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Leo Trotzki 19321000 Leninismus und Stalinismus

Leo Trotzki: Leninismus und Stalinismus

Interview-Antworten zu einem Artikel von Louis Fischer

[Nach Schriften 1.1. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1929-1936. Hamburg 1988, S. 353-361. Dort mit zahlreichen Fußnoten]

Büyük Ada, Oktober 1932

Frage: »Lenin und alle seine Anhänger waren damals [1917] davon überzeugt, dass nur eine Revolution im Ausland sie vor dem sicheren Untergang retten könnte … Sie hatten keine Hoffnung zu überleben, wenn nicht Revolutionen in Europa und Asien die äußeren Feinde schwächen und dem Roten Russland eine Atempause zur inneren Festigung verschaffen würden«, schreibt Fischer. Sprach Lenin nur im unmittelbar militärischen und politischen Sinn von der Rettung Russlands vor Niederlage und Unterjochung, oder dachte er dabei an die gesamte Perspektive der Entwicklung Russlands auf eigener Erde von der Diktatur des Proletariats bis zum kommunistischen Endziel?

Antwort: Diese Behauptung Fischers zeugt, wie eine Reihe anderer, von seiner mangelnden Vertrautheit mit der Theorie und Geschichte des Bolschewismus. 1917 gab es keinen einzigen Bolschewisten, der die Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaft in einem einzigen Land für möglich hielt – am wenigsten in Russland Im Anhang zu meiner Geschichte der Russischen Revolution stellte ich detailliert und mit Dokumenten belegt die Auffassungen der Bolschewistischen Partei von der Oktoberrevolution dar. Diese Studie wird es hoffentlich in Zukunft unmöglich machen, Lenin die Theorie des Sozialismus in einem einzelnen Land zuzuschreiben. Hier will ich mich mit einem einzigen Zitat begnügen, das nach meiner Meinung entscheidend ist. Lenin starb im Januar 1924; drei Monate später legte Stalin in einem Buch Lenins Konzeption der proletarischen Revolution dar. Ich zitiere wörtlich:

»Aber die Macht der Bourgeoisie stürzen und die Macht des Proletariats in einem Land aufrichten, heißt noch nicht, den vollen Sieg des Sozialismus sichern. Die Hauptaufgabe des Sozialismus – die Organisierung der sozialistischen Produktion – steht noch bevor. Kann man diese Aufgabe lösen, kann man den endgültigen Sieg des Sozialismus in einem Lande erreichen ohne die gemeinsamen Anstrengungen der Proletarier mehrerer fortgeschrittener Länder? Nein, das kann man nicht. Zum Sturz der Bourgeoisie genügen die Anstrengungen eines Landes – davon zeugt die Geschichte unserer Revolution. Zum endgültigen Sieg des Sozialismus, zur Organisierung der sozialistischen Produktion, genügen nicht die Anstrengungen eines Landes, zumal eines Bauernlandes wie Russland – dazu sind die Anstrengungen der Proletarier mehrerer fortgeschrittener Länder notwendig ...«

Die Darstellung dieser Gedanken beendet Stalin mit den Worten: »Das sind in allgemeinen Zügen die charakteristischen Merkmale der Leninschen Theorie der proletarischen Revolution.« (Über die Grundlagen des Leninismus, von mir hervorgehoben, L.T.)

Erst im Herbst 1924 entdeckte Stalin, dass gerade Russland, im Unterschied zu anderen Ländern, mit eigenen Kräften eine sozialistische Gesellschaft aufbauen kann. »Das Proletariat des siegreichen Landes, das seine Macht gefestigt hat und die Führung über die Bauernschaft ausübt«, schrieb er in einer neuen Auflage derselben Arbeit, »kann und muss die sozialistische Gesellschaft aufbauen.« Kann und muss! Die Verkündigung dieser neuen Konzeption schließt mit denselben Worten: »Das sind in allgemeinen Zügen die charakteristischen Merkmale der Leninschen Theorie der proletarischen Revolution.« Im Verlauf eines einzigen Jahres schrieb Stalin Lenin zwei einander direkt entgegengesetzte Ansichten über die Grundfrage des Sozialismus zu. Die erste Version entspricht der wirklichen Tradition der Partei; die zweite nahm erst nach Lenins Tod, im Verlauf des Kampfes gegen den »Trotzkismus«, in Stalins Kopf Gestalt an.

Frage: Ist die These berechtigt, die Weltrevolution oder eine Reihe von sozialen Aufständen seien spätestens seit 1921 »keine unmittelbare Möglichkeit mehr gewesen«?

Antwort: Was ist eine »unmittelbare Möglichkeit«? Im Jahre 1923 bestand in Deutschland eine wirkliche revolutionäre Situation, was hingegen zu einer siegreichen Revolution fehlte, war eine richtige Strategie. Zu dieser Frage schrieb ich damals eine Studie, Lehren des Oktobers, die als Vorwand für meine Entfernung aus der Regierung benutzt wurde.3

In den Jahren 1925 bis 1927 wurde die Revolution in China durch die falsche Revolutionsstrategie der stalinistischen Fraktion zugrunde gerichtet Dieser Frage widme ich mein Buch Probleme der Chinesischen Revolution Es ist völlig klar, dass die deutsche und die chinesische Revolution im Falle ihres Sieges das Gesicht Europas und Asiens, vielleicht das der ganzen Welt, verändert hätten. Ich wiederhole: Wer die Probleme der revolutionären Strategie ignoriert, sollte am besten überhaupt nicht von Revolutionen sprechen.

Frage: Stimmt es, dass »sich eine Revolution nur auf nationalem Boden entwickelt, dass sie nicht durch Import von Geld, Broschüren oder Agitatoren zustande kommt und dass die Kapitalisten zur Unterminierung des Kapitalismus mehr als die Kommunisten beitragen werden«? Ist es richtig, dass »ein wirkliches Sowjetsystem, ein nahezu sozialistisches System durch seine bloße Existenz... die Sache der Revolution in anderen Ländern fördern muss« und dass »eine starke sozialistische Sowjetunion der wirkungsvollste Ansporn zur Weltrevolution ist«?

Antwort: Die in dieser Frage zitierten Aussagen [von L. Fischer] widersprechen einander. Dass die Existenz der Sowjetunion von internationaler revolutionärer Bedeutung ist, ist ein von Freund und Feind gleichermaßen anerkannter Gemeinplatz. Und doch hat die proletarische Revolution in den letzten Jahren trotz der Existenz der Sowjetunion in keinem anderen Land einen Sieg verzeichnen können. In Russland hat das Proletariat gesiegt, obwohl damals nirgendwo ein Sowjetstaat existierte. Für den Sieg sind nicht nur bestimmte objektive – innere wie äußere – Bedingungen notwendig, sondern auch bestimmte subjektive Faktoren – Partei, Führung, Strategie. Unsere Meinungsverschiedenheiten mit Stalin beziehen sich allesamt auf strategische Fragen. Es genügt festzustellen, dass es heute keinen Sowjetstaat gäbe, wenn wir 1917 Stalins Politik betrieben hätten. Darum ist es nicht wahr, dass die bloße Existenz der Sowjetunion den Sieg der Revolution in anderen Ländern sichern könnte. Falsch ist auch, dass die Revolution nur auf nationalem Boden heranreift und sich entwickelt. Welchen Zweck hätte sonst die Kommunistische Internationale?

Frage: Wenn von einer kapitalistischen Wirtschaft gilt, dass sie umso abhängiger von anderen Ländern wird, je höher sie sich entwickelt, gilt das dann für die Sowjetunion nicht, weil sie sich zu einer sozialistischen Wirtschaft entwickelt?

Antwort: Nationale Selbstgenügsamkeit oder »Autarkie« ist das Ideal Hitlers, nicht das von Marx und Lenin. Die sozialistische Wirtschaft kann nicht auf die gewaltigen Vorteile der weltweiten Arbeitsteilung verzichten; sie wird sie vielmehr aufs Höchste entwickeln. Praktisch handelt es sich aber nicht um die zukünftige sozialistische Gesellschaft mit ihrem stabilen inneren Gleichgewicht, sondern um ein technisch und kulturell rückständiges Land, das im Interesse der Industrialisierung und Kollektivierung gezwungen ist, so viel wie möglich zu exportieren, um so viel wie möglich importieren zu können.

Frage: Ist es richtig, dass die Theorie der permanenten Revolution, die Plattform, von der aus Sie Stalin seit 1924 bekämpft haben, »in einer depressiven Phase der Entwicklung des Bolschewismus entstanden« ist, die die Folge »einer Reihe von Misserfolgen im In- und Ausland« war, oder handelt es sich bei dieser Theorie um eine konsistente Linie, die all ihre »politischen Schriften und Aktivitäten seit 1903« verbindet? Fischer sagt das eine wie das andere.

Antwort: Die Theorie der permanenten Revolution wurde im Gegensatz zur Theorie des Sozialismus in einem Lande in der Periode 1917 bis 1923 von der gesamten Bolschewistischen Partei anerkannt. Erst die Niederlage des Proletariats in Deutschland im Jahre 1923 gab den entscheidenden Anstoß zur Bildung von Stalins Theorie des nationalen Sozialismus. Die sinkende Kurve der Revolution gab dem Stalinismus Auftrieb – nicht der Theorie der permanenten Revolution, die von mir zuerst im Jahre 1905 formuliert wurde. Diese Theorie ist nicht an einen bestimmten Kalender revolutionärer Ereignisse gebunden; sie enthüllt nur die weltweite Interdependenz des revolutionären Prozesses.

Frage: Es wird behauptet, »Trotzki hätte die einheimische sowjetische Industrie ebenso wenig vernachlässigt wie Stalin den Nutzen der Dritten Internationale ignoriere.« Stimmen Sie der Schlussfolgerung zu, »es gebe da weder Gut noch Böse, das Ganze sei eine Frage der Proportion und der Schattierung?«

Antwort: Eine solche Aussage ist nur aufgrund mangelnder Vertrautheit mit der Geschichte des Kampfes zwischen Stalin-Fraktion und Linker Opposition möglich. Die Initiative für den Fünfjahresplan und die beschleunigte Kollektivierung ging ausschließlich von der Linken Opposition aus, die deswegen mit den Stalinisten einen ununterbrochenen, heftigen Kampf zu führen hatte. Da ich mich hier nicht auf längere historische Untersuchungen einlassen kann, will ich mich auf ein einziges Beispiel beschränken. Der Dnjeprostroj gilt zu Recht als die hervorragendste Leistung der sowjetischen Industrialisierung. Aber Stalin und seine Anhänger (Woroschilow, Molotow und andere) waren wenige Monate vor Baubeginn entschiedene Gegner des Dnjeprostroj-Projekts. Ich zitiere nach dem stenographischen Protokoll, was Stalin während der Plenumssitzung des Zentralkomitees der Partei im April 1926 gegen mich als den Vorsitzenden der Dnjeprostroj-Kommission sagte: »Man spricht … von der Errichtung des Dnjepropetrowsk mit unseren eigenen Mitteln. Aber es handelt sich dabei um große Summen, mehrere hundert Millionen. Wie können wir vermeiden, in die Lage eines Bauern zu kommen, der etwas Geld gespart hatte, aber, statt seinen Pflug zu reparieren und seine Geräte zu erneuern, ein Grammophon kaufte und bankrott machte? (Lachen)... Weshalb beachten wir nicht unsere Kongressresolution, derzufolge unsere Industriepläne unseren Ressourcen zu entsprechen haben? Genosse Trotzki beachtet diesen Kongressbeschluss nicht.« (Stenographisches Protokoll des Plenums, S. 110.)

Gleichzeitig kämpfte die Linke Opposition mehrere Jahre lang gegen die Stalinisten für die Kollektivierung. Erst als der Kulak sich weigerte, dem Staat Getreide zu liefern, vollzog Stalin unter dem Druck der Linken Opposition eine scharfe Wendung. Da er Empirist ist, verfiel er in das entgegengesetzte Extrem und stellte die Kollektivierung der gesamten Bauernschaft binnen zwei oder drei Jahren, die Liquidierung der Kulaken als Klasse und die Verkürzung des Fünfjahresplans auf vier Jahre als Aufgabe. Die Linke Opposition erklärte, dass die neuen Industrialisierungstempi unsere Kräfte überstiegen und die Liquidierung der Kulaken als Klasse in drei Jahren ein phantastisches Vorhaben sei. Wenn man wollte, könnte man sagen, dass wir diesmal »weniger radikal« als die Stalinisten waren. Der revolutionäre Realismus sucht aus jeder Situation den größtmöglichen Vorteil zu ziehen – das ist das Revolutionäre an ihm; aber gleichzeitig erlaubt er es uns nicht, uns phantastische Ziele zu setzen – das ist seine realistische Seite.

Frage: Wenn wir akzeptieren, dass Stalins Politik rein empirischen Charakter trägt, von Augenblicksumständen abhängt und keiner weiten Voraussicht fähig ist, – wie können wir dann den Sieg der Stalin-Fraktion über die Linke Opposition erklären?

Antwort: Vorhin habe ich die Bedeutung der revolutionären Strategie betont. Nun muss ich auf die entscheidende Bedeutung der objektiven Bedingungen zurückkommen. Ohne eine richtige Strategie ist der Sieg unmöglich. Aber selbst die beste Strategie kann unter ungünstigen objektiven Bedingungen nicht zum Sieg führen. Die Revolution hat ihre eigenen Gesetze: Auf ihrem Höhepunkt stößt sie die am weitesten entwickelte, entschlossene, vorausschauende Schicht der revolutionären Klasse in die am weitesten vorgeschobenen Positionen. Aber das Proletariat hat nicht nur eine Vorhut, sondern auch eine Nachhut, und neben dem Proletariat gibt es die Bauernschaft und die Bürokratie. Keine Revolution hat bisher alles das gebracht, was die Massen von ihr erwartet hatten. Daraus resultiert unvermeidlich eine gewisse Enttäuschung, ein Nachlassen der Aktivität der Vorhut und folglich die wachsende Bedeutung der Nachhut. Stalins Fraktion ist auf der Welle der Reaktion gegen die Oktoberrevolution emporgestiegen. Ein Blick zurück auf die Geschichte zeigt: Diejenigen, die eine Revolution auf ihrem Höhepunkt anführten, konnten ihre Führungspositionen nach dem Wendepunkt niemals lange halten. In Frankreich starben die Führer des Jakobinismus auf der Guillotine; bei uns kam der Führungswechsel durch Verhaftungen und Verbannungen zustande. Die Technik ist sanfter, aber der Vorgang ist im Wesen derselbe.

Frage: Wie vereinbaren Sie Ihre Kritik an der Sowjetunion in der kapitalistischen Presse mit Ihren revolutionären Sympathien? Stimmt es, dass Sie »die denkende Jugend zur Abkehr von Russland veranlassen«, »den Feinden des Sowjetregimes die besten Argumente und Materialien bieten« und »ehemaligen Radikalen und kommunistischen Sympathisanten eine Rechtfertigung für ihre Verleumdung Moskaus und die Nichtbeteiligung an der revolutionären Aktion« verschaffen?

Antwort: Der Sowjetstaat braucht weder Illusionen noch Tarnung. Er kann in der Welt nur jene Autorität beanspruchen, die sich auf Tatsachen stützt. Je klarer und gründlicher die Weltöffentlichkeit, vor allem die der arbeitenden Massen, die Widersprüche und Schwierigkeiten einer sozialistischen Entwicklung in einem isolierten Land versteht, desto höher wird sie die erreichten Ergebnisse schätzen. Je weniger sie die grundlegenden Methoden des Sozialismus mit den Zickzack-Wendungen und Irrtümern der Sowjetbürokratie identifiziert, desto geringer ist die Gefahr, dass die unvermeidliche Enthüllung dieser Irrtümer und ihrer Folgen nicht nur zu Lasten der Autorität der gegenwärtig herrschenden Gruppe, sondern des Arbeiterstaats selbst geht. Die Sowjetunion braucht denkende und kritische Freunde, die nicht nur in Stunden des Erfolgs Loblieder singen können, sondern die auch in der Stunde der Niederlage und der Gefahr nicht zurückweichen. Journalisten vom Typus Fischer leisten eine progressive Arbeit, wenn sie die Sowjetunion gegen Verleumdungen, böswillige Erfindungen und Vorurteile verteidigen. Aber diese Herren überschreiten die Grenzen ihrer Aufgabe, wenn sie versuchen, uns Ergebenheit gegenüber dem Sowjetstaat zu lehren. Wenn wir uns fürchten, über Gefahren zu sprechen, werden wir nie mit ihnen fertig werden. Schließen wir die Augen vor den Schattenseiten des Arbeiterstaats, den wir haben schaffen helfen, werden wir den Sozialismus nie erreichen.

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