausmaße annahm. Einen anderen Weg als den von Stolypin eingeschlagenen gibt es für Bourgeoisie und Sozialdemokratie nicht, kann es auf der Grundlage des Kapitalismus auch nicht geben. Nur gibt es jetzt statt der 12 bis 15 Millionen Bauernhöfe 25 Millionen. Und die Herausbildung einer kapitalistischen Schicht würde eine Proletarisierung und Pauperisierung solchen Ausmaßes bedeuten, dass die Vorgänge, die zu dem Jahr 1917 führten, davor verblassen würden. Selbst wenn die Konterrevolution auf die Restauration der Gutsbesitzer verzichten würde – aber wie könnte sie das? – wäre sie sofort mit der Agrarfrage als dem Gespenst ihres zweiten Untergangs konfrontiert. In China, wo es so gut wie keinen Gutsbesitzerstand gibt, liefert die Agrarfrage nicht weniger Zündstoff als in Indien. Noch einmal: die kapitalistische Entwicklung in Russland wäre eine Entwicklung nach chinesischem Muster, wenn auch auf etwas höherem Niveau. Das ist die einzig denkbare Lösung der »zweifachen« Aufgabe der Menschewiki.

Die Schlussfolgerung liegt klar auf der Hand: Ganz abgesehen von den sozialistischen Perspektiven, die dadurch eröffnet werden, ist das Sowjetregime unter den heutigen internationalen Bedingungen für Russland das einzig denkbare Regime der nationalen Unabhängigkeit. Allerdings ohne Serafim Sarowski und ohne den Buchstaben »Jat«.

2. Alte Widersprüche unter neuen Bedingungen

Um die Hauptprobleme der heutigen UdSSR zu verstehen, muss man wissen, dass die heutige Wirtschaftsentwicklung, trotz des katastrophalen Einbruchs des Oktoberumsturzes, doch eine Fortsetzung der vorrevolutionären und Vorkriegsprozesse darstellt, wenn auch in völlig veränderter Form. Die Hoffnungen des Liberalismus und der Sozialdemokratie hängen ganz und gar an der Vergangenheit (Kapitalismus, Februarrevolution, Demokratie), aber in ihrer Kritik am heutigen Wirtschaftsregime ignorieren sie vollkommen, dass das Heute die Nachfolge des Gestern antritt. Die Dinge werden so dargestellt, als sei der Gegensatz von Stadt und Land durch die Oktoberrevolution geschaffen worden; in Wirklichkeit war es aber gerade dieser Gegensatz, der ihr zum Sieg verhalf, indem sich der proletarische Aufstand mit der Agrarrevolution verband.

Die Krise des sowjetischen Dorfes ist die Krise einer rückständigen kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Für das Gedeihen der großbäuerlichen Landwirtschaft, für ihre Stabilisierung, dann für ihre Rettung wurde von den herrschenden Klassen alles Menschenmögliche getan, zuerst während der sogenannten Befreiungsreformen von 1861, dann im Kampf mit der Revolution von 1905 mit Hilfe der Stolypinschen konterrevolutionären Gesetzgebung – und schließlich durch die Politik während der Doppelherrschaft von 1917. Aber all das hat nicht geholfen.

Die forcierte Entwicklung des russischen Kapitalismus unter dem Druck des internationalen Finanzkapitals verstärkte beim rückständigen russischen Bauern, der sich plötzlich marktwirtschaftlichen Verhältnissen ausgesetzt sah, beträchtlich die Tendenz, seinen Landbesitz zu vergrößern. Gerade der Kapitalismus gab den vorkapitalistischen Wunschträumen der Bauern von einer »Umverteilung des Landes« Auftrieb. Die im Prinzip durchaus realistischen Versuche, diesen bäuerlichen Tendenzen durch eine Politik entgegenzuwirken, die auf die Etablierung kapitalistischer Bauernwirtschaften abzielte, scheiterten »nur« deswegen, weil das Tempo der kapitalistischen Entwicklung mit dem Tempo der Entwicklung der Bauern zu Farmern nicht Schritt hielt. Die Abhängigkeit des zaristischen Russland vom Weltmarkt und vom Finanzkapital mit allen für den Bauern daraus folgenden Belastungen durch den Markt, den Fiskus und die Rüstung entwickelte sich mit Riesenschritten. Die Herausbildung einer Farmerschicht, einer Schicht von ökonomisch starken Landwirten, vollzog sich hingegen »im Schneckentempo«. Und dieses ungleiche Tempo hat der gutsherrlich-bürgerlichen Konterrevolution der Jahre 1907 bis 1917 das Genick gebrochen. Die revolutionäre Verstaatlichung des Bodens war überhaupt die einzig mögliche Maßnahme, um das ungeheuerliche Durcheinander in den Grundbesitzverhältnissen zu beseitigen, die das Land im Laufe der vorhergehenden geschichtlichen Epoche belastet hatten. Die Verstaatlichung bedeutete die Übergabe praktisch des gesamten Bodens an die Bauern. In Ansehung der vorhandenen landwirtschaftlichen Ausrüstung und der herkömmlichen Arbeitsmethoden bedeutete die Übergabe des Landes an die Bauern jedoch eine weitere Atomisierung des Landbesitzes und d.h. die Vorbereitung einer neuen Agrarkrise.

Der von der Vergangenheit ererbte Gegensatz von Stadt und Land konnte nicht einfach in einem Dutzend Jahre beseitigt werden. Ja, dieser Gegensatz musste sich in dem Augenblick verschärfen, in dem der Arbeiterstaat sich seiner Feinde entledigte und ernsthaft daran ging, die industrielle Entwicklung voranzutreiben. Der allgemeine Bevölkerungszuwachs und das Streben nach Selbständigkeit bei der jungen Bauerngeneration beschleunigten die Atomisierung des Landbesitzes in einem noch nie dagewesenen Maß. Die Entwicklung von Industrie und Kultur, die für die Bauern mit unvermeidlichen Opfern verbunden war, schritt zwar schnell genug voran, um bei den Bauern neue Interessen und Bedürfnisse zu wecken, aber immer noch zu langsam, um sie in ihrer Gesamtheit zufriedenzustellen. So spitzte sich der Gegensatz von Stadt und Land neuerlich enorm zu. Seine Ursache ist nach wie vor die völlig aussichtslose Lage der isolierten, rückständigen kleinbäuerlichen Wirtschaft.

Worin besteht nun der Unterschied zur vorrevolutionären Situation? Er ist enorm.

Erstens fehlt der private Großgrundbesitz, und die Bauern haben nicht mehr die Möglichkeit, sich einen Ausweg aus der Sackgasse oder vielmehr aus den 25 Millionen Sackgassen, in die die Landwirtschaft geraten ist, zu suchen, indem sie ihren Landbesitz durch die Expropriation der Großgrundbesitzer vergrößern. Diese Möglichkeit ist inzwischen, zum größten Nutzen für die weitere Zukunft des Landes, völlig ausgeschöpft. Die Bauern sind also gezwungen, andere Wege zu suchen.

Zweitens – und das ist ein nicht weniger wichtiger Unterschied – steht an der Spitze des Landes eine Regierung, die bei all ihren Fehlern bemüht ist, alles für die Hebung des materiellen und geistigen Niveaus der Bauern zu tun. In die gleiche Richtung gehen die Interessen der Arbeiterklasse, die, trotz aller Veränderungen in der Struktur der revolutionären Gesellschaft, die herrschende Klasse des Landes bleibt.

Unter dieser weiten historischen und letzten Endes einzig richtigen Perspektive ist die Behauptung der Liberalen, die Kollektivierung sei ganz und gar das Produkt nackter Gewalt, völlig absurd. Nachdem der Boden bis zum Äußersten parzelliert worden war – wie es der bäuerlichen Art, den Agrarfonds der Revolution zu nutzen, entsprach – wurde die Integration der Landparzellen, d.h. die Zusammenfassung zu größeren Wirtschaftseinheiten, für die Bauern zu einer Frage von Leben und Tod. In früheren Zeiten erhoben sich die Bauern immer wieder im Kampf gegen Unterdrückung und Beschneidung ihres Rechts auf Land, oder sie zogen scharenweise in unbesiedelte Gebiete, um sie zu kolonisieren, oder aber sie suchten ihr Heil bei allen möglichen Sekten, die ihnen für irdische Enge das himmlische Nichts versprachen.

Marx hat einmal gesagt, der Bauer habe nicht nur Vorurteile, sondern auch Urteilsvermögen. Diese beiden Charakterzüge tauchen in der Geschichte des Bauerntums in den verschiedensten Kombinationen auf. Der Wirklichkeitssinn des Bauern schlägt an einem bestimmten Punkt in finstersten Aberglauben um. Seine »Vorurteile« gedeihen umso üppiger, je hilfloser sich sein »Urteilsvermögen« angesichts der Ausweglosigkeit der bäuerlichen Landwirtschaft erweist.

Auch in der allgemeinen Kollektivierung fanden Vernunft und Vorurteile des Bauern ihren Ausdruck, wenn auch in einer neuen Form, auf höherem historischen Niveau und in anderen Proportionen. Zwölf Jahre Revolution – die Ablösung des Kriegskommunismus durch die NEP mit ihren verschiedenen Etappen – brachten den Bauern auf den Gedanken, neue Wege aus Not und Rückständigkeit zu suchen. Nur waren diese Wege noch nicht erprobt, ihre Vorteile noch nicht erwiesen. Die Regierungspolitik der Jahre 1923-1928 lenkte die Aufmerksamkeit der oberen bäuerlichen Schichten auf Ausbau und Verbesserung der Individualwirtschaften. Die untersten Schichten waren desorientiert. Der Gegensatz von Stadt und Land nahm diesmal die Form einer Krise der Getreideversorgung an. Die Regierung änderte jäh ihren Kurs, verschloss den Zugang zum Markt und schwenkte auf Kollektivierung um. Die Bauern folgten ihr bei diesem Kurswechsel. In ihren neuen Hoffnungen verbanden sich Vernunft und Vorurteil. Während eine Minderheit die Kollektivierungsbewegung bewusst mitmachte, folgte die Mehrheit nur ihrem Herdentrieb. Die Regierung war überrumpelt, völlig unvorbereitet, und ging leider ihrerseits mit viel mehr Vorurteilen als Vernunft an die Sache. Es kam zu einem ungeheuerlichen »Allunions«-Exzess Die im Nachhinein stets kluge Führung versuchte, den nationalen Exzess in provinzielle, kleinere Exzesse umzumünzen. Zu diesem Thema kann das Zentralkomitee jederzeit auf seinen Vorrat von im Voraus bespielten Platten zurückgreifen: Platten für die Kreis-, die Gebiets- und die Bezirksebene.

3. Was sind das eigentlich für Exzesse?

In einer unendlich langen und, ehrlich gesagt, in unmöglichem Russisch geschriebenen Antwort an »die Genossen Kollektivbauern« faselt Stalin davon, dass »manche« die Frage der Mittelbauern nicht korrekt angegangen, andere »manche« gar nicht bis zum Kernpunkt der Kolchosstatuten vorgedrungen seien (die übrigens erst nach allen Exzessen veröffentlicht wurden), – und welchen Verdruss das der weisen Führung bereitet habe. Das alles ist sehr interessant und stellenweise sogar rührend. Allerdings sagt Stalin absolut nichts darüber, wie 40 % der Bauern (von den 60 % im März kollektivierten Bauern zieht Stalin – ohne einen »Rückzug« zu machen – 20 % ab) mit den riesigen landwirtschaftlichen Unternehmen fertig werden sollen – ohne über ein Inventar zu verfügen, das doch die Größe dieser Unternehmen (ganz zu schweigen von ihrer gesellschaftlichen Form) einzig rechtfertigen könnte.

So groß der »Individualismus« des Bauern sein mag, vor unbestreitbaren ökonomischen Fakten gibt er nach. Davon zeugt die Entwicklungsgeschichte des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens selbst in den kapitalistischen Ländern. Gerade die Aufsplitterung des Produktionsprozesses nötigt zur Vergesellschaftung der Handels- und Kreditfunktionen. Nach der Revolution von 1905 umfassten Genossenschaften im zaristischen Russland Millionen von Bauernhöfen. Aber diese Genossenschaften dienten nur dem Einkauf und Verkauf; es handelte sich um Kredit-, Spar- und Darlehensgenossenschaften, nicht um Produktionsgenossenschaften. Den Grund, warum es bei der Aufsplitterung der Produktion blieb, muss man nicht in der Psychologie des Bauern suchen, sondern in der Art seiner Ausrüstung und seiner Produktionsmethoden, denn darauf beruht sein Individualismus.

Als das überraschende Tempo der Kollektivierung, das durch die ausweglose Situation der atomisierten bäuerlichen Landwirtschaft vorbereitet war und nun von der Bürokratie mit der Knute vorangetrieben wurde, den klaffenden Widerspruch zwischen den Produktionsmitteln und dem Ausmaß der Kollektivierung sichtbar machte, wurde eine rettende Theorie entwickelt, wonach große Kolchosen mit primitivem Inventar als sozialistische Manufakturen anzusehen seien. Das klingt gelehrt. Aber selbst die Scholastiker wussten, dass die Umbenennung einer Sache ihr Wesen nicht ändert.

Eine landwirtschaftliche »Manufaktur« könnte allenfalls durch Produktionsvorteile, die sich aus Manufakturmethoden der Bodenbearbeitung ergeben, gerechtfertigt werden, keinesfalls aber durch die »kollektivierte« Form der Kolchose. Bleibt zu fragen, warum solche Produktionsvorteile sich bisher nie ergeben haben?

Natürlich kann man mit Hilfe abstrakter statistischer Berechnungen leicht nachweisen, dass sogar die Kollektivierung des einfachsten landwirtschaftlichen Inventars Vorteile bringen kann. Es wird peinlich darauf geachtet, dass dieser Gedanke, der heute in Reden, Artikeln und Rundschreiben monoton wiederholt wird, nicht mit der Wirklichkeit konfrontiert wird. In Ansehung des bäuerlichen Inventars ist die Großfamilie die »natürlichste« aller Kollektivformen. Aber gerade für sie begann nach dem Oktober der dramatische Zerfall. Kann man denn allen Ernstes annehmen, es sei möglich, auf derselben Produktionsgrundlage jetzt ein dauerhaftes Kollektiv von einander fremden Familien aufzubauen?

Die große, auf bäuerliches Inventar gegründete Produktionsgenossenschaft ist bereits historisch erprobt worden, nämlich auf den Gütern, die gemäß dem System des Abarbeitens an Bauern übergeben wurden. Was kam dabei heraus? In der Regel wurden diese Güter noch schlechter als Bauernhöfe bewirtschaftet. Nach der Revolution von 1905 wurden solche »Abarbeitungsgüter« in großer Zahl liquidiert und von der Bauernbank, in Parzellen aufgeteilt, an die Bauern verkauft. Die Produktions-»Kooperation«, die auf einer Kombination von Großgrundbesitz und bäuerlichem Inventar beruhte, hat sich ökonomisch als nicht lebensfähig erwiesen. Die großen Güter hingegen, die mechanisiert waren und wo auf richtige Saatfolge geachtet wurde usw., überstanden die Erschütterungen von 1905 und die der folgenden Jahre gut. Erst die Oktoberrevolution hat sie verstaatlicht. Natürlich ging es bei den »Abarbeitungsgütern« nur um die Bearbeitung des Bodens aus Großgrundbesitz. Aber die Gefahr liegt doch darin, dass bei künstlicher, d.h. vorzeitiger Bildung großer Kolchosen, in denen die Leistung des einzelnen Bauern in der Leistung von Dutzenden und Hunderten anderer Bauern aufgeht, die mit derselben individuellen Ausrüstung arbeiten, die Bodennutzung, weil der persönliche Anreiz fehlt, noch geringer sein kann als die in der individuellen Bauern Wirtschaft erzielte.

Die Kolchose, die auf der einfachen Zusammenlegung des bäuerlichen Inventars beruht, verhält sich zu einem landwirtschaftlichen Unternehmen sozialistischen Typs wie ein »Abarbeitungsgut« zum landwirtschaftlichen Großunternehmen kapitalistischen Typs. Das ist ein erbarmungsloses Urteil über die Idee von der »sozialistischen Manufaktur«.

Bucharin, der die materielle Basis der Kolchosen durch theoretischen Eigenbau ersetzt, erklärt, bei starkem Zurückbleiben des landwirtschaftlichen Wachstums gegenüber dem der Industrie sei »der einzig mögliche Ausweg die sozialistische Rekonstruktion der Landwirtschaft«. Die allgemeine Kollektivierung wird also nicht als materiell vorbereitete Etappe der Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse gesehen, sondern als einziger Ausweg aus den Schwierigkeiten. Die Frage wird sozusagen unter dem Aspekt einer rein administrativen Teleologie erörtert.

Bucharin hat sicherlich recht, wenn er sagt, die heutige Entwicklung des Landes sei keine einfache Rückkehr zu den Formen des »Kriegskommunismus«. Es ist in keiner Weise eine Rückkehr zur Vergangenheit. In der gegenwärtigen Wende liegen ohne Zweifel die besten Voraussetzungen für die Zukunft. Aber es dreht sich vor allem um die Proportionen, um das richtige Verhältnis. Die jetzige Wende der Politik schafft die Voraussetzungen für die sozialistische Zukunft und bringt akute und tödliche Gefahren mit sich. Bucharin erwähnt das allerdings nur im Vorübergehen: »Die durch das Wachstum der Kolchosen und Sowchosen bedingte riesige Nachfrage nach komplizierten Maschinen, Traktoren, Mähdreschern, Kunstdünger usw. übertrifft das Angebot; die »Schere« öffnet sich immer weiter und obendrein mit ziemlicher Geschwindigkeit.« Diese erstaunlichen Zeilen sind ohne jede Schlussfolgerung in einen euphorischen Artikel eingebaut. Indes besagt das Bild von der Schere, die sich zwischen Fundament und Dach auftut, nichts anderes als die kommende Katastrophe.

Bucharin unterstreicht die Bedeutung des Planprinzips für die kollektivierte Landwirtschaft und die Bedeutung einer engen Verbindung der Bezirkskolchosen mit der Industrie und dem örtlichen Sowjetapparat und meint: »Wir haben es hier mit der embryonalen Form der künftigen Überwindung des Bürokratismus zu tun.« Jawohl, mit der embryonalen Form. Aber wehe dem, der den Embryo für einen Säugling oder den Säugling für einen Jugendlichen hält. Wird die Form der Kolchose nicht durch ihre technische Basis legitimiert, so entsteht unweigerlich eine parasitäre Wirtschaftsbürokratie, die schlimmste von allen. Der Bauer, der in der Geschichte schon oft genug für jedweden Staats-Bürokratismus eine passive Stütze abgab, toleriert den Wirtschafts-Bürokratismus nicht. Das darf man nicht vergessen.

Die Kollektivierung soll die Natur des Bauern ändern, sagt Bucharin immer wieder. Zweifellos. Aber dafür brauchen wir Traktoren, Wendepflüge und Mähdrescher, nicht deren »Idee«. Der Platonismus war im Produktionsprozess noch nie erfolgreich. Die momentan lächerliche Zahl von Traktoren soll natürlich laut Plan immer schneller wachsen. Man kann aber nicht die Kolchosen von heute auf die Traktoren von morgen aufbauen. Und obendrein brauchen die Traktoren Treibstoff. Die riesigen Anbauflächen für sie zu schaffen, ist eine gigantische Aufgabe der Produktion, der Organisation und des Transports. Aber auch ein Traktor mit Treibstoff ist für sich genommen nichts, er wird erst als Glied einer Kette effizient, deren Glieder die wichtigsten Errungenschaften der Technik und der allgemeinen Kultur sind. All das lässt sich verwirklichen. All das wird auch verwirklicht. Aber dafür brauchen wir einen richtigen Zeitplan; ohne ihn wird eine wirtschaftliche Operation ebenso schiefgehen wie eine militärische. Unter günstigen inneren und internationalen Bedingungen können die materiellen und technischen Voraussetzungen der Landwirtschaft im Lauf von etwa 10 bis 15 Jahren grundlegend verändert werden und damit die Produktionsgrundlage für die Kollektivierung sichergestellt werden. Man kann jedoch in all den Jahren, die uns von diesem Zustand trennen, auch ohne weiteres die Sowjetmacht mehrfach zu Fall bringen …

Aber was kann man schon von Bucharin verlangen: Er stößt sich ab von der Realität, diesmal mit dem linken Fuß, und enteilt »in rasendem Galopp« zu den Höhen metaphysischer Spekulation. Und wir fürchten schon, dass Bucharin sich wieder einmal für das von Stalin zerschlagene Porzellan verantworten muss. Doch geht es uns nicht um Bucharin.

Als die totale Kollektivierung ihren Höhepunkt erreicht hatte, schrieb die internationale bürgerliche Presse, zumindest die am ehesten vorausschauende, d.h. die zu langfristig kalkulierten Provokationen fähige, immer wieder, dass es diesmal keinen Rückzug geben könne. Entweder der Versuch wird zu Ende geführt, oder die Sowjetmacht geht unter. Dabei bedeutete für diese Presseorgane auch »das Zu-Ende-Führen des Versuchs« nichts anderes als den Untergang der Sowjetmacht. Andererseits blies die offizielle sowjetische Presse seit Beginn der Kampagne pausenlos zum Angriff, ohne Sinn und Verstand und ohne Kontrolle. Stalin rief die Dorfarmut direkt dazu auf, die Kulaken als Klasse »erbarmungslos zu vernichten«. Einen Missklang brachte nur die Linke Opposition hinein, die schon seit Herbst vergangenen Jahres darauf hingewiesen hatte, dass das Durcheinander nicht aufeinander abgestimmter Tempi rasch zu einer Krise führen werde. Es zeigte sich sehr bald, dass nur die Presse des Großkapitals auf der einen Seite und die linke kommunistische Presse auf der anderen wussten, wovon sie sprachen. Beim Angriff an der dörflichen Front zeigten sich sehr bald Widersprüche, die sich in kürzester Zeit unerträglich verstärkten. Dann begann die Entlarvung von Exzessen, die Erleichterung des Austritts aus den Kolchosen, der De-Facto-Stopp der Entkulakisierung, usw. Gleichzeitig war es streng verboten, den Rückzug »Rückzug« zu nennen. Und niemand weiß, was morgen sein wird.

Dennoch wird man irgendeinen Weg finden müssen. Wenn die herrschende Partei es nicht schafft, dann wird sich der elementare Entwicklungsprozess Bahn brechen – auf dem Rücken der Diktatur. Je früher, umfassender und mutiger die »Pläne« revidiert werden, genauer gesagt: je früher ein kollektiv ausgearbeiteter Plan das Chaos der bedrohlichen »Erfolge« ablöst, umso weniger wird die Korrektur der begangenen Fehler schmerzen, umso besser wird man die größten Disproportionen in der Entwicklung von Stadt und Land ausgleichen, umso leichter neue Fristen gewinnen und sie den »Fristen« der heranreifenden europäischen Revolution anmessen können.

Das Schlimmste ist der augenblickliche ungeordnete Rückzug, der durch Bürokratenmärchen und -phrasen maskiert wird. Die Partei ist beunruhigt – schweigt aber. Und das ist das Gefährlichste.

4. Nur die Partei kann einen Ausweg finden

Die Bourgeoisie kam zur Macht und lenkte die Geschicke der Gesellschaft unter ständigen Kämpfen verschiedener Parteien und Richtungen, die nicht selten die Form eines Bürgerkrieges annahmen. Obwohl das Proletariat weitaus einheitlicher ist als die Bourgeoisie, ist doch seine Einheitlichkeit nicht absolut. Die Arbeiterbürokratie ist nicht nur ein Werkzeug des Proletariats, um auf andere Klassen einzuwirken, sondern ebenso eines für andere Klassen, um auf das Proletariat einzuwirken. Hinzu kommt die komplizierte Verflechtung der internationalen Beziehungen, die letztlich entscheidend sind. Das alles erklärt zur Genüge, wieso auf der Basis der proletarischen Revolution in der herrschenden Partei große Meinungsverschiedenheiten bis hin zur Fraktionsbildung aufkommen können und aufkommen. Durch bloßes Verbot lässt sich das nicht ändern.

Der unvermeidliche Kampf, der ja nicht nur auf der Grundlage, sondern im Interesse der Diktatur geführt wird, muss derart geführt werden, dass die Kosten der Ausarbeitung der richtigen politischen Linie minimiert werden. Die Stalinsche Bürokratie hat versucht, sich die politischen Unkosten, die durch die Existenz einer Partei entstehen, überhaupt vom Halse zu schaffen. Es zeigte sich aber, dass die größten Unkosten durch die bürokratische Zickzackpolitik verursacht werden. Der Zickzackkurs ist untrennbar mit dem Regime eines Apparats verbunden, der der Kontrolle der Partei entronnen ist und die Verantwortung für die eigenen Fehler jedes mal von sich schiebt. Es wäre verhängnisvoll zu glauben, die Diktatur des Proletariats habe ein Recht auf unbeschränkte Zickzackwendungen. Nein, ihr historischer Kredit ist begrenzt.

Der Parteikongress ist seit zweieinhalb Jahren nicht einberufen worden, und in dieser Zeit ist die Politik mehrfach in den wesentlichsten Fragen auf einen anderen Kurs umgeschwenkt. Auch jetzt wird der Kongreß, der gegen den Willen der Parteispitze einberufen wurde, vom herrschenden Apparat nicht als Ausweg aus den inneren Schwierigkeiten empfunden und gewertet, sondern als ein ärgerliches Hindernis, ja, direkt als Gefahr. Wie erklärt es sich, dass in den Jahren des Bürgerkriegs der Kongress jährlich und sogar zweimal jährlich einberufen wurde, jetzt aber, im Frieden, nach eindeutigen Erfolgen der sozialistischen Industrie und nachdem, wie die Führung versichert, »die Hinwendung der Bauernschaft zum Sozialismus gesichert ist«, eine derartig unerträgliche parteiinterne Spannung herrscht, dass der Kongress zu einer Last, einem Rätsel und einer Gefahr wird?

Man kann dagegenhalten, dass der Hauptfeind nicht die Bourgeoisie im eigenen Land, sondern die internationale Bourgeoisie ist, die sich nach dem Krieg konsolidiert hat. Das mag stimmen. Aber die äußere Gefahr kann bei einer tatsächlichen Festigung der sozialistischen Grundlagen im Inneren keinesfalls die Bürokratisierung des Regimes erklären. Eine sozialistische Gesellschaft könnte gegen den äußeren Feind auf der Grundlage der breitesten, entfaltetsten und uneingeschränktesten Demokratie kämpfen. Die systematische Verschlechterung des inneren Regimes muss innere Gründe haben. Der Druck von außen kann nur im Zusammenhang mit dem Verhältnis der Klassen im Inneren verstanden werden.

Wer die Verschlechterung des Parteiregimes mit dem notwendigen Kampf gegen die inneren Feinde rechtfertigt, der gibt stillschweigend zu, dass das Kräfteverhältnis sich in den letzten Jahren zuungunsten des Proletariats und seiner Partei verschoben hat. Stellt denn der Kulak heute eine größere Gefahr dar als die gesamte Bourgeoisie, den Kulaken eingeschlossen, in den Jahren des Bürgerkrieges, als die alten herrschenden Klassen ihr Selbstvertrauen noch nicht verloren hatten, mit der baldigen Niederlage des Bolschewismus rechneten und über eigene Armeen verfügten? Eine solche Annahme widerspricht doch wohl der Wirklichkeit. Jedenfalls ist damit nicht die offizielle Doktrin in Übereinstimmung zu bringen, die ringsum nichts anderes sieht als die systematische Festigung des sozialistischen Sektors und die Verdrängung der kapitalistischen Elemente.

Um so weniger lässt es sich begreifen und erklären, warum heute jegliche Meinungsverschiedenheit mit der Führung, d.h. mit der militarisierten Stalin-Fraktion, jeglicher Versuch der Kritik, jeder von der Parteispitze nicht vorausgesehene Vorschlag sofort zu einem organisierten Pogrom führt, der wie eine Pantomime wortlos abläuft, gefolgt von der »theoretischen« Liquidierung des Gegners, die eher einem rituellen Begräbnis gleichkommt, das von trägen Küstern und Psalmisten aus der roten Professorenschaft veranstaltet wird.

Anerkennen, dass das heutige Parteiregime das einzig denkbare und seine Entwicklung eine gesetzmäßige und unumstößliche ist, hieße zugeben, dass der Untergang der Partei und damit der Revolution unvermeidlich ist. Es fehlt in der Tat nicht viel, um die Parteikongresse gänzlich abzuschaffen, indem man zum Beispiel sagt, dass sie »je nach Bedarf« stattfinden werden. Was würde das am heutigen Regime ändern? So gut wie nichts. Ein Apparat aber, der in sich selbst Sanktionen gegen sich finden muss, kann gar nicht anders, als sich selbst mit einer Person zu krönen. Die Bürokratie braucht einen obersten Schiedsrichter, und dazu ernennt sie den, der ihrem Selbsterhaltungstrieb am meisten entspricht. Das ist das Wesen des Stalinismus, des Wegbereiters für den Bonapartismus in der Partei.

Der bürokratische Zentrismus beginnt seine Karriere als eine Strömung, die zwischen zwei radikalen Strömungen der Partei, die die bürgerliche und die proletarische Linie widerspiegeln oder ausdrücken, laviert. Bonapartismus, das ist ein Staatsapparat, der sich offen von allen traditionellen gesellschaftlichen Bindungen, auch an Parteien, gelöst hat und nun als ein mächtiger »Vermittler« »frei« zwischen den Klassen laviert. Der Stalinismus ist eine unbewusste, aber umso gefährlichere Vorstufe des Bonapartismus. Das muss man begreifen. Es ist höchste Zeit dazu.

Welche Faktoren haben trotz der wirtschaftlichen Erfolge die politische Lage verschlechtert und das Diktaturregime überfordert? Das sind Faktoren von zweierlei Art: die einen resultieren aus der Verfassung der Massen, die anderen aus dem Zustand der Organe der Diktatur.

Philister haben oft genug wiederholt, die Oktoberrevolution sei das Ergebnis der »Illusionen« der Massen gewesen. Das stimmt insofern, als weder der Feudalismus noch der Kapitalismus die Massen im Geist der materialistischen Geschichtsauffassung erzogen haben. Aber Illusion ist nicht gleich Illusion. Der imperialistische Krieg, der die Menschheit ausplünderte und ausbluten ließ, wäre ohne die patriotischen Illusionen unmöglich gewesen, die vor allem die Sozialdemokratie zu nähren suchte. Die Illusionen der Massen hinsichtlich der Oktoberrevolution bestanden in der überzogenen Hoffnung auf eine rasche Änderung ihres Schicksals. Aber ist bisher auch nur irgendetwas in der Geschichte ohne schöpferische Illusionen dieser Art erreicht worden?

Außer Zweifel steht jedoch, dass der reale Gang der Revolution die Massen desillusioniert und damit auch das Mehr an Kredit gestrichen hat, das die Massen der herrschenden Partei 1917 einräumten. Anstelle der Illusionen traten natürlich größere Erfahrung und das bessere Verstehen der realen Kräfte des historischen Prozesses. Aber man darf nicht außer acht lassen, dass die Desillusionierung viel schneller eintritt, als sich das theoretische Verständnis entwickelt. Das ist einer der Hauptgründe für die historischen Erfolge der Konterrevolution, soweit diese Gründe in Veränderungen der Psychologie der revolutionären Klassen selbst zu suchen sind.

Das andere Gefahrenelement liegt in der Entartung des Apparats der Diktatur. Die Bürokratie hat viele Eigenschaften einer herrschenden Klasse entwickelt und wird vom größten Teil der werktätigen Massen als eine solche empfunden. In ihrem Kampf um Selbsterhaltung unterdrückt die Bürokratie das geistige Leben der Massen, weckt in ihnen bewusst neue und keinesfalls revolutionäre Illusionen und verzögert so den Verzicht auf Illusionen zugunsten einer realistischen Einschätzung der Ereignisse. Vom marxistischen Standpunkt aus ist es völlig klar, dass die sowjetische Bürokratie nicht zu einer neuen herrschenden Klasse werden kann. Ihre fortschreitende Isolierung und ihre wachsende Bedeutung als gesellschaftliche Kommandogewalt führen unweigerlich zur Krise der Diktatur, die entweder in eine Wiedergeburt der Revolution auf höherer Stufe oder aber in die Restauration der bürgerlichen Gesellschaft ausläuft. Diese drohende Alternative, die alle spüren, aber nur wenige erkennen, erzeugt eine äußerste Spannung im heutigen Regime.

Ohne Zweifel ist der wachsende Bürokratismus ein Ausdruck für die allgemeinen Widersprüche des sozialistischen Aufbaus in einem Land. Das heißt, auch bei richtiger Führung wäre der Bürokratismus bis zu einem gewissen Grad eine Gefahr. Aber gerade um Grade und Fristen handelt es sich ja. Akzeptiert man die Fortexistenz des Weltkapitalismus, vor allem aber des europäischen Kapitalismus in den nächsten Jahrzehnten, so gibt man zu, dass der Sturz der Sowjetmacht unvermeidlich ist; die vorbonapartistische Entartung des Apparats würde dann offenen konterrevolutionären Verschiebungen und Umsturzbewegungen vom thermidorianischen oder direkt bonapartistischen Typus den Weg bereiten. Eine solche Perspektive sollte man sich immer vor Augen halten, um sich in den laufenden Ereignissen richtig orientieren zu können. Wir wiederholen, alles hängt von den Fristen ab, die uns aber nicht im Voraus bekannt sind, weil sie durch den Kampf lebendiger Kräfte bestimmt werden. Hätte die Revolution in Deutschland und China nicht so schändliche, fatale Niederlagen erlitten, so wäre die Weltlage heute eine ganz andere. So kommen wir von den objektiven Bedingungen immer wieder auf das Problem der Führung zurück. Uns geht es dabei nicht um Personen oder Personengruppen (so wichtig diese Frage auch ist). Vielmehr geht es uns um das Verhältnis zwischen Führung und Partei, zwischen Partei und Klasse.

Unter diesem Gesichtspunkt muss man auch die Frage des Regimes der KPdSU und der Komintern sehen. Wir hören von einer neuen Theorie einiger schwankender Elemente der Opposition (Okudschawa und andere), wonach aus der augenblicklichen »linken« Politik Stalins angeblich wie von selbst ein gesünderes Regime »erwachsen« wird. Dieser optimistische Fatalismus ist die übelste Karikatur des Marxismus. Die heutige Führung ist kein unbeschriebenes Blatt. Sie hat ihre eigene Geschichte, die eng mit ihrer »Generallinie« verknüpft und von ihr untrennbar ist. Die Geschichte der Stalin-Führung ist eine Geschichte beispielloser Fehler und verheerender Niederlagen des internationalen Proletariats. Die »Links«-Wendung der heutigen Führung ist ganz und gar die Folge ihres gestrigen Rechtskurses. Je heftiger die Wendung, umso härter der bürokratische Druck, der die Partei hindert, den Widerspruch zwischen gestern und heute zu begreifen.

Die fatale Verknöcherung des Parteiapparats ist nicht einfach das Ergebnis objektiver Widersprüche, sondern das Resultat der konkreten Geschichte dieser Führung, in der diese Widersprüche verzerrt zum Ausdruck kamen. In dieser Führung mit ihrer künstlichen Auslese der Leute oben und unten kristallisieren sich alle Fehler der Vergangenheit, in ihr sind auch alle zukünftigen Fehler angelegt, vor allem aber ihre weitere bonapartistische Entartung. Hier liegt die Hauptgefahr für die Oktoberrevolution, die unmittelbarste Gefahr.

Die linken Zickzacks besagen keineswegs, dass die zentristische Führung in der Lage ist, sich aus eigenem bürokratischen Antrieb in eine marxistische Führung zu verwandeln. Sie besagen vielmehr etwas ganz anderes: in den objektiven Verhältnissen und in der Stimmung der Arbeiterklasse macht sich ein tiefgehender Widerstand gegen die thermidorianischen Tendenzen geltend. Der Übergang zu einem thermidorianischen Kurs ist nach wie vor ohne offene konterrevolutionäre Erschütterungen nicht möglich. Obwohl die Führung die Partei erstickt, muss sie doch gelegentlich auf sie achten, denn über die Kanäle der Partei empfängt sie – wenn auch nur dumpf und unartikuliert – Warnsignale der Klassenkräfte. Die Diskussion aktueller Fragen, der Kampf der Ideen, die Konferenzen und die Kongresse – all das ist durch eine parteiinterne Agentur ersetzt worden, durch das Abhören von Telefongesprächen und die Zensur von Korrespondenzen. Aber auch auf solchen Schleichwegen wird der Druck der Klassen spürbar. Den Anstoß zur Linkswendung hat also nicht die Führung gegeben; auch der Grund für die Abruptheit der Wendung liegt außerhalb der Führung. Sie hat lediglich die mangelnde Reflexion, die Nachtrabpolitik und die Inkonsequenz zu verantworten. Wer sich mit der Führung nur deshalb abfindet, weil sie sich unter dem Druck der Ereignisse um ihre eigene Achse gedreht hat, ohne ihre Fehler und Verbrechen zuzugeben und zu begreifen, und weil sie nun beginnt, auf dem neuen Wege neue Fehler zu machen, ist ein Spießer, der nicht einmal das Zeug zu einem Bürokraten hat, geschweige denn zu einem Revolutionär. Aber vielleicht gibt es in der Tat »keinen anderen Weg«, wie die Radeks, Sinowjews, Kamenjews, Smilgas und andere Ideologen von Gottes Gnaden jammern. Ihr Gejammer besagt doch nur, die Revolution sei ohnehin verloren, und so sei es immerhin besser, unterm »Volk« zu sein: in Gesellschaft stirbt sich's schöner. Mit diesen maroden Stimmungen haben wir nichts gemein.

Nirgends steht geschrieben, nirgends ist bewiesen, dass die heutige Partei, die im Augenblick als Partei nicht existiert, gleichwohl aber in der Lage ist, stillschweigend das Steuer der Führung um 180° herum zuwerfen, nicht doch noch die Kraft findet – wenn die nötige Initiative ergriffen wird –, sich selbst durch eine vollständige Umgruppierung der Kräfte aufgrund einer kollektiven Überprüfung des zurückgelegten Weges zu regenerieren. Institutionen, die weitaus weniger beweglich, die viel stärker verknöchert waren als die Kommunistische Partei, haben schon mehrfach in der Geschichte ihre Fähigkeit bewiesen, aus einer tiefen inneren Krise herauszufinden und sich zu erneuern. So und nur so stellt sich uns das Problem, unter nationalem wie unter internationalem Gesichtspunkt.

Der Standpunkt der Opposition hat nichts mit der selbstzufriedenen Metaphysik des Genossen Okudschawa und anderer zu tun; wir setzen einen lebendigen Richtungsstreit voraus und demzufolge höchste Aktivität der Linken Opposition. Nur politische Bankrotteure bürden die Verantwortung in kritischen Augenblicken dem objektiven Gang der Ereignisse auf und suchen einen Ausweg in tröstlichen Prophezeiungen. Nachgiebigkeit und Nachtrabpolitik charakterisieren aufs beste Perioden des Abgleitens und der Entartung. Im Kampf dagegen ist der Bolschewismus groß geworden. Die Linke Opposition setzt seinen historischen Kurs fort. Ihre Pflicht ist es, sich nicht im Zentrismus aufzulösen, sondern ihre Aktivität auf der ganzen Linie zu steigern.

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