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Leo Trotzki 19390918 Stalin – provisorischer Herr der Ukraine

Leo Trotzki: Stalin – provisorischer Herr der

Ukraine

[Nach Schriften 1.2. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1936-1940. Hamburg 1988, S. 12681271. Dort mit umfangreichen Fußnoten]

Coyoacán, 18. September 1939

Krieg wie Revolution zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit einem Schlag blödsinnige Formeln zerstören und die darunter versteckte nackte Wahrheit enthüllen. »Verteidigung der Demokratie« ist eine hohle Formel. Die Invasion Polens ist blutige Wirklichkeit.

Heute ist es offenkundig, dass der Kreml eben in den Jahren, als die lautstarke Kampagne der Komintern für ein Bündnis der Demokratien gegen den Faschismus ihren Höhepunkt erreichte, ein militärisches Abkommen mit Hitler gegen die so genannten Demokratien vorbereitet hat. Selbst komplette Idioten werden jetzt begreifen müssen, dass die Moskauer Prozesse, durch die die bolschewistische Alte Garde unter der Anklage der Kollaboration mit den Nazis vernichtet worden ist, lediglich Tarnung für das Stalinsche Bündnis mit Hitler waren. Das Geheimnis ist aufgedeckt. Während die britischen und französischen Gesandtschaften mit Woroschilow darüber diskutierten, wie Polen am wirkungsvollsten zu verteidigen sei, erörterte derselbe Woroschilow zusammen mit den Vertretern des deutschen Generalstabs, wie man Polen am besten zerschlagen und aufteilen könne. Der Kreml führte nicht nur Chamberlain, Daladier und Beck irre, sondern täuschte auch, und zwar systematisch, die Arbeiterklassen in der Sowjetunion und in der ganzen Welt.

Einige einfältige Leute und Großtuer beschuldigen mich, ich würde aus »Hass« auf Stalin schreckliche Prophezeiungen ausstoßen. Als ob sich ernsthafte Menschen bei Fragen von historischer Bedeutung von ihren persönlichen Gefühlen leiten ließen! Die unerbittlichen Fakten beweisen, dass die Wirklichkeit schrecklicher als alle meine Vorhersagen ist. Als die Sowjetarmeen auf polnisches Gebiet vorrückten, wussten sie zuvor, an welchem Punkte sie auf die Armeen Hitlers – als Verbündete, und nicht als Feinde – stoßen würden. Die Operation war in ihren Hauptpunkten durch die Geheimklauseln des deutsch-sowjetischen Paktes festgelegt; die Generalstäbe beider Länder arbeiteten regelmäßig zusammen; die Stalinsche Invasion ist nur eine symmetrische Ergänzung der Hitlerschen Operationen. Das sind die Tatsachen.

Bis vor sehr kurzer Zeit, als der Kreml sich um die Freundschaft Warschaus bemühte (um es gegebenenfalls täuschen zu können), erklärte er, dass die Losung der Selbstbestimmung für die Westukraine (Ostgalizien) verbrecherisch sei. Die Säuberungen und Hinrichtungen in der Sowjetukraine waren vor allem dadurch veranlasst, dass die ukrainischen Revolutionäre, gegen den Willen Moskaus, die Befreiung Galiziens von der polnischen Unterdrückung anstrebten. Jetzt versteckt der Kreml seine Intervention in Polen hinter der reumütigen Sorge um »Befreiung« und »Vereinigung« der ukrainischen und weißrussischen Völker. In Wirklichkeit wird die Sowjetukraine noch stärker als irgendein anderer Teil der Sowjetunion durch die grausamen Ketten der Moskauer Bürokratie gefesselt. Das kraftvolle Streben verschiedener Teile der ukrainischen Nation nach Freiheit und Unabhängigkeit ist völlig legitim. Aber diese Bestrebungen richten sich auch gegen den Kreml. Wenn die Invasion durchgeführt ist, wird die ukrainische Bevölkerung »vereinigt« sein – nicht in nationaler Freiheit, sondern in bürokratischer Versklavung. Man wird wohl keinen einzigen ehrlichen Menschen finden, der die »Befreiung« von acht Millionen Ukrainern und Weißrussen auf Kosten der Versklavung von dreiundzwanzig Millionen Polen billigen wird! Selbst wenn der Kreml vielleicht im besetzten Galizien eine Volksabstimmung nach dem Muster Goebbels organisieren sollte, würde er damit keine Menschenseele zum Narren halten. Denn es handelt sich nicht um die Befreiung eines unterdrückten Volkes, sondern vielmehr um eine Erweiterung des Gebiets, in dem bürokratische Unterdrückung und Schmarotzertum praktiziert werden.

Die Hitler-Presse billigt die »Vereinigung« und »Befreiung« der Ukrainer im Würgegriff des Kremls ohne Einschränkung. Damit schlägt Hitler zwei Fliegen mit einer Klappe: Einmal zieht er die Sowjetunion in seinen militärischen Einflussbereich hinein; zum zweiten kommt er der Verwirklichung seines Programms einer »Großukraine« um einen Vorbereitungsschritt näher. Hitlers Politik besteht darin, seine Eroberungen in einer bestimmten Reihenfolge durchzuführen, eine nach der anderen, und durch jede neue Eroberung ein neues System »freundschaftlicher« Beziehungen zu schaffen. Im gegenwärtigen Stadium überlässt er seinem Freund Stalin die Großukraine als zeitweiliges Pfand. Auf der nächsten Stufe wird er die Frage stellen: Wer ist Eigentümer dieser Ukraine – Stalin oder Hitler?

Es gibt Leute, die das Bündnis Stalin-Hitler mit dem Vertrag von Brest-Litowsk zu vergleichen wagen. Lächerlich! Die Brest-Litowsker Verhandlungen wurden offen vor der gesamten Menschheit geführt. Die sowjetische Revolution verfügte – Ende 1917 und Anfang 1918 nicht über ein einziges Bataillon, um den Kampf fortzuführen. Hohenzollern-Deutschland griff Russland an, eroberte Sowjetprovinzen und Militärvorräte. Die neue Regierung war physisch außerstande, etwas anderes zu tun, als den Friedensvertrag zu unterzeichnen. Dieser Friede wurde von uns offen als Kapitulation einer waffenlosen Revolution vor einem mächtigen Feind bezeichnet. Wir verherrlichten die Hohenzollern nicht, sondern prangerten vielmehr den Brest-Litowsker Frieden öffentlich als Erpressung und Raub an. Wir täuschten die Arbeiter und Bauern nicht. Der jetzige Stalin-Hitler-Pakt wurde trotz der Existenz einer mehrere Millionen Mann starken Armee geschlossen und seine unmittelbare Aufgabe bestand darin, die Zerschlagung Polens durch Hitler und seine Aufteilung zwischen Berlin und Moskau zu erleichtern. Worin besteht da die Analogie?

Molotows Worte, dass sich die Rote Armee in Polen mit »Ruhm« bedecken würde, sind für den Kreml eine ewige Schande. Die Rote Armee erhielt den Befehl, in Polen diejenigen zu besiegen, die von Hitler besiegt worden waren. Das ist die schändliche und verbrecherische Aufgabe, die der Roten Armee von den Schakalen des Kremls zugeteilt worden ist.

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