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Leo Trotzki 19371104 Noch einmal: die UdSSR und ihre Verteidigung

Leo Trotzki: Noch einmal: die UdSSR

und ihre Verteidigung

[Nach Schriften 1.2. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1936-1940. Hamburg 1988, S. 1104-1117. Dort mit zahlreichen Fußnoten]

Coyoacán, 4. November 1937

Craipeau vergisst die Hauptlehren des Sozialismus

Genosse Craipeau möchte uns nochmals davon überzeugen, dass die Sowjetbürokratie als solche eine Klasse ist. Es ist für ihn jedoch nicht eine rein »soziologische« Frage. Nein, alles, was er möchte, ist – wie wir sehen werden – ein für allemal einen freien und geraden Weg zu seiner Art des Internationalismus zu markieren, einem Internationalismus, der leider seiner selbst durchaus nicht sicher ist. Wenn die Bürokratie keine Klasse ist, wenn die Sowjetunion noch als Arbeiterstaat verstanden werden kann, so muss man sie im Kriege unterstützen. Wie kann man denn unversöhnlicher Gegner der eigenen Regierung bleiben, wenn diese mit den Sowjets verbündet ist? Da besteht doch eine schreckliche Versuchung, dem Sozialpatriotismus zu verfallen! Nein, es ist weitaus besser, reinen Tisch zu machen: Die stalinistische Bürokratie ist eine ausbeutende Klasse, und im Kriegsfalle brauchen wir zwischen den Sowjets und Japan kaum Unterschied zu machen.

Unglücklicherweise bringt dieser terminologische Radikalismus die Dinge nicht viel weiter. Nehmen wir einen Augenblick lang an, die Bürokratie sei im Sinne der marxistischen Soziologie wirklich eine Klasse. Wir besäßen dann eine neue Form von Klassengesellschaft, die weder mit der feudalistischen noch mit der kapitalistischen Gesellschaft identisch ist, und die niemals von marxistischen Theoretikern vorausgesehen worden ist. Eine derartige Entdeckung verdient etwas aufmerksamere Analyse.

Warum befindet sich die kapitalistische Gesellschaft in einer Sackgasse? Weil sie nicht mehr imstande ist, die Produktivkräfte in den fortgeschrittenen wie auch in den zurückgebliebenen Ländern weiterzuentwickeln. Die Kette des Weltimperialismus brach an ihrem schwächsten Glied, in Russland. Nun erfahren wir, dass anstelle der bürgerlichen Gesellschaft eine neue Klassengesellschaft errichtet worden ist. Craipeau hat ihr bisher keinen Namen gegeben, auch nicht ihre inneren Gesetze analysiert. Das hindert uns aber nicht daran zu erkennen, dass die neue Gesellschaft im Vergleich zum Kapitalismus fortschrittlich ist, denn die neue besitzende »Klasse« hat auf der Grundlage des nationalisierten Eigentums eine Entwicklung der Produktivkräfte möglich gemacht, die in der Weltgeschichte nie zuvor erreicht worden ist. Der Marxismus lehrt uns doch, dass die Produktivkräfte der grundlegende Faktor des historischen Fortschritts sind. Eine Gesellschaft, die nicht imstande ist, das wirtschaftliche Wachstum zu sichern, ist noch weniger in der Lage, für die Bedürfnisse der arbeitenden Massen zu sorgen, wie immer auch der Verteilungsmodus aussehen mag. Der Antagonismus zwischen Feudalismus und Kapitalismus und der Niedergang des ersteren ist eben durch die Tatsache bestimmt worden, dass der letztere den stagnierenden Produktionskräften neue und großartige Möglichkeiten eröffnete. Das gleiche gilt für die UdSSR. Wie auch ihre Ausbeutungsformen sein mögen – die neue Gesellschaft ist schon durch diesen Charakterzug der kapitalistischen Gesellschaft überlegen. Hier liegt der wirkliche Ausgangspunkt für eine marxistische Analyse!

Dieser grundlegende Faktor, die Produktivkräfte, spiegelt sich auch im Ideologischen wider. Während uns das Wirtschaftsleben kapitalistischer Länder lediglich verschiedene Stufen der Stagnation und des Verfalls zeigt, ist die nationalisierte und geplante Wirtschaft der UdSSR das größte Vorbild für alle Teile der Menschheit, die nach einer besseren Zukunft streben. Man müsste blind sein, um diesen Unterschied nicht zu sehen!

In einem Kriege zwischen Japan und Deutschland auf der einen, der UdSSR auf der anderen Seite ginge es nicht um die gleiche Einkommensverteilung, die proletarische Demokratie oder Wyschinskis Justiz, sondern um das Schicksal des nationalisierten Eigentums und der Planwirtschaft. Der Sieg der imperialistischen Staaten würde nicht nur die Beseitigung der neuen ausbeutenden »Klasse« in der UdSSR, sondern auch die der neuen Produktionsformen bedeuten – das Absinken der gesamten Sowjetwirtschaft auf das Niveau eines rückständigen und halbkolonialen Kapitalismus. Nun frage ich Craipeau: Wenn wir es mit einem Kampf zweier Staaten zu tun haben, die – nehmen wir einmal an – beide Klassenstaaten sind, wovon der eine jedoch imperialistische Stagnation und der andere einen immensen ökonomischen Fortschritt repräsentiert, müssen wir dann nicht den progressiven gegen den reaktionären Staat unterstützen? Ja oder nein?

In seiner Polemik spricht Craipeau über die verschiedensten Dinge, auch über solche, die von dem eigentlichen Gegenstand sehr weit entfernt sind, aber nicht ein einziges Mal erwähnt er den entscheidenden Faktor marxistischer Soziologie, die Entwicklung der Produktivkräfte. Aus diesem Grunde eben hängt seine ganze Konstruktion in der Luft. Er jongliert mit terminologischen Schemen (»Klasse«, »Nichtklasse«), anstatt die Realität zu analysieren. Er meint, es genüge, die Bürokratie mit dem Begriff »Klasse« zu bezeichnen, um der Notwendigkeit enthoben zu sein, die Stellung zu analysieren, die die neue Gesellschaft in der historischen Entwicklung der Menschheit einnimmt. Indem Craipeau uns zwingen will, eine Gesellschaft, die absolut reaktionär ist, weil sie die Produktivkräfte fesselt und sogar zerstört, nicht von einer zu unterscheiden, die relativ fortschrittlich ist, da sie einen großen Wirtschaftsaufschwung gesichert hat, will er uns eine Politik reaktionärer »Neutralität« vorschreiben. Jawohl, Genosse Craipeau, reaktionär!

Aber ist die Bürokratie eine Klasse?

Aus dem bisher Gesagten geht hervor, dass wir sehr gut darauf verzichten könnten, nochmals die theoretische Frage zu analysieren, mit der allein Craipeau sich beschäftigt, und die an sich für unsere Politik in Kriegszeiten keineswegs ausschlaggebend ist. Aber die Frage nach dem gesellschaftlichen Charakter der Bürokratie ist trotz allem von einer allgemeinen Warte her sehr wichtig, und wir sehen keinen Grund, Craipeau auf diesem Gebiet die geringste Konzession zu machen. Unser Kritiker wechselt seine Argumente, ohne sich darüber irgendwelche Kopfschmerzen zu machen. Diesmal bezieht er sein schlagendes Argument aus einem Zitat in Die Verratene Revolution: »Die Produktionsmittel gehören dem Staat. Aber der Staat ,gehört' gewissermaßen der Bürokratie« (Hervorhebung von mir). Craipeau ist überglücklich. Gehören die Produktionsmittel dem Staat, und der Staat der Bürokratie, dann wird diese zum Kollektiveigentümer der Produktionsmittel und durch diese Tatsache zur besitzenden und ausbeutenden Klasse. Die restliche Argumentation Craipeaus trägt beinahe rein literarischen Charakter. Er erzählt uns noch einmal, indem er vorgibt, gegen mich zu polemisieren, dass die thermidorianische Bürokratie schlecht, habgierig, reaktionär, blutdürstig usw. ist. Eine wirkliche Offenbarung! Wir haben allerdings nie gesagt, dass die stalinistische Bürokratie Tugenden besitzt. Wir haben ihr nur die Eigenschaft einer Klasse im marxistischen Sinn, das heißt in Bezug auf das Eigentum an den Produktionsmitteln, abgesprochen. Aber da zwingt mich Craipeau, mich selbst zu verleugnen, weil ich festgestellt habe, dass die Bürokratie den Staat als ihr Eigentum behandelt. »Und das ist des Pudels Kern!«

Mit diesem über Gebühr vereinfachten Argument beweist Craipeau einen bedauerlichen Mangel an dialektischem Verständnis. Ich habe niemals behauptet, die Sowjetbürokratie gleiche der Bürokratie der absoluten Monarchie oder des liberalen Kapitalismus. Die nationalisierte Ökonomie schafft für die Bürokratie eine völlig neue Situation und eröffnet neue Möglichkeiten – des Fortschritts wie auch der Entartung. Mehr oder weniger wussten wir das sogar vor der Revolution. Die Analogie zwischen der Sowjetbürokratie und der Bürokratie des faschistischen Staates geht viel weiter, vor allem aus dem Blickwinkel, der uns interessiert. Die faschistische Bürokratie behandelt den Staat ebenfalls als ihr Eigentum. Sie legt dem Privatkapital erhebliche Beschränkungen auf und versetzt es oft in große Unruhe. Als logisches Argument können wir nennen: Wenn es der faschistischen Bürokratie gelungen ist, den Kapitalisten ihre Disziplin und ihre Beschränkungen aufzuzwingen, ohne dass diese wirksamen Widerstand geleistet haben, dann könnte diese Bürokratie sich schrittweise in eine neue herrschende »Klasse« verwandeln, die der Sowjetbürokratie völlig entspricht. Aber der faschistische Staat »gehört« der Bürokratie nur »gewissermaßen«.. (Siehe das obige Zitat.)

Dies eine Wort wird von Craipeau absichtlich übersehen. Aber es hat sein Gewicht. Es ist sogar entscheidend. Es ist integraler Bestandteil des Gesetzes der Dialektik vom Umschlagen von Quantität in Qualität. Wenn Hitler versucht, sich den Staat, und damit das Privateigentum völlig und nicht nur »gewissermaßen« anzueignen, wird er auf die heftige Opposition der Kapitalisten stoßen; das aber würde den Arbeitern große revolutionäre Möglichkeiten eröffnen. Es gibt aber Ultralinke, die die Schlussfolgerungen Craipeaus hinsichtlich der Sowjetbürokratie auf die faschistische Bürokratie beziehen und die das faschistische und das stalinistische Regime gleichsetzen (wie einige deutsche Spartakisten, Hugo Urbahns, gewisse Anarchisten usw.). Über diese sagen wir das gleiche wie über Craipeau: Ihr Irrtum liegt in der Auffassung, die Grundlagen einer Gesellschaft könnten ohne Revolution oder Konterrevolution verändert werden; sie lassen den Film des Reformismus rückwärts ablaufen.

Aber hier zitiert Craipeau – noch immer triumphierend – eine andere Stelle aus Die Verratene Revolution, die sich auf die Sowjetbürokratie bezieht: »Wenn diese ... Verhältnisse gegen oder ohne den Widerstand der Werktätigen sich verfestigten, zur Norm und legalisiert würden, so würden sie letzten Endes zur völligen Liquidierung der sozialen Errungenschaften der proletarischen Revolution führen.« Und Craipeau folgert: »Damit zieht Genosse Trotzki (in der Zukunft) die Möglichkeit in Betracht, dass sich der Arbeiterstaat ohne Militärintervention (?) in einen kapitalistischen Staat umwandelt. Im Jahre 1933 nannte man das gewöhnlich: den Film des Reformismus rückwärts ablaufen lassen.« 1937 erhält das die gleiche Bezeichnung. Was für mich ein rein logisches Argument ist, hält Craipeau für eine historische Prognose. Ohne einen siegreichen Bürgerkrieg kann die Bürokratie keine neue herrschende Klasse hervorbringen. Dies war und ist meine Ansicht1. Zudem, was jetzt in der UdSSR vorgeht, ist nur ein von der Bürokratie begonnener Präventiv-Bürgerkrieg. Und trotzdem hat sie noch nicht die ökonomischen Grundlagen des Staates angerührt, die von der Revolution geschaffen wurden und die – trotz allen Entstellungen und Verzerrungen – eine beispiellose Entwicklung der Produktivkräfte sichern.

Niemand hat je die Möglichkeit ausgeschlossen – vor allem im Falle eines weiter anhaltenden Zersetzungsprozesses in der Welt –, dass eine neue, aus der Bürokratie hervorgehende besitzende Klasse entstehen kann. Die gegenwärtige soziale Stellung der Bürokratie, die mit Hilfe des Staates »gewissermaßen« über die Produktivkräfte verfügt, ist ein äußerst wichtiger Ausgangspunkt für diesen Umwandlungsprozess. Es ist jedoch nur eine historische Möglichkeit und nicht eine bereits vollzogene Tatsache.

Ist eine Klasse das Produkt ökonomischer oder politischer Umstände?

In Die Verratene Revolution habe ich versucht, eine Definition des gegenwärtigen Sowjetregimes zu geben. Diese Definition umfasst neun Punkte. Zugegebenermaßen ist diese Auflistung beschreibender und vorsichtiger Formulierungen nicht sehr elegant. Aber sie versucht gegenüber der Realität ehrlich zu sein. Das ist immer von Vorteil. Craipeau erwähnt diese Definition nicht einmal. Er setzt ihr keine andere entgegen. Er sagt nicht, ob die neue ausbeutende Gesellschaft der alten überlegen oder unterlegen ist, und er stellt sich nicht die Frage, ob diese neue Gesellschaft eine unvermeidliche Stufe zwischen Kapitalismus und Sozialismus ist, oder ob es sich nur im einen historischen »Unfall« handelt. Indessen nimmt vom Gesichtspunkt unserer allgemeinen historischen Perspektive, wie sie von Marx und Engels im Kommunistischen Manifest formuliert wurde, die soziologische Definition der Bürokratie eine überragende Bedeutung an.

Die Bourgeoisie entstand aus der neuen Produktionsweise; sie blieb solange eine historische Notwendigkeit, wie die neue Produktionsweise ihre Möglichkeiten nicht erschöpft hatte. Die gleiche Behauptung kann gegenüber allen vorangegangenen sozialen Klassen aufgestellt werden: gegenüber den Sklavenbesitzern, den Feudalherren, den mittelalterlichen Handwerksmeistern. Zu ihrer Zeit waren sie alle Vertreter und Führer eines Produktionssystems, das für den Fortschritt der Menschheit seinen Stellenwert hatte. Wie schätzt dann Craipeau den historischen Stellenwert der »Bürokratie-Klasse« ein? Über diese entscheidende Frage äußert er nichts. Trotzdem haben wir viele Male, mit der Hilfe Craipeaus selbst, wiederholt, die Entartung der Sowjetunion sei das Produkt der Verzögerung der Weltrevolution, das heißt das Ergebnis sozusagen politischer und »konjunktureller« Ursachen. Kann man von einer neuen ... »konjunkturellen« Klasse sprechen? Ich bezweifle das ernsthaft. Wenn Craipeau bereit ist, seine wohl eher übereilte Auffassung vom Standpunkt der historischen Entwicklung sozialer Ordnungen aus zu prüfen, wird er sicher selbst erkennen, dass die Bezeichnung der Bürokratie als besitzende Klasse nicht nur ein terminologischer Missgriff ist, sondern noch dazu eine große politische Gefahr, die zu einem völligen Schiffbruch unserer politischen Perspektiven führen kann. Sieht Craipeau hinreichende Gründe, um die marxistische Konzeption in diesem entscheidenden Punkt zu revidieren? Ich selbst sehe keine. Aus diesem Grunde weigere ich mich, Craipeau zu folgen.

Wir können und müssen jedoch sagen, dass die Sowjetbürokratie alle Laster einer besitzenden Klasse besitzt, ohne in irgendeiner Weise ihre »Tugenden« (organische Stabilität, gewisse Moralnormen usw.) aufzuweisen. Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass der Arbeiterstaat noch ein Staat, das heißt ein Produkt der barbarischen Vergangenheit ist, dass er unter ungünstigen Umständen bis zur Unkenntlichkeit entarten kann und dass eine zusätzliche Revolution erforderlich sein könnte, um ihn zu erneuern! Aber trotzdem bleibt der Arbeiterstaat eine unvermeidliche Stufe auf unserem Weg. Diese Stufe kann nur durch die permanente Revolution des internationalen Proletariats überwunden werden.

Und wo bleibt die Dialektik?

Ich kann nicht Punkt für Punkt der gesamten Argumentation des Genossen Craipeau folgen; dazu müsste man tatsächlich die gesamte marxistische Konzeption rekapitulieren. Die Schwierigkeit liegt darin, dass Craipeau nicht die Tatsachen, wie sie sind, analysiert, sondern eher logische Argumente zugunsten einer vorgefassten These sammelt. Diese Methode ist ihrem Wesen nach antidialektisch und deshalb antimarxistisch. Ich will dafür einige Beispiele anführen.

a) »Das russische Proletariat hat schon vor vielen Jahren alle Hoffnung auf politische Macht verloren...« Craipeau hütet sich, den genauen Zeitpunkt mit Bestimmtheit anzugeben. Er möchte nur den Eindruck erwecken, unsere Tendenz habe sich »seit vielen Jahren« Illusionen hingegeben. Er vergisst zu erwähnen, dass die Bürokratie im Jahre 1923 ziemlich erschüttert war und dass nur die deutsche Niederlage und die darauf folgende Entmutigung des russischen Proletariats ihre Position wieder stabilisierte. Während der chinesischen Revolution (1925-27) wiederholte sich die Krise auf ähnliche Weise. Der erste Fünfjahresplan und das tiefe Grollen in Deutschland (1931-33), das Hitlers Aufstieg vorausging, bedrohte nochmals die bürokratische Herrschaft. Können wir schließlich einen Augenblick daran zweifeln, dass – wäre die spanische Revolution siegreich und die französischen Arbeiter imstande gewesen, ihre Mai-Juni-Offensive 1936 zur Entscheidung voranzutreiben – das russische Proletariat seinen Mut und seine Kampfeslust zurück gewonnen und die Thermidorianer mit geringer Mühe gestürzt hätte? Nur die Aufeinanderfolge entsetzlicher und bedrückender Niederlagen in der ganzen Welt hat Stalins Regime stabilisiert. Craipeau stellt das Ergebnis, das nebenbei bemerkt in sich recht widersprüchlich ist, dem Prozess gegenüber, der zu ihm führte, und unserer Politik, welche die Reflexion dieses Prozesses war.

b) Um das Argument zu widerlegen, die Bürokratie bediene sich der nationalen Ressourcen nur wie eine Zunft, eine äußerst unentschlossene zudem, und die einzelnen Bürokraten hätten nicht das Recht, frei über Staatseigentum zu verfügen, erwidert Craipeau: »Die Bourgeois (?) mussten auch lange warten, bevor sie ihren Nachkommen den Besitz an Produktionsmitteln übertragen konnten. In der Frühphase des Zunftwesens wurde der Meister von Ebenbürtigen gewählt...« usw. Aber Craipeau lässt die Kleinigkeit außer Acht, dass gerade in der »Frühphase des Zunftwesens« die Zünfte noch nicht in Klassen zerfielen, und dass der Meister kein »Bourgeois« im modernen Sinne des Wortes war. Der Umschlag von Quantität in Qualität existiert für Craipeau nicht.

c) »Das Privateigentum wird wiederhergestellt, das Erbrecht wiedereingeführt ...« Aber Craipeau spricht nicht aus, dass es sich um Eigentum an Gütern des persönlichen Gebrauchs, und nicht um Eigentum an Produktionsmitteln handelt. Ebenso vergisst er, den Umstand zu erwähnen, dass das Privateigentum der Bürokraten, selbst jener in hohen Positionen, in keinem Vergleich zu den materiellen Ressourcen steht, die ihnen durch ihre Stellungen zugänglich werden, und dass gerade die gegenwärtige »Säuberung«, die durch einen Federstrich Abertausende von bürokratischen Familien in die größte Armut hinab stieß, demonstriert, wie leicht die Bande zwischen den Bürokraten – und noch mehr ihren Familien – und dem Staatseigentum brechen.

d) Der Präventiv-Bürgerkrieg, der gegenwärtig von der herrschenden Clique geführt wird, beweist erneut, dass sie nur durch revolutionäre Gewalt gestürzt werden kann. Da sich aber diese neue Revolution auf der Grundlage von Staatseigentum und Planwirtschaft entwickeln muss, haben wir den Sturz der Bürokratie als eine politische Revolution – zur Unterscheidung von der sozialen Revolution von 1917 gekennzeichnet. Craipeau meint, diese Unterscheidung »gehöre in den Bereich der Spitzfindigkeiten«. Warum so streng? Weil, wohlverstanden, die Wiedereroberung der Macht durch das Proletariat auch gesellschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen wird. Aber die bürgerlichen politischen Revolutionen von 1830, 1848 und vom September 1870 hatten ebenfalls gesellschaftliche Konsequenzen, da auch sie die Verteilung des Nationaleinkommens erheblich veränderten. Jedoch, mein teurer Craipeau, alles ist relativ in dieser Welt, die keine Schöpfung ultralinker Formalisten ist. Die von den so genannten politischen Revolutionen bewirkten gesellschaftlichen Veränderungen, so bedeutend sie waren, erscheinen in Wirklichkeit als zweitrangig, wenn man sie mit der Großen Französischen Revolution vergleicht, welche die bürgerliche gesellschaftliche Revolution schlechthin gewesen ist. Was dem Genossen Craipeau fehlt, ist ein Verständnis für Verhältnismäßigkeit und ein Begriff von Relativität. Unser junger Freund ist überhaupt nicht an dem Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität interessiert. Und doch ist dies das wichtigste Gesetz der Dialektik. Es stimmt allerdings, dass die Autoritäten der bürgerlichen akademischen Welt meinen, die Dialektik selbst gehöre in den »Bereich der Spitzfindigkeiten«.

e) Es ist kein Zufall, dass Craipeau von der Soziologie eines M. Yvon begeistert ist. Die persönlichen Beobachtungen Yvons sind ehrlich und sehr wichtig. Aber nicht von ungefähr hat er in dem kleinen Hafen der Revolution Prolétarienne Zuflucht gefunden. Yvon ist an der »Ökonomie«, an der »Werkstatt« – um den Ausdruck Proudhons zu benutzen – interessiert, und nicht an der »Politik«, das heißt, an der verallgemeinerten Ökonomie. Er gehört begrifflich der proudhonistischen Schule an; gerade das ermöglichte ihm, während des Kampfes zwischen der Linken Opposition und der Bürokratie neutral zu bleiben; er verstand nicht, dass das Schicksal der »Werkstatt« davon abhing. Was er über den Kampf »um das Erbe Lenins« zu sagen hat, ohne zwischen gesellschaftlichen Tendenzen – selbst heute, im Jahre 1937! zu unterscheiden, zeigt mit voller Deutlichkeit seine durchaus kleinbürgerliche, gänzlich betrachtende und keineswegs revolutionäre Konzeption. Der Begriff der Klasse ist für Yvon eine Abstraktion, die er über die Abstraktion »Werkstatt« stülpt. Es ist wirklich traurig, dass Craipeau keine andere Quelle theoretischer Anregung findet!

Verteidigung der UdSSR und Sozialpatriotismus

Dieses ganze leider sehr brüchige soziologische Gerüst dient Craipeau, wie wir ausführten, nur dazu, um im Falle eines Krieges der Notwendigkeit zu entgehen, zwischen der UdSSR und den imperialistischen Staaten Unterschiede zu machen. Die beiden letzten Abschnitte seines Schriftstücks, die diesen Gegenstand behandeln, sind besonders aufschlussreich. Craipeau teilt uns mit: »Jeder europäische, jeder Weltkrieg wird heutzutage durch imperialistische Konflikte ausgelöst, und nur stalinistische und reformistische Narren können annehmen, dass es bei dem bevorstehenden Krieg etwa um das faschistische oder das demokratische System ginge.« Man beachte diese stolze These: Wenn auch etwas vereinfacht, so hat er sie doch diesmal dem marxistischen Arsenal entliehen. Unmittelbar darauf schreibt Craipeau, um die UdSSR als »Vorkämpfer des imperialistischen Krieges« zu charakterisieren und herabzuwürdigen: »Im Lager von Versailles spielt ihre Diplomatie (die der UdSSR) jetzt die gleiche treibende Rolle wie die Hitlersche Diplomatie im anderen Lager.« Räumen wir das einmal ein. Aber wird der imperialistische Charakter des Krieges durch die provokative Rolle einer faschistischen Diplomatie bestimmt? Durchaus nicht. »Nur stalinistische und reformistische Narren können das annehmen.« Und ich hoffe, dass wir anderen nicht im Begriff sind, das gleiche Kriterium auf den Sowjetstaat anzuwenden. Man ist in den imperialistischen Staaten Defätist – nicht wahr? –, weil man das System des Privateigentums zerstören will, und nicht, weil man irgendwelche »Aggressoren« zu züchtigen wünscht. In einem Kriege Deutschlands gegen die UdSSR geht es, soweit es die Imperialisten betrifft, darum, die ökonomischen Grundlagen der UdSSR zu verändern, und nicht darum, Stalin und Litwinow zu bestrafen. Nicht wahr? Craipeau hat seine grundsätzliche These nur aufgestellt, um sofort den entgegengesetzten Weg einzuschlagen. Ihm zufolge besteht die Gefahr, die wirkliche Gefahr, darin, dass den Sozialpatrioten aller Schattierungen die Verteidigung der UdSSR als Vorwand für neuen Verrat dient. »Unter diesen Umständen ist in unserer Haltung jede Zweideutigkeit verhängnisvoll.«

Und schließlich: »Heute muss man wählen: entweder die bedingungslose Verteidigung der UdSSR, das heißt (!!!) die Sabotierung der Revolution in unserem Lande und in der UdSSR, oder Defätismus und Revolution.«

Da haben wir es. Es ist überhaupt keine Frage des gesellschaftlichen Charakters der UdSSR – der ist gleichgültig –, denn Craipeau zufolge schließt die Verteidigung eines Arbeiterstaates, auch eines ganz echten, ein, dass das Proletariat des verbündeten imperialistischen Landes eine heilige Allianz mit seiner eigenen Bourgeoisie eingeht. »Und das ist des Pudels Kern«, wie man so sagt. Craipeau glaubt, dass im Kriege – im Kriege ganz allgemein – das Proletariat sich nicht darum kümmern sollte, ob es ein Krieg gegen Deutschland, die UdSSR, oder gegen ein aufständisches Marokko ist, denn in all diesen Fällen muss man »Defätismus ohne Umschweife« proklamieren, weil das die einzige Möglichkeit ist, den Klauen des Sozialpatriotismus zu entrinnen. Nochmals, und sehr deutlich erkennen wir, dass Ultralinkstum immer ein Opportunismus ist, der vor sich selbst Angst hat und absolute Garantien verlangt – das heißt nichtexistente Garantien –, dass er seiner Fahne treu bleibt. Dieser unversöhnliche Typus erinnert an jene Art eines schüchternen und schwachen Menschen, der, in Wut geraten, seinen Freunden zuruft: »Haltet mich fest, sonst werde ich etwas Fürchterliches tun!« Gib mir absolut unanfechtbare Thesen, bedecke meine Augen mit undurchdringlichen Scheuklappen, andernfalls ... werde ich etwas Fürchterliches tun! Wahrlich, das ist des Pudels Kern!

Aber bezweifelt Craipeau überhaupt den proletarischen Charakter des Sowjetstaates zum Beispiel zwischen 1918 und 1923 oder, um den Ultralinken eine Konzession zu machen, wenigstens zwischen 1918 und 1921? In jener Periode manövrierte der Sowjetstaat in der Arena der Weltpolitik und suchte zeitweilige Verbündete. Zugleich, genau in jener Periode, wurde den Arbeitern aller imperialistischen Länder, bei den »Feinden« genau so wie bei den zeitweiligen »Verbündeten«, Defätismus zur Pflicht gemacht. Die Pflicht, die UdSSR zu verteidigen, hat dem revolutionären Proletariat niemals bedeutet, seiner Bourgeoisie ein Vertrauensvotum zu geben. Die Haltung des Proletariats im Kriege ist die Fortsetzung seiner Haltung in Friedenszeiten. Das Proletariat verteidigt die UdSSR durch seine revolutionäre Politik, die niemals der Bourgeoisie untergeordnet, sondern stets den konkreten Umständen angepasst wird. Das war die Lehre der ersten vier Kongresse der Kommunistischen Internationale. Verlangt Craipeau eine nachträgliche Revision dieser Lehre?

Hätte Blum – der wie immer den Befehlen des Finanzkapitals gehorchte –, anstatt die niederträchtige »Nichteinmischung« zu verkünden, Caballero und Negrin samt ihrer kapitalistischen Demokratie unterstützt, hätte sich dann Craipeau von seiner unversöhnlichen Opposition gegen die »Volksfront«-Regierung losgesagt? Oder hätte er die Pflicht geleugnet, einen Unterschied zwischen den beiden in Spanien kämpfenden Lagern zu machen, und seine Politik dieser Unterscheidung anzupassen?

Das gleiche gilt für den Fernen Osten. Wenn Tschiang morgen, in den Fußstapfen Englands, Japan den Krieg erklären sollte, gedenkt dann Craipeau, an einer »Union sacrée« zur Unterstützung Chinas teilzunehmen? Oder wird er im Gegenteil verkünden, dass es für ihn keinen Unterschied zwischen China und Japan gibt, der seine Politik beeinflussen könnte? Craipeaus Alternative – entweder Verteidigung der UdSSR, Äthiopiens, des republikanischen Spaniens, des kolonialen China usw. durch Abschluss einer »Union sacrée«, oder vollendeter Defätismus, hermetisch verschlossen und von kosmischem Ausmaß – diese grundlegend falsche Alternative wird bei der ersten Prüfung durch die Ereignisse zu Staub zerfallen und dem krassesten Sozialpatriotismus die Tore öffnen.

»Sind unsere Thesen über den Krieg«, fragt Craipeau, »in dieser Frage von jeder Zweideutigkeit frei?« Leider nicht! Bei der Analyse der Notwendigkeit von Defätismus unterstreichen sie, »im Charakter der praktischen Aktionen können sich beachtliche Unterschiede ergeben, hervorgerufen durch die konkrete Kriegslage« Zum Beispiel – so führen diese Thesen aus – dürfen wir im Fall eines Krieges zwischen der UdSSR und Japan »nicht die Waffenlieferungen an die UdSSR sabotieren«, infolgedessen müssen wir davon absehen, zu Streiks aufzufordern, die die Waffenherstellung usw. stören würde. Man glaubt, seinen Augen nicht zu trauen. Die Ereignisse haben unsere These zu diesem Punkt mit einer unbestreitbaren Wucht und vor allem in Frankreich bestätigt. Monatelang ertönte in Arbeiterversammlungen der Ruf: »Flugzeuge für Spanien!« Man stelle sich einen Augenblick vor, Blum hätte beschlossen, einige zu schicken. Man stelle sich weiter vor, dass gerade in diesem Augenblick Hafenarbeiter oder Seeleute gestreikt hätten. Was hätte Craipeau getan? Wäre er gegen den Ruf »Flugzeuge für Spanien« gewesen? Hätte er den streikenden Arbeitern den Rat gegeben, für diese Ladung Flugzeuge eine Ausnahme zu machen? Aber die UdSSR schickte tatsächlich Flugzeuge (zu einem recht hohen Preis und unter der Bedingung, wie ich sehr wohl weiß, das kapitalistische Regime zu unterstützen). Hätten die Bolschewiki-Leninisten die Sowjetarbeiter auffordern sollen, diese Sendungen zu sabotieren? Ja oder nein? Wenn morgen die französischen Arbeiter erfahren sollten, zwei Schiffsladungen Munition würden für den Seetransport aus Frankreich vorbereitet, eine nach Japan und die andere nach China – wie wird sich Craipeau dazu stellen? Ich halte ihn soweit für einen Revolutionär, dass er die Arbeiter auffordern würde, das für Tokio bestimmte Schiff zu boykottieren und das Schiff nach China durchzulassen, ohne jedoch seine Meinung über Tschiang Kai-schek zu verbergen, und das geringste Vertrauen für Chautemps zu äußern. Das ist genau das, was unsere Thesen besagen: »Im Charakter der praktischen Aktionen können sich beachtliche Unterschiede ergeben, hervorgerufen durch die konkrete Kriegslage.« Zu der Zeit, als der Thesenentwurf veröffentlicht wurde, konnte es über diese Formulierung noch Zweifel geben. Wer aber heutzutage, nach den Erfahrungen mit Abessinien, Spanien und dem chinesisch-japanischen Krieg, von Zweideutigkeit in unseren Thesen spricht, ist wohl ein ultralinker Bourbone, der nichts lernen und nichts vergessen will.

Genosse Craipeau, die Zweideutigkeit ist gänzlich auf Ihrer Seite. Ihr Artikel ist voll solcher Zweideutigkeiten. Es ist wirklich höchste Zeit, sich davon zu trennen. Ich verstehe sehr gut, dass Sie sogar bei Ihren Irrtümern von Ihrem revolutionären Hass gegen die Unterdrückung der thermidorianischen Bürokratie getrieben werden. Aber eine noch so berechtigte Emotion allein kann eine richtige, auf objektiven Fakten beruhende Politik nicht ersetzen. Das Proletariat hat hinreichend Gründe, die bis auf die Knochen korrupte stalinistische Bürokratie zu stürzen und zu verjagen. Aber gerade deshalb kann es diese Aufgabe weder direkt noch indirekt Hitler oder dem Mikado überlassen. Stalins Sturz durch die Arbeiter – das ist ein großer Schritt vorwärts zum Sozialismus. Stalin von den Imperialisten gestürzt – das ist die siegreiche Konterrevolution. Das eben ist der Sinn unserer Verteidigung der UdSSR. Aus diesem Blickwinkel gilt das gleiche im Weltmaßstab für unsere Verteidigung der Demokratie auf nationaler Ebene!

1 Im Text steht „Absicht“. Im englischen Text steht „thought “

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