Leo Trotzki‎ > ‎Sowjetunion‎ > ‎

Leo Trotzki 19390911 Moskau mobilisiert

Leo Trotzki: Moskau mobilisiert

[Nach Schriften 1.2. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1936-1940. Hamburg 1988, S. 1265-1267. Dort mit Fußnoten]

Coyoacán, 11. September 1939

Moskau mobilisiert, und alle fragen sich: gegen wen? Das weiß selbst der Kreml heute noch nicht. Eines ist klar: Der deutsch-sowjetische Pakt erleichterte die Niederwerfung Polens, garantierte aber keineswegs die Neutralität der Sowjetunion. Die polnische Armee erwies sich als schwächer als von vielen angenommen. Zweifellos wird heute in Paris und London der Vormarsch deutscher Truppen auf die Grenzen der Sowjetunion mit Interesse und ohne übermäßige Beunruhigung beobachtet. Die Freundschaft zwischen Stalin und Hitler erfordert Distanz. Die völlige Unterwerfung Polens kann sich als fatal für den deutsch-sowjetischen Pakt erweisen. Nachdem Hitler an den Grenzen der Ukraine und Weißrusslands angelangt ist, wird er Stalin vorschlagen, ihrer frischen »Freundschaft« einen aktiveren Charakter zu verleihen. Gleichzeitig kann er sich an Paris und London mit dem Vorschlag wenden, sich, wenn man der deutschen Armee den weiteren Vormarsch nach Osten gestatte, bereitwillig zu verpflichten, im Laufe von 25 oder 50 Jahren (Hitler tauscht gern Zeit gegen Raum) die Kolonialfrage nicht aufzuwerfen. Unter dem Druck doppelter Erpressung muss Stalin eine endgültige Wahl treffen. Angesichts des Herannahens dieses kritischen Moments mobilisiert der Kreml. Um beide Möglichkeiten offen zu halten, verbreiten die Moskauer Radiostationen in russischer Sprache Nachrichten, die den westlichen Demokratien, und in deutscher Sprache solche, die Deutschland genehm sind. Ein stärkerer symbolischer Ausdruck der doppelzüngigen Kreml-Politik und von Stalins persönlichem Charakter ist schwer vorstellbar. Für welche Seite wird sich der Heuchler endgültig entscheiden?

Stalin begreift natürlich, was sogar Ex-Kaiser Wilhelm verstanden hat: dass Hitler bei einem lang andauernden Krieg einer großen Katastrophe entgegengeht. Das Ganze ist eine Frage der Zeit und des Tempos. Auf dem Weg in den Abgrund kann Hitler nicht nur Polen zerstören, sondern auch der Sowjetunion solche Schläge versetzen, die der Kreml-Oligarchie den Kopf kosten. Ihre Köpfe schätzen diese Herren jedoch höher als alles andere. Um sich zu retten, könnten sie gezwungen sein, eine viel längere Wegstrecke mit Hitler zu gehen, als sie zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Pakts beabsichtigen.

Ein Hindernis auf diesem Weg ist allerdings, dass das Bündnis mit dem Faschismus bei den Volksmassen der Sowjetunion außergewöhnlich unbeliebt ist. Darauf wies kürzlich Molotow in seiner letzten Rede hin, als er beklagte, dass die »vereinfachte Propaganda« (d. h. die gestrige Propaganda der Komintern gegen den Faschismus) sogar in der UdSSR Unzufriedenheit mit der deutsch-sowjetischen Verbindung hervorgerufen hat. Das beweisen auch die erwähnten Radiosendungen in russischer Sprache. Doch der öffentlichen Meinung im eigenen Land denkt Stalin mit weiteren Säuberungen Herr zu werden: Die Feindseligkeit der russischen Arbeiter und Bauern bleibt – im Unterschied zur Feindseligkeit Hitlers – vorerst wehrlos. Stalin, der als Hitlers Quartiermeister begonnen hatte, kann sich so halb als dessen Gefangener und halb als dessen Verbündeter betrachten.

Aber kann denn der Kreml nicht eine neue scharfe Wende vollziehen, indem er den deutsch-sowjetischen Pakt bricht und sich in letzter Minute gegen Hitler wendet? Dazu wären natürlich in nächster Zeit nennenswerte militärische Erfolge Frankreichs und Englands sowie eine radikale Änderung des Neutralitätsgesetzes der Vereinigten Staaten nötig. Zudem ist es fraglich, ob der Kreml selbst in diesem Fall in einen offenen Krieg mit Hitler eintreten würde. Aber die Konzentration bedeutender Kräfte der Roten Armee an der westlichen Grenze würde es Stalin erlauben, neue, absolut unvermeidliche Forderungen Hitlers zurückzuweisen.

Die Frage nach der Ausrichtung der Moskauer Politik mit den Ideen der internationalen Arbeiterklasse, den Aufgaben des Sozialismus, den Prinzipien der Demokratie usw. zu verbinden, das können nur völlig hirnlose Schwätzer oder bezahlte Agenten des Kreml. In Wirklichkeit wird die Moskauer Politik ausschließlich durch den Kampf der herrschenden Oligarchie um Selbstbehauptung bestimmt. Welchen Weg der Kreml wählt, wird von den materiellen Kräfteverhältnissen beider Lager und dem Verlauf der Kriegsoperationen in den nächsten Wochen bestimmt werden. Es ist sicher richtiger, nicht von der »Wahl des Weges«, sondern von der Richtung des nächsten Zickzacks zu sprechen.

Kommentare