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Leo Trotzki 19380703 Totalitäre Defätisten

Leo Trotzki: Totalitäre Defätisten

[Nach Schriften 1.2. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1936-1940. Hamburg 1988, S. 1143-1149. Dort mit umfangreichen Fußnoten]

Coyoacán, 3. Juli 1938

Seit dem Jahre 1933 nahm die internationale Bedeutung der UdSSR sehr schnell zu. Immer wieder konnte man von europäischen Journalisten die folgende Meinung hören: »Der Kreml hält das Schicksal Europas in den Händen«, »Stalin ist jetzt Schiedsrichter der Welt«, und so weiter. Wie sehr diese Einschätzungen zu jener Zeit auch übertrieben gewesen sein mögen, so entsprangen sie doch zwei nicht weg zu leugnenden Faktoren – der Verschärfung der weltweiten Gegensätze und der zunehmenden Stärke der Roten Armee. Der relative Erfolg des ersten Fünfjahresplans, die optimistischen Prognosen für den zweiten Fünfjahresplan, die sich daraus ergaben, die jedermann sichtbaren Resultate der Industrialisierung, die für Armee und Flotte eine industrielle Basis schufen, die Überwindung der fortschreitenden Lähmung des Eisenbahnverkehrs, die ersten guten Ernten in Kolchosen, das Wachstum des Viehbestandes, das Abflauen von Not und Hunger – das waren die internen Vorbedingungen für die Erfolge der Sowjetdiplomatie. Stalins Worte »Das Leben ist leichter geworden, das Leben ist fröhlicher geworden« beziehen sich auf diese Periode. Für die arbeitenden Massen wurde das Leben tatsächlich ein wenig leichter. Für die Bürokratie – ein gutes Stück fröhlicher.

Indes wurde ein Großteil des Nationaleinkommens für Verteidigung ausgegeben. Die Präsenzstärke der Armee in Friedenszeiten wurde von 800.000 Mann auf anderthalb Millionen erhöht. Die Flotte erstand neu. Während der Jahre der Sowjetordnung bildete sich ein neuer Kommandokader, vom Leutnant bis zum Marschall, heraus. Ein politischer Faktor spielte noch eine Rolle: die Opposition – von links wie von rechts – war zerschlagen. Der Sieg über die Opposition schien in den wirtschaftlichen Errungenschaften seine objektive Rechtfertigung zu finden. Stalins Macht erschien unerschütterlich. All das zusammen machte die Sowjetregierung vielleicht nicht zum Schiedsrichter Europas, doch jedenfalls zu einem wichtigen internationalen Faktor.

Die letzten zwei Jahre haben diese Situation völlig auf den Kopf gestellt. Das spezifische Gewicht der Sowjetdiplomatie ist gegenwärtig geringer als in den kritischsten Monaten des ersten Fünfjahresplans. London hat sich nicht nur selbst Rom und Berlin zugewandt, sondern verlangt sogar, dass auch Paris Moskau den Rücken kehrt. Somit hat jetzt Hitler die Möglichkeit, seine Politik der Isolierung der UdSSR mit Chamberlain zu verwirklichen. Wenn Frankreich sein Abkommen mit der UdSSR auch nicht aufkündigt, so hat Paris es doch zu einer zweitrangigen Reserve herabgestuft. Da die Dritte Republik das Vertrauen in den Moskauer Beistand verloren hat, folgt sie hartnäckig den Spuren Englands. Konservative französische Patrioten klagen nicht ohne Bitterkeit, dass Frankreich Großbritanniens »letztes Dominion« geworden ist. Italien und Deutschland planen mit Zustimmung genau desselben Chamberlains, sich in Spanien fest einzunisten, dort, wo Stalin – und das glaubte nicht nur er selbst – bis vor kurzem Herr der Lage zu sein schien. Im Fernen Osten, wo die Japaner auf unerwartete Schwierigkeiten von gigantischen Ausmaßen stießen, konnte Moskau lediglich Grenzgefechte liefern, und zwar stets auf die Initiative Japans hin.

Die Ursache für die abnehmende internationale Bedeutung der Sowjets in den letzten zwei Jahren liegt ganz gewiss nicht in der Aufgebung oder Abschwächung der internationalen Gegensätze. Wie auch die politische Konjunktur episodisch schwanken mag, die imperialistischen Länder gehen unausweichlich einem Weltkrieg entgegen. Die Schlussfolgerung ist klar: Stalins Bankrott auf der Bühne der Weltpolitik ist vor allem Ergebnis der inneren Entwicklung der UdSSR. Was ist denn nun in der Sowjetunion während der letzten zwei Jahre vorgegangen, dass sich die Stärke in Ohnmacht verwandelt hat? Die Wirtschaft scheint weiter zu wachsen; die Industrie rühmt sich, trotz angeblicher »Sabotage«, ihrer Erfolge; die Ernten werden besser; Kriegsgerät steht in wachsendem Umfang zur Verfügung, Stalin hält innere Feinde erfolgreich nieder. Woran liegt es dann?

Es ist nicht lange her, dass die Welt die Sowjetunion fast ausschließlich nach den Sowjetstatistiken beurteilte. Trotz tendenziöser Übertreibung zeugten diese Zahlen dennoch von unbestreitbaren Erfolgen. Man vermutete hinter der papierenen Zahlenwand eine dauernd wachsende Prosperität der Bevölkerung und des Systems. Aber es erwies sich, dass es durchaus anders war. Letzten Endes beruhen ökonomische, politische und kulturelle Prozesse auf den Beziehungen zwischen lebendigen Menschen, Gruppen und Klassen. Die Moskauer Justiztragödien enthüllten, dass diese Beziehungen erbärmlich, oder genauer gesagt, unerträglich waren.

Die Armee ist die Quintessenz eines Regimes, nicht in dem Sinne, dass es nur seine »besten« Qualitäten verkörpert, sondern dass es in konzentriertester Form seinen positiven wie seinen negativen Tendenzen Ausdruck verleiht. Wenn die Widersprüche und Antagonismen eines Regimes eine gewisse Schärfe erreichen, beginnen sie, die Armee von innen her zu untergraben. Der Umkehrschluss: Wenn die Armee – als diszipliniertestes Instrument der herrschenden Klasse – von inneren Gegensätzen zerrissen zu werden droht, ist das ein untrügliches Zeichen für die unerträgliche Krise der Gesellschaft selbst.

Die ökonomischen Erfolge der Sowjetunion, die momentan Armee und Diplomatie stärkten, haben vor allem die herrschende bürokratische Schicht gefördert und gestärkt. In der Geschichte hat es keine soziale Klasse gegeben, die jemals in ihren Händen in so kurzer Zeit derartig viel Besitz und Macht vereinigt hat wie die Bürokratie im Verlauf der zwei Fünfjahrespläne. Aber eben aus diesem Grunde hat sie sich in immer stärkeren Gegensatz zur Bevölkerung gesetzt, die drei Revolutionen und den Sturz der zaristischen Monarchie, des Adels und der Bourgeoisie mitgetragen hat. Die Sowjetbürokratie vereinigt nun gewissermaßen in sich selbst die Charakterzüge all der gestürzten Klassen, doch ohne deren soziale Wurzeln oder Traditionen. Sie kann ihre ungeheuerlichen Privilegien nur durch organisierten Terror verteidigen, und sie kann ihren Terror nur durch lügenhafte Anklagen und Fälschungen rechtfertigen. Die autokratische Herrschaft der Bürokratie, erwachsen aus wirtschaftlichen Erfolgen, ist Haupthindernis auf dem Weg zu weiteren Erfolgen geworden. Fortschritt des Landes ist unmöglich ohne allgemeines Wachstum der Kultur – das heißt ohne Selbständigkeit für jeden einzelnen, ohne freie Kritik und freie Forschung. Diese elementaren Bedingungen des Fortschritts sind für die Armee noch weit wichtiger als für die Wirtschaft, da in der Armee der reale oder fiktive Gehalt statistischer Daten mit Blut geprüft wird. Aber die politische Ordnung der UdSSR hat sich endgültig dem Drillsystem eines Strafbataillons angenähert. Alle progressiven und schöpferischen Elemente, die wirklich den Interessen der Wirtschaft, der Volksbildung und der nationalen Verteidigung ergeben sind, geraten unausweichlich in Konflikt mit der herrschenden Oligarchie. So war es seinerzeit unter dem Zarismus, so geschieht es in unvergleichlich schnellerem Tempo unter dem Regime Stalins. Wirtschaft, Kultur und die Armee brauchen Menschen mit Initiative, Aufbauwillen und Kreativität. Der Kreml braucht pflichttreue Erfüllungsgehilfen, zuverlässige und erbarmungslose Agenten. Diese Typen menschlichen Verhaltens – Agent und Schöpfer – stehen sich in unversöhnlicher Feindschaft gegenüber.

In den letzten fünfzehn Monaten hat die Rote Armee fast ihren gesamten Kommandeurkader verloren, der ursprünglich in den Jahren des Bürgerkrieges (1918-20) rekrutiert und dann in den folgenden fünfzehn Jahren erzogen, ausgebildet und vervollständigt wurde. Das radikal und immer wieder erneuerte Offizierskorps unterwarf Stalin der offenen Überwachung durch neue Kommissare. Tuchatschewski, und mit ihm die Blüte des Kommandeurkaders ging im Kampf gegen die Polizeidiktatur über das Offizierskorps der Roten Armee unter. In ihren sozialen Eigenschaften ist die Militärbürokratie gewiss nicht besser als die zivile. Aber Auseinandersetzungen folgen nicht immer dieser Wasserscheide. Die Bürokratie als ganzes konzentriert in ihren Händen zwei Funktionen: Herrschaft und Verwaltung. Diese beiden Funktionen sind jetzt in scharfen Gegensatz geraten, es ist notwendig, die totalitäre Herrschaft zu liquidieren. Um die Herrschaft aufrechtzuerhalten muss man selbständige, fähige Administratoren vernichten. In der Flotte, wo die starken und schwachen Seiten der Streitkräfte einen besonders konzentrierten Charakter annehmen, ist die Ausrottung der Offiziersspitze in einem noch umfassenderen Ausmaß als bei den Landstreitkräften durchgeführt worden. Man muss immer von neuen wiederholen: Die Streitkräfte der UdSSR haben ihre Führung verloren. Die Verhaftungen und Hinrichtungen gehen weiter. Ein nicht enden wollendes Duell wird zwischen dem Kreml und dem Offizierskorps ausgefochten, bei dem das Schussrecht allein auf Seiten des Kreml liegt.

Das System der Kommissare, erstmals eingeführt, als die Rote Armee aus dem Nichts aufgebaut wurde, bedeutete zwangsläufig ein System des Doppelkommandos. Die Unannehmlichkeiten und Gefahren einer solchen Einrichtung waren schon damals augenfällig, aber sie wurden als ein kleineres und außerdem zeitweiliges Übel angesehen. Die tatsächliche Notwendigkeit eines Doppelkommandos in der Armee erwuchs aus dem Zusammenbruch der zaristischen Armee und den Bedingungen des Bürgerkriegs. Was hat die neue Doppelführung zu bedeuten? Das erste Stadium des Zusammenbruchs der Roten Armee und den Beginn eines neuen Bürgerkriegs im Lande?

Die Kommissare der ersten Stunde brachten die Kontrolle der Arbeiterklasse über fremde und zumeist feindliche Militärspezialisten zum Ausdruck. Die Kommissare neuer Prägung stehen für die Kontrolle der bonapartistischen Clique über die Militär- und Zivilverwaltung und dadurch über die Bevölkerung.

Die Kommissare der ersten Periode wurden aus den Reihen verdienter, ehrlicher Revolutionäre rekrutiert. Die Kommandeure, die in ihrer Mehrheit aus den Rängen der alten Offiziere und Feldwebel kamen, fanden sich unter den neuen Umständen nur schlecht zurecht, und die Besten von ihnen wandten sich von sich aus um Rat und Unterstützung an die Kommissare. Wenn es auch nicht ohne Reibungen und Konflikte blieb, so führte die Doppelleitung zu jenen Zeiten doch zu einer freundschaftlichen Zusammenarbeit.

Gegenwärtig sieht die Situation ganz anders aus. Die heutigen Kommandeure sind aus der Roten Armee hervorgegangen, sind mit ihr unauflösbar verbunden und genießen eine über Jahre hinweg erworbene Autorität. Die Kommissare hingegen rekrutieren sich aus Bürokratensöhnchen, die weder revolutionäre Erfahrung, militärisches Wissen noch moralisches Ansehen besitzen. Sie verkörpern den reinen Typ des Karrieristen der neuen Schule. Sie erhielten das Kommando nur, weil sie die »Wachsamkeit« verkörpern, das heißt Polizeiaufsicht über die Armee. Die Kommandeure entwickeln ihnen gegenüber einen berechtigten Hass. Das System der Doppelführung wird somit zu einem Kampf zwischen politischer Polizei und Armee, wobei die Zentralmacht auf Seiten der Polizei steht.

Der Film der Geschichte läuft rückwärts ab, und das, was eine fortschrittliche Maßnahme der Revolution war, ist als widerliche thermidorianische Karikatur wiedererstanden. Die neue Doppelführung durchzieht den Regierungsapparat von oben bis unten. Dem Namen nach steht an der Spitze der Armee Woroschilow, der Volkskommissar, Marschall, Träger vieler Orden und so weiter und so weiter. Die wirkliche Macht liegt jedoch in den Händen einer Null, von Mechlis, der in der Armee auf direkte Anweisungen Stalins alles auf den Kopf stellt. Das ereignet sich in jedem Wehrkreis, jeder Division und jedem Regiment. Das gleiche gilt für die See- und Luftstreitkräfte. Überall sitzt ein Mechlis, ein Agent Stalins und Jeschows, und verbreitet »Wachsamkeit« statt Wissen, Ordnung und Disziplin. Jede Garnison hat ihren eigenen Mechlis, der anstelle von Wissen, Ordnung und Disziplin »Wachsamkeit« beibringt. Die Verhältnisse in der ganzen Armee bekommen schwankenden, unsicheren, fließenden Charakter. Niemand weiß, wo der Patriotismus aufhört, wo der Verrat beginnt. Niemand ist sicher, was man tun oder nicht tun darf. Wenn sich Befehle von Kommandeur und Kommissar widersprechen, muss jedermann erraten, welcher Weg zu einer Auszeichnung und welcher ins Gefängnis führt. Jeder wartet ab und schaut sich besorgt nach allen Seiten um. Ehrliche Mitarbeiter verlieren allen Ehrgeiz. Schurken, Diebe und Karrieristen machen ihre Geschäfte unter der Maske patriotischer Denunziation. Die Grundfesten der Armee sind erschüttert. Im Großen wie im Kleinen herrscht Unordnung. Die Waffen werden nicht gereinigt und nicht inspiziert. Die Kasernen wirken verdreckt und unbewohnbar. Die Dächer sind undicht, Badehäuser fehlen, die Soldaten der Roten Armee erhalten keine saubere Bettwäsche. Das Essen wird schlechter und nicht zu den festgesetzten Stunden ausgegeben. Der Kommandeur reagiert auf Beschwerden, indem er sie dem Kommissar weiterreicht; wirkliche Übeltäter sichern sich ab durch die Denunziation von »Schädlingen«. Der Alkoholismus nimmt bei den Kommandeuren immer mehr zu. Die Kommissare wetteifern mit ihnen auch in dieser Hinsicht. Die von Polizeiwillkür verschleierte Herrschaft der Anarchie untergräbt gegenwärtig alle Bereiche des Sowjetlebens. Besonders verhängnisvoll ist das in der Armee, die nur unter einer korrekten Führung und bei vollständiger Transparenz aller Beziehungen existieren kann. Das ist unter anderem der Grund dafür, warum die großen Manöver der Streitkräfte dieses Jahr ausfielen.

Die Diagnose ist klar. Die Entwicklung des Landes, vor allem das Wachstum seiner neuen Bedürfnisse, ist mit dem totalitären Gräuel unvereinbar. Deshalb zeigt sie die Tendenz, die Bürokratie aus allen Gebieten zu verdrängen, zu vertreiben, zu verstoßen. Wenn Stalin diesem oder jenem Teil des Apparats Mangel an »Wachsamkeit« vorwirft, so sagt er damit: »Ihr kümmert euch um die Bedeutung der Wirtschaft, der Wissenschaft oder der Armee, aber ihr kümmert euch nicht um meine persönliche Bedeutung!« Die Stalinisten befinden sich in allen Landesteilen und in allen Schichten der bürokratischen Pyramide in der gleichen Position. Die Bürokratie kann ihre Position nur noch dadurch halten, dass sie die Grundlagen des wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritts untergräbt. Der Kampf für eine totalitäre Macht hatte die Vernichtung der besten Menschen des Landes durch seine heruntergekommensten Schurken zur Folge.

Zum Glück für die UdSSR wird die bereits heute angespannte interne Lage ihrer potentiellen Feinde in der kommenden Zeit immer kritischer werden. Das ändert jedoch nichts an der Analyse der internen Situation der UdSSR. Stalins totalitäres System ist zu einer wahren Brutstätte für kulturelle Sabotage und militärischen Defätismus geworden. Gegenüber den Völkern der UdSSR und der Weltöffentlichkeit ist es eine Pflicht, dies ganz deutlich auszusprechen. Politik, vor allem Militärpolitik, lässt sich nicht mit frei Erfundenem in Einklang bringen. Die Feinde wissen nur zu gut, was im Reiche Stalins vor sich geht. Es gibt da eine Kategorie von »Freunden«, die es vorziehen, den Agenten des Kremls blind zu vertrauen. Wir schreiben nicht für sie, sondern für diejenigen, die sich entscheiden, der kommenden stürmischen Epoche offen entgegenzusehen.

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